Leitsatz

Kernpunkt der Entscheidung war die Frage, ob den Eltern das Sorgerecht zu entziehen ist, wenn sie beabsichtigen, lebenserhaltende Maßnahmen bei einem von Geburt an schwerstbehinderten Kind zu beenden.

 

Sachverhalt

Die vierjährige Tochter der beteiligten Eltern litt seit ihrer Geburt an einer irreversiblen Schädigung der Großhirnrinde, die kognitive Denkvorgänge ausschließt und zu einem Zustand des Wachkomas führt (apallisches Syndrom). Infolge der Gehirnschädigung litt die Tochter an schwersten Spastiken, die dazu führten, dass das Kind völlig steif ist. Zur Behandlung der Spastiken wurden dem Kind Medikamente in intensiver Form verabreicht, was nahezu völlig zum Erliegen auch grundlegendster Körperreaktionen führte, so dass davon auszugehen war, dass die Tochter sich auch in Zukunft nur in einem dem Tiefschlaf gleichenden Zustand befinden würde.

Das Kind wurde über eine Ernährungssonde mit kalorischer Flüssigkeit versorgt. Auf diese Weise konnten die Funktionen von Nieren, Herz, Lunge und damit der gesamte Kreislauf aufrechterhalten werden.

Die beteiligten Eltern trafen die Entscheidung, die lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen und die künstliche Ernährung ihrer Tochter mit der Folge zu beenden, dass sie stirbt. Der Sterbevorgang sollte therapeutisch so begleitet werden, dass die Tochter nach menschlichem und medizinischem Ermessen kein Leid empfinden sollte.

Das AG hat den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht und das Recht der Gesundheitsfürsorge für ihre Tochter entzogen, weil deren Absicht, die Behandlung zu beenden, das Wohl des Kindes beeinträchtige und den elterlichen Ermessensspielraum überschreite.

Gegen diesen Beschluss legten die Eltern Beschwerde ein.

 

Entscheidung

Das Rechtsmittel der Eltern hatte Erfolg und führte zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie - klarstellend - zur Verfahrenseinstellung.

Das OLG sah keinerlei Grund für die Annahme, dass die Eltern ihre Elternverantwortung missbräuchlich wahrnehmen könnten und schuldlos oder gar schuldhaft i.S.v. § 1666 BGB versagt hätten.

Der Sachverhalt sei abschließend aufgeklärt und lasse hinsichtlich der maßgeblichen Diagnose und auch der Prognose keinen weiteren Aufklärungsbedarf erkennen. Eine Kontaktaufnahme i.S. einer bewussten Willensbetätigung oder auch nur als Zeichen vorhandenen Bewusstseins lasse sich nach gegenwärtigem Erkenntnis und dem Stand der medizinischen Wissenschaft mit Sicherheit ausschließen. Dies gelte auch für eine Kommunikation auf "nonverbaler Ebene".

In rechtlicher Hinsicht ließen sich die Voraussetzungen für einen auch nur partiellen Sorgerechtsentzug gem. §§ 1666, 1666a BGB nicht feststellen. Die Eltern hätten, ausgehend von zutreffenden tatsächlichen Gegebenheiten und in Kenntnis ihrer Rechte, Pflichten und ihrer Verantwortung, eine nach bürgerlichem Recht und verfassungsrechtlich garantierte Entscheidung nach reiflicher Überlegung getroffen. Anhaltspunkte für einen Sorgerechtsmissbrauch lägen nicht vor. Maßstab insoweit sei nicht, ob ein anderer Entscheidungsträger ein ihm zustehendes Ermessen möglicherweise anders ausgeübt hätte. Jedenfalls wäre das Ermessen nicht zwingend anders auszuüben.

Im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Kindes erscheine die Entscheidung der Eltern auch aus Sicht des Kindeswohls unter Berücksichtigung des ebenfalls verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf eine menschenwürdige Behandlung als einfühlbar und das Kindeswohl wahrend. Der terminale Charakter der Entscheidung der Eltern sei hier für sich allein kein Grund, an ihrer Stelle einen Pfleger mit derselben Frage zu betrauen.

 

Hinweis

Anders als der hier entschiedene Fall sind die Situationen, in denen Eltern die Zustimmung zu einer ärztlich empfohlenen lebenserhaltenden Maßnahme aus mit dem Kindeswohl nicht vereinbaren Gründen verweigern. In solchen Fällen hat das FamG nach § 1666 BGB einzugreifen (OLG Celle v. 21.2.1994 - 17 W 8/94 - in MDR 1994, 487).

Allein die Befürchtung, die Zustimmung zu einer lebenserhaltenden Maßnahme werde künftig aus z.B. religiösen Gründen verweigert, rechtfertigt jedoch weder ein vorsorgliches Einschreiten nach § 1666 BGB noch reicht sie aus, dem betreffenden Elternteil im Rahmen eines Sorgerechtsstreits die Erziehungseignung abzusprechen (vgl. insoweit OLG Karlsruhe v. 13.8.2001 - 5 UF 140/01 - in FamRZ 2002, 1728).

 

Link zur Entscheidung

OLG Hamm, Beschluss vom 24.05.2007, 1 UF 78/07

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