Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. implantatgestützter Zahnersatz. keine Kostenübernahme bei Würgereiz oder drohender Zahnlosigkeit. § 28 Abs 2 S 9 SGB 5. Ausnahmeindikationen für implantologische Leistungen. keine ausdehnende, ergänzende Auslegung der Behandlungsrichtlinie. Verfassungsmäßigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine ausdehnende, ergänzende Auslegung der in der Behandlungsrichtlinie (juris: ZÄBehRL) umschriebenen Ausnahmeindikationen für Implantatversorgung auf weitere Fallgruppen ist aufgrund der Regelung in § 28 Abs 2 S 9 SGB V nicht zulässig.

2. Extremer Würgereiz oder drohende Zahnlosigkeit begründen keinen Anspruch auf implantatgestützten Zahnersatz.

 

Orientierungssatz

Die gesetzliche Regelung des § 28 Abs 2 S 9 SGB 5 und die darauf beruhende Behandlungsrichtlinie mit den dort geregelten Ausnahmeindikationen verstoßen in einem Fall wie demjenigen des Klägers nicht gegen verfassungsrechtliche Vorgaben (Anschluss an BSG vom 2.9.2014 - B 1 KR 12/13 R = juris Rdnr 21).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 23.09.2021; Aktenzeichen B 1 KR 52/21 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin

vom 14. November 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I.

Der Kläger begehrt die zahnmedizinische Versorgung mit Implantaten und einer Suprakonstruktion (Zahnersatz auf Implantaten).

Der im Jahre 1960 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er bezieht eine Rente wegen Erwerbsminderung und verdient nach eigenen Angaben monatlich 180 Euro hinzu.

Mit Bescheid vom 19. Februar 2018 erhielt der Kläger von dem Beigeladenen einen Bescheid über die Anerkennung von Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG; Erstanerkennung). Hintergrund dieser Anerkennung ist der Umstand, dass der Kläger in den Jahren 1974 bis 1981 Opfer sexuellen Missbrauchs war. Als Schädigungsfolge ist eine psychoreaktive Störung anerkannt. Der Grad der Schädigungsfolgen wurde für die Zeit ab 1. Dezember 2015 mit „10“ bemessen. Der Bescheid ist nicht bestandskräftig (im Klageverfahren S 45 VG 103/18 begehrt der Kläger die Zuerkennung eines Grades der Schädigung von 25).

Der Kläger leidet u.a. an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, an einer chronischen Depression, an einem Reizdarmsyndrom und an einer Funktionsstörung des unteren Verdauungssystems. Er ist nahezu zahnlos; lediglich im Unterkiefer sind fünf Zähne verblieben (Stand März 2020). Der Kläger ist mit herausnehmbarem Zahnersatz prothetisch versorgt. Er bringt vor, die Oberkieferprothese infolge Würgereizes nicht zu tragen; die Unterkieferprothese habe er anfänglich zeitweilig getragen, seit 2018 aber auch gar nicht mehr, weil auch hier Würgereiz entstanden sei.

Der ehemals behandelnde Zahnarzt Dr. H, der seine Praxis inzwischen aufgegeben hat, hat schriftlich bestätigt, dass der Kläger selbst bei kleinsten zahnärztlichen Maßnahmen wie Befundaufnahmen mit einem ausgeprägten Würgereiz reagiere, der sich nicht mit anatomischen Ursachen erklären lasse.

Anstelle der nicht genutzten prothetischen Versorgung möchte der Kläger implantologische Leistungen in Anspruch nehmen, verbunden mit an den Implantaten fest angebrachten Suprakonstruktionen.

Am 10. August 2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine entsprechende Versorgung und legte einen Heil- und Kostenplan seines Zahnarztes Dr. H vom 15. Juli 2016 nebst Aufstellung der auf den Kläger entfallenden Eigenanteile vom 19. Juli 2016 sowie einen Kostenvoranschlag der Praxis für Oralchirurgie und Implantologie Dr. Z für vier Implantate vom 8. August 2016 vor. Beigefügt war auch eine Stellungnahme des Facharztes für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. P V vom 23. Juni 2016, bei dem der Kläger sich seit vielen Jahren in psychotherapeutischer Behandlung befindet. Darin heißt es, die durch den sexuellen Missbrauch mit Oralverkehr entstandene Traumatisierung habe bewirkt, dass der Kläger eine Aversion gegen zahnärztliche Behandlungen entwickelt habe, was sich nachteilig auf seine Zahngesundheit ausgewirkt habe. Würgereiz und Ekel gegenüber der prothetischen Versorgung ließen sich nicht willentlich steuern.

Mit Bescheid vom 24. August 2016 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme mit Hinweis auf § 28 Abs. 2 Satz 9 SGB V und die nicht erfüllten Ausnahmeindikationen der Behandlungsrichtlinie des GBA ab.

Mit seinem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, unter extremem Würgereiz zu leiden, sobald sich ein Fremdkörper seinem Mund nähere. Es drohten schwerwiegende Folgeerkrankungen. Seine psychiatrische Erkrankung müsse Grund für eine Ausnahmeregelung sein.

Den Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 20. Dezember 2016 zurück. Auf Grundlage der Behandlungsrichtlinie sei eine Kostenübernahme nicht möglich. Zudem sei die begehrte Leistung nicht Teil einer aus human- und zahnmedizinischen Bestandteilen zusammengesetzt...

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