Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges PKH-Verfahren. Entschädigungsklage. Wahlrecht des Klägers zwischen Entschädigung für das gesamte Hauptsacheverfahren oder Entschädigung nur für das PKH-Verfahren. offenes PKH-Verfahren nach Klagerücknahmefiktion. Nichtentscheidung durch das Sozialgericht. unterlassener Hinweis des Prozessbevollmächtigten an das Gericht. Zuwarten mit der Verzögerungsrüge. Anspruch auf Geldentschädigung. Reduzierung des Regelbetrags auf 1/4

 

Leitsatz (amtlich)

Auch ein verzögertes PKH-Verfahren kann Gegenstand einer Entschädigungsklage nach § 198 GVG sein, wenn das Hauptsacheverfahren nicht im Rahmen des § 198 GVG als verzögert geltend gemacht wird.

 

Orientierungssatz

1. Der Kläger hat insoweit ein „Wahlrecht“, ob er eine Entschädigung für ein verzögertes Hauptsacheverfahren geltend machen will oder sich allein darauf beschränkt, Entschädigung für ein verzögertes PKH-Verfahren zu verfolgen (Abgrenzung zu BSG vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 3/16 R = SozR 4-1720 § 198 Nr 14 und zu LSG Neustrelitz vom 13.12.2017 - L 12 SF 58/15 EK AS).

2. Das Sozialgericht kann nicht davon ausgehen, dass die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs 2 S 1 SGG einen offenen PKH-Antrag mitumfasst.

3. Versäumt das Sozialgericht, nach einer Klagerücknahmefiktion über ein noch offenes PKH-Verfahren zu entscheiden, kann dies ein Erwägungsgrund sein, eine Wiedergutmachung auf andere Weise durch Feststellung der Überlänge des PKH-Verfahrens nach § 198 Abs 2 S 2 iVm Abs 4 S 1 GVG als nicht mehr ausreichend anzusehen.

4. Allerdings kann der nach § 198 Abs 2 S 3 GVG vorgesehene Regelbetrag für die Entschädigung auf 1/4 gemindert werden, wenn der Prozessbevollmächtigte des Klägers es nach einer Klagerücknahmefiktion unterlässt, das Gericht zeitnah darauf hinzuweisen, dass das PKH-Verfahren noch offen ist, und stattdessen mehrere Monate lang zuwartet, bevor er Verzögerungsrüge erhebt.

 

Tenor

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger für eine unangemessene Verfahrensdauer des PKH-Verfahrens vor dem Sozialgericht Neubrandenburg (S 10 R 284/14 - S 10 R 304/16 WA) 250,- Euro zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Beteiligten tragen jeweils die Hälfte der Kosten des Verfahrens.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist eine Entschädigung wegen einer überlangen Dauer eines PKH-Verfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Neubrandenburg (Az.: S 10 R 284/14 - S 10 R 304/16 WA).

Der 1965 geborene Kläger erhob am 8. August 2014 Klage beim SG Neubrandenburg mit dem Antrag, die Beklagte des Ausgangsverfahrens unter Aufhebung der ergangenen Bescheide zu verpflichten, ihm Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu bewilligen und ihm Prozesskostenhilfe (PKH) zu gewähren. Die Klage werde fristwahrend erhoben. Die Klagebegründung bleibe einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten. Mit Schreiben vom 28. August 2014 übersandte die Prozessbevollmächtigte des Klägers dessen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst Belegen.

Mit Schreiben vom 15. August 2014 forderte das SG die Bevollmächtigte des Klägers auf, die Klage binnen vier Wochen zu begründen. Mit Schriftsatz vom 2. September 2014 übersandte die Bevollmächtigte die angeforderte Schweigepflichtsentbindungserklärung des Klägers sowie ein von der Bundesagentur für Arbeit am 19. Juni 2013 erstelltes Gutachten nach Aktenlage. Nachdem die Verwaltungsakten der Beklagten des Ausgangsverfahrens beim SG eingegangen waren, erinnerte das SG die Bevollmächtigte mit Schreiben vom 15. September 2014 an die Klagebegründung binnen Monatsfrist und erinnerte die Bevollmächtigte im November 2014 hieran. Mit Schreiben vom 15. Dezember 2014 bat das SG erneut darum, die Klage binnen Monatsfrist zu begründen. Eine Entscheidung über den PKH-Antrag werde solange zurückgestellt.

Im Schreiben vom 19. März 2015 an die Bevollmächtigte des Klägers führte das SG aus, die Klage sei entgegen eigener Ankündigung bislang nicht begründet worden. Das Gericht werte dies als Nichtbetreiben des Verfahrens. Es werde nochmals um eine Klagebegründung unter Angabe der Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren sich der Kläger beschwert fühle, binnen eines Monats gebeten. Es werde darauf hingewiesen, dass das Gericht gemäß § 106a SGG Erklärungen und Beweismittel, die nach Ablauf der gesetzten Frist vorgebracht würden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden könne, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldige. Ferner werde darauf hingewiesen, dass die Klage als zurückgenommen gelte, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monaten nicht betreibe (§ 102 Abs. 2 Satz 1 SGG). Diese Frist sei als gesetzliche Ausschlussfrist nicht verlängerbar. Dieses Schreiben wurde der Bevollmächtigten des Klägers am 23. März 2015 zugestellt.

Mit am 23. Juni 2015 beim SG eingegangenen Schreibens gleichen Datums b...

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