Entscheidungsstichwort (Thema)

Beteiligtenfähigkeit des Betriebsrats bei Streit über eine betriebsratsfähige Organisationseinheit. Betrieb i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG. Räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernter Betriebsteil i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Zwingende Vorgaben des § 9 BetrVG zur Anzahl der Betriebsratsmitglieder. Grundsatz des Vorrangs der Vertretung durch örtliche Betriebsräte. Unternehmenseinheitlicher Betriebsrat als Ausnahme

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für die Bestimmung des unbestimmten Rechtsbegriffes in § 4 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG "räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernter Betriebsteil" kommt es allein auf die räumliche Entfernung an, nicht auf andere Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit dem im Hauptbetrieb bestehenden Betriebsrat.

Eine Entfernung zwischen Filiale und Hauptbetrieb von 58 km und ein zeitlicher Aufwand für die Hin- und Rückfahrt von ca. 1 /1/2 Stunden ist ein zu großer Aufwand, der dazu führt, dass eine effektive Betriebsratsbetreuung der Mitarbeiter der Filiale mit der Möglichkeit eines unmittelbaren Kontaktes von Angesicht zu Angesicht vom Betriebsrat des Hauptbetriebes nicht gewährleistet ist.

2. Eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Bildung eines Unternehmenseinheitlichen Betriebsrates, die vorsieht, die in § 9 BetrVG geregelte Anzahl der Betriebsratsmitglieder mehr als zu verdoppeln, verstößt gegen zwingendes Recht. Eine Abänderung des § 9 BetrVG durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung kommt nicht in Betracht.

Der Verstoß gegen § 9 BetrVG führt vorliegend zur Gesamtnichtigkeit der Gesamtbetriebsvereinbarung, da deren Regelungen alle unlösbar mit der unwirksamen Erhöhung der Betriebsratsmitgliederanzahl verbunden sind.

3. Auch das Verhältnis des § 3 Abs. 1 Nr. 1 a) und § 3 Abs. 1 Nr. 1 b) BetrVG ist nach dem in BetrVG geltenden Grundsatz des Vorranges der Vertretung durch örtliche Betriebsräte zu bestimmen.

Einer regionalen Betriebsratsstruktur ist dem Unternehmenseinheitlichen Betriebsrat der Vorrang einzuräumen, d.h. ein Unternehmenseinheitlicher Betriebsrat darf nicht gebildet werden, wenn bereits die Zusammenfassung von einzelnen Betrieben zur Bildung von Regionalbetrieben möglich ist. Es besteht somit eine Stufenfolge. Angesichts der Bedeutung der räumlichen Nähe soll der Unternehmenseinheitliche Betriebsrat die Ausnahme bleiben.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ein Betriebsrat hat das erforderliche Feststellungsinteresse nach § 18 Abs. 2 BetrVG unter anderem dann, wenn streitig ist, ob für mehrere Betriebsstätten des Unternehmens ein gemeinsamer Betriebsrat zu wählen ist oder ob die einzelnen Betriebsstätten für sich genommen betriebsratsfähig sind. Insoweit ist der Betriebsrat im Beschlussverfahren beteiligungsfähig und antragsbefugt.

2. Ein Betrieb im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist eine organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber zusammen mit den von ihm beschäftigten Arbeitnehmern bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Die in der organisatorischen Einheit ausgeübte Leitungsmacht erstreckt sich auf alle wesentlichen Funktionen des Arbeitgebers in personellen und sozialen Angelegenheiten.

 

Normenkette

BetrVG § 18 Abs. 2, § 3 Abs. 2, §§ 4, 9, 1 Abs. 1 S. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a), Buchst. b), § 36

 

Verfahrensgang

ArbG Weiden (Entscheidung vom 03.02.2022; Aktenzeichen 3 BV 9/21)

 

Nachgehend

BAG (Beschluss vom 25.10.2023; Aktenzeichen 7 ABR 25/22)

 

Tenor

1. Die Beschwerden der Beteiligten zu 2 und 3 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Weiden vom 3.2.2022 werden zurückgewiesen.

2. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darum, ob am Standort des antragstellenden Betriebsrats auch nach dem Abschluss einer Gesamtbetriebsvereinbarung über die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats (zukünftig UEB) zwischen der Beteiligten zu 2) und dem Beteiligten zu 3) weiterhin eine betriebsratsfähige Organisationeinheit besteht.

Der Antragsteller und Beteiligte zu 1) ist der in der Filiale der Beteiligten zu 2) in S... gewählte Betriebsrat. Die Beteiligte zu 2) betreibt in Deutschland 531 Kfz-Meisterwerkstätten mit integriertem Autofahrer-Fachmarkt und beschäftigt dabei 8.160 Mitarbeiter (Stand: Februar 2022). Der Beteiligte zu 3) ist der Gesamtbetriebsrat und der Beteiligte zu 4) der zwischenzeitlich gewählte UEB, dessen Wahl angefochten wurde. Mit Beschluss vom 05.02.2022 hat das Arbeitsgericht Weiden dem Anfechtungsantrag stattgegeben. Gegen diesen Beschluss wurde beim Landesarbeitsgericht Nürnberg Beschwerde eingelegt.

Die Beteiligte zu 2) ist nicht tarifgebunden und wird auch nicht von einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag erfasst. Zuletzt (Februar 2022) waren in 227 Filialen örtliche Betriebsräte gebildet, wobei aufgrund der Filialgrößen 193 Betriebsräte aus einem nur einköpfigen Betriebsrat bestanden und die restlichen 34 Gremien dreiköpfig waren. Im Februar 2022 waren 3.596 Mitarbeiter durch einen Betriebsrat vertreten. Die Anzahl der Filialen mit Betriebsräten nahm seit Frühjahr 2018 kontinuierlich ab ...

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