Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf gerichtliche Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist

 

Leitsatz (amtlich)

Im Interesse der durch die Verfassung und Art 6 EMRK gebotenen Effektuierung des Rechtsschutzes sind die in § 172 SGG normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Beschwerde einer entsprechenden Anwendung in dem Sinne zugänglich zu machen, dass auch eine Missachtung des Anspruchs auf Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist mit der Beschwerde gerügt werden kann.

 

Tenor

Auf die Untätigkeitsbeschwerde der Klägerin wird dem Sozialgericht Hannover aufgegeben, das vorliegende Klageverfahren mit besonderem Vorrang zu bearbeiten und insbesondere Termin zur mündlichen Verhandlung bis spätestens zum 31. August 2007 anzuberaumen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt die Anerkennung von Kinderziehungszeiten als Berücksichtigungszeiten.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat sie am 12. März 2004 die vorliegende Klage erhoben. Das Sozialgericht hat die Klageerwiderung des beklagten Rentenversicherungsträgers eingeholt und dessen Verwaltungsvorgänge einschließlich Zweitschriften zweier Bescheide beigezogen. Auf Ersuchen des Sozialgerichts hat die Beklagte ferner am 18. Oktober 2004 mitgeteilt, dass keine mikroverfilmten Aktenteile vorhanden seien.

Auf Nachfrage der Klägerin teilte ihr der Vorsitzende der Kammer des Sozialgerichts am 6. Dezember 2004 mit, dass die Sache nach seiner Einschätzung entscheidungsreif sei. Ein genauer Termin zur mündlichen Verhandlung könne allerdings noch nicht benannt werden, da das Gericht die zeitliche Reihenfolge des Klageeingangs berücksichtige und da noch eine Reihe älterer Verfahren anhängig sei.

Eine erste von der Klägerin am 12. Mai 2005 erhobene Untätigkeitsbeschwerde ist mit Beschluss des 1. Senates des Landessozialgerichts vom 14. Juli 2005 (L 1 B 23/05 R) zurückgewiesen worden. In den Gründen hat der 1. Senat darauf hingewiesen, dass das Sozialgericht eine Entscheidung im vorliegenden Verfahren nach Erledigung älterer Verfahren treffen wolle. Diese Vorgehensweise sei nicht zu beanstanden.

Eine inhaltliche Bearbeitung des Verfahrens ist in der Folgezeit nicht aktenkundig geworden.

Am 10. April 2007 hat die Klägerin die vorliegende neuerliche Untätigkeitsbeschwerde unter Hinweis auf die nunmehr dreijährige Verfahrensdauer erhoben.

Der Vorsitzende der Kammer des Sozialgerichts teilte ihr daraufhin mit, dass mit einer Terminierung im vorliegenden Verfahren noch nicht zu rechnen sei. Wegen der "notwendigen Aktualität der Gutachten" würden vorrangig entscheidungsreife Verfahren mit "medizinischem" Streitgegenstand terminiert. Andere Verfahren würden "in der Regel" in Reihenfolge ihres Eingangs terminiert, soweit von dieser Regel nicht "aus organisatorischen Gründen" abgewichen werde. Durchschnittlich würden zwei Verfahren des ältesten Jahrgangs pro Sitzungstag der Kammer geladen. Derzeit würden "die letzten noch anhängigen Verfahren des Jahrgangs 2003 terminiert (noch 58)."

Der Senat hat eine ergänzende Auskunft des Kammervorsitzenden vom 4. Mai 2007 zur Belastungssituation in seiner Kammer eingeholt, auf deren Inhalt verwiesen wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Die erneute Untätigkeitsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet.

1. Ergeht eine gerichtliche Entscheidung nicht innerhalb einer angemessenen Frist, ist das subjektive Recht des Beteiligten aus Art 6 Abs. 1 EMRK verletzt (vgl. dazu und zum Folgenden: BSG, B. v. 13. Dezember 1995 - B 4 RA 220/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr. 11). Damit leidet das Verfahren an einem Verfahrensmangel. Des Weiteren verletzt eine Verfahrensverzögerung auch das objektive Beschleunigungsgebot des Art 6 Abs. 1 EMRK. Die EMRK ist durch Zustimmungsgesetz (Art 59 Abs. 2 GG) in die deutsche Rechtsordnung transformiert worden und am 3. September 1953 in Kraft getreten (BGBl II 1954, 14). Sie nimmt den Rang eines förmlichen Bundesgesetzes, also eines Parlamentsgesetzes, ein (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004, BVerfGE 111, 307, 311 f, mwN) und begründet unmittelbar einklagbare Rechte. Auf verfassungsrechtlicher Ebene stellt das Recht der Beteiligten auf eine gerichtliche Entscheidung ohne Verfahrensverzögerung ein Verfahrensgrundrecht dar, welches das BVerfG (Beschluss vom 25. Juli 2003, 2 BvR 153/03, NJW 2003, 2897 mwN) aus dem betroffenen Grundrecht iVm dem Rechtsstaatsgebot herleitet.

2. Um die verfassungs- und konventionsrechtlich gebotene Effektuierung des Rechtsschutzes berücksichtigen zu können, sind - primär im Lichte des Art 13 EMRK, darüber hinaus verstärkt durch das aus dem Rechtsstaatsgebot des GG resultierende Effektuierungsgebot - die in § 172 SGG normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Beschwerde einer entsprechenden Anwendung in dem Sinne zugänglich zu machen, dass auch eine Missachtung des Anspruchs auf Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist mit der Beschwerde gerügt werden kann (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/...

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