Entscheidungsstichwort (Thema)

unerlaubtes Entfernen vom Unfallort

 

Verfahrensgang

AG Alfeld (Leine) (Beschluss vom 26.10.2007; Aktenzeichen … AG …)

 

Tenor

Der Beschluss des Amtsgerichts … vom … wird aufgehoben.

Dem Angeschuldigten wird …, …, …, zum Verteidiger bestellt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeschuldigten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse zur Last.

 

Tatbestand

I.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht … den Antrag des Rechtsanwalts …, …, ihn dem Angeschuldigten als Pflichtverteidiger beizuordnen, abgelehnt. Hiergegen hat der Angeschuldigte mit Schreiben seines Verteidigers vom 05.11.2007 Beschwerde eingelegt. Er trägt vor, er leide an einer Lese- und Rechtschreibschwäche und sei daher nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Dem Angeschuldigten ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen, weil ersichtlich ist, dass er sich nicht selbst verteidigen kann.

Ausweislich des vom Verteidiger vorgelegten ärztlichen Attestes des Facharztes für Allgemeinmedizin …, …, vom … hat der Angeschuldigte eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Zwar ist der Angeschuldigte ausweislich dieses Attestes kein Analphabet – dann stünde außer Frage, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung wegen Unfähigkeit zur Selbstverteidigung vorliegt (vgl. OLG Celle, StV 1994, 8). Doch ist auch bei einem “lediglich” in seinem Lese- und Schreibvermögen stark beeinträchtigten Beschuldigten von einem Fall notwendiger Verteidigung auszugehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – die Verfahrensakte einen nicht unerheblichen Umfang hat und die Niederschriften mehrerer polizeilicher Zeugenvernehmungen, verschiedene polizeiliche Vermerke und eine ausführliche Schadensberechnung enthält.

Denn aus dem Recht eines Beschuldigten, ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu haben (Art. 6 Abs. 3 lit. b) EMRK), folgt, dass jedem Beschuldigten die Gelegenheit gegeben werden muss, entweder selbst oder durch einen Verteidiger umfassende Kenntnis vom Akteninhalt zu nehmen. Insofern ist einem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, grundsätzlich die Möglichkeit zu geben, selbst Akteneinsicht zu nehmen (EGMR NStZ 1998, 429; Böse, StraFo 1999, 293 [294 ff.]; Kühne, JZ 2003, 670 [672]; vgl. ferner OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 374). Wenn dagegen eine umfassende und vollständige Kenntniserlangung vom Akteninhalt durch einen Beschuldigten selbst nicht möglich ist, muss dem Recht des Beschuldigten auf Vorbereitung seiner Verteidigung durch Kenntnisnahme vom Akteninhalt dadurch Rechnung getragen werden, dass von einem Fall notwendiger Verteidigung ausgegangen wird und dem Beschuldigten gegebenenfalls ein Pflichtverteidiger bestellt wird (LR-StPO-Gollwitzer, 25. Aufl. 2005, Art. 6 EMRK Rn. 182). Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob eine Akteneinsicht durch den Beschuldigten deshalb ausscheidet, weil ihm die Akte nicht zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt werden kann, oder dies zwar möglich wäre, aber es – wie vorliegend – dem Beschuldigten aufgrund einer Legasthenie nicht möglich ist, den Akteninhalt mit zumutbarem Aufwand selbst zu erfassen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO analog.

Dieser Beschluss ist gemäß § 310 Abs. 2 StPO nicht anfechtbar.

 

Unterschriften

…, …, …

 

Fundstellen

Haufe-Index 1917630

NJW 2008, 454

ZAP 2008, 701

StRR 2008, 42

StV 2008, 132

StraFo 2008, 75

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