Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialverwaltungsverfahren: Beweislastverteilung im Verfahren um die Herabsetzung dauerhaft bewilligter Sozialleistungen (hier Pflegegeld). Maßstab. Pflegestufe. Ernstliche Zweifel

 

Orientierungssatz

1. In einem Verfahren um die Herabsetzung dauerhaft bewilligter Leistungen (hier Pflegegeld für Pflegebedürftige der Pflegestufe III) nach § 48 Abs. 1 SGB 10 trägt regelmäßig die Behörde die materielle Beweislast für das Vorliegen der vor ihr geltend gemachten geänderten Umstände (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. April 2009, L 20 AS 302/09 B ER).

2. Ein treuwidriges Verhalten des Leistungsempfängers, das zur Beweislastumkehr führen würde, liegt jedenfalls nicht schon vor, weil der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) mehrere vergebliche Versuche unternehmen musste, bevor er eine Untersuchung des Leistungsempfängers durchführen konnte. 

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juni 2010 geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Januar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2010 und des Bescheides vom 2. Juni 2010 mit Wirkung bis längstens zum 31. Januar 2011 angeordnet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten für das Verfahren in beiden Instanzen zu 2/3 zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Gem. § 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung hat, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Voraussetzung hierfür ist, dass das Interesse des Einzelnen an der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Bescheides überwiegt. Dies ist entgegen der Ansicht des Sozialgerichts in Fällen eines durch den Gesetzgeber vorgesehenen Entfallens der aufschiebenden Wirkung nicht erst dann anzunehmen, wenn der angegriffene Verwaltungsakt offenkundig rechtswidrig ist, sondern es ist analog der in § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG enthaltene Maßstab für eine Aussetzung der Vollziehung durch die Verwaltung heranzuziehen. Danach soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. So liegt es, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als sein Misserfolg (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. April 2009, L 20 AS 302/09 B ER, Juris, Randnr. 15).

Bei der im Verfahren zur Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen aber auch ausreichenden summarischen Prüfung bestehen in dem genannten Sinne ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide, mit denen die Antragsgegnerin das der Antragstellerin ursprünglich bewilligte Pflegegeld für Pflegebedürftige der Pflegestufe III gem. § 37 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Elftes Buch (SGB XI) auf ein solches für Pflegebedürftige der Pflegestufe II herabgesetzt hat. Grundlage für eine solche Herabsetzung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X). Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Soweit sich die Antragsgegnerin auf eine solche Änderung der Verhältnisse beruft und hierzu auf die Begutachtung der Antragstellerin durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vom 18. September 2009 sowie die Stellungnahmen der dabei eingesetzten Gutachterin vom 6. November 2009 Bezug nimmt, begegnet dies durchgreifenden Bedenken. Die Aussage- und Überzeugungskraft jenes Gutachtens ist unter mehreren Gesichtspunkten in Frage zu stellen. So wendet die Antragstellerin überzeugend ein, die Mitarbeiterin des MDK habe sich von ihrer Hilfsbedürftigkeit nur sehr eingeschränkt ein Bild machen können, weil sie die Antragstellerin am Tag der Begutachtung bettlägerig erkrankt angetroffen hätte, so dass nur eine sehr kursorische Untersuchung in liegendem Zustand hätte durchgeführt werden können. Das Vorbringen der Antragstellerin zu ihrer Bettlägerigkeit am Begutachtungstag wird durch das Gutachten des MDK bestätigt. Zwar hat die Mitarbeiterin des MDK in ihrer Stellungnahme vom 6. November 2009 angegeben, die rechte Körperhälfte sei funktionstüchtig, die Kraft der rechten Hand abgeschwächt, jedoch ohne Beeinträchtigung der Greif und Haltefunktion gewesen, doch hat sie ebenso wie in ihrem Gutachten zur Begründung der Pflegestufe II darauf Bezug genommen, dass die Antragstellerin sich im Juli 2008 zu einer stationären Reha befunden habe, bei der geringe Erfolge hinsichtlich der Mobilität hätten erzielt werden können. Es seien eine vermehrte Ressourcennu...

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