Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegeunfall

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Bauarbeiter, der auf dem Weg zur Baustelle nach Hause zurückfährt, um vergessenes Geld zu holen, mit dem er sich tagsüber Sprudel kaufen will, um seinen Durst während der Arbeit bei warmem Wetter zu löschen, steht dabei unter Unfallversicherungsschutz.

 

Normenkette

RVO §§ 548, 550

 

Verfahrensgang

SG Marburg (Urteil vom 27.02.1973; Aktenzeichen S-3/U-24/71)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 27. Februar 1973 dahin abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, der Klägerin wegen des Arbeitsunfalls J. vom 29. September 1969 in gesetzlichem Umfang Ersatz zu leisten.

Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der 1920 geborene Beigeladene ist Mitglied der Klägerin und als Bauhilfsarbeiter bei der Bauunternehmung G. N., Sch. als Bauhilfsarbeiter beschäftigt sowie bei der Beklagten gegen Unfall versichert. Am Montag, dem 29. September 1969, zwischen 6.30 Uhr und 6.45 Uhr verließ er sein im gleichen Ort … gelegenes Haus, um zu seiner Arbeitsstätte, der etwa über einen Kilometer entfernten Baustelle Neubau K. T., Sch., zu fahren. Hierfür benutzte er ein im Frühjahr 1969 erworbenes Fahrrad mit Hilfsmotor mit dem Kennzeichen … das mit einem Hubraum von 47 ccm bei einer Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h (vgl. § 67 a der Straßenverkehrszulassungsordnung i.d.F. vom 6. Dezember 1960 - BGBl. I S. 898) zur Teilnahme am Verkehr zugelassen war. Nachdem er etwa 280 m der Strecke … zurückgelegt hatte, wendete er in Höhe der Einmündung der P.straße in den Sch. Weg …, um die in seiner Wohnung liegengebliebene Geldbörse zu holen. Mit diesem Geld wollte er sich ein nicht alkoholisches Getränk zu der mitgeführten Brotmahlzeit auf der Baustelle kaufen. Auf der Rückfahrt zur Wohnung stieß er beim Überqueren der vorfahrtsberechtigten Bundesstraße … mit einem von dem Arbeiter H. W. gesteuerten Personenkraftwagen (Pkw) zusammen. Der Obermedizinalrat Dr. med. K. vom Kreiskrankenhaus in Z. stellte dem Durchgangsarztbericht zufolge die Diagnose: “Schock, Commotio, Tibia- und Wadenbeinfraktur links, Hämatom linker Unterschenkel.” Durch Strafbefehl des Amtsgericht … vom 22. Dezember 1969 - 2 Ca 207/69 - wurde der Beigeladene wegen fortgesetzten Fahrens eines Fahrrades mit Hilfsmotor ohne die erforderliche Fahrerlaubnis sowie Missachtung der Vorfahrt und Verursachung eines Zusammenstoßes mit einem Pkw rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 600,- DM verurteilt.

Mit Schreiben vom 6. November 1969 zeigte die Klägerin der Beklagten diesen Unfall an und machte einen Ersatzanspruch gem. § 1504 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend.

Da die Beklagte wiederholt - u.a. mit Schreiben vom 1. Juni 1970 - das Vorliegen eines entschädigungspflichtigen Wegeunfalls verneinte, hat die Klägerin am 15. März 1971 bei dem Sozialgericht Marburg/L. (SG) Klage erhoben. Nach Beiladung des Verletzten J. hat dieses durch Urteil vom 27. Februar 1973 die Beklagte “unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Juni 1970” dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin die Leistungen wegen des Arbeitsunfalls vom 29. Dezember 1969 in gesetzlicher Höhe zu erstatten. Das ablehnende Schreiben der Beklagten vom 1. Juli 1970 stelle inhaltlich einen Verwaltungsakt dar, der auf die Klage habe aufgehoben werden müssen, da der Beigeladene einen aufgrund des § 550 RVO geschützten Wegeunfall erlitten habe. Der Versicherungsschutz sei im Unfallzeitpunkt nicht unterbrochen gewesen, da der Beigeladene von der üblicherweise benutzten Fahrtstrecke erst den vierten Teil zurückgelegt gehabt habe, und der Zeitverlust durch die Rückfahrt auf den gleichen Straßen gering gewesen wäre. Der Beigeladene sei der typischen Gefahr des Straßenverkehrs erlegen. Das Abholen der Geldbörse müsse den betrieblichen Gegebenheiten zugerechnet werden, da Bauarbeiter auch in September noch einen höheren Getränkebedarf als andere Arbeiter zu haben pflegten. Diese Handlung sei nicht im eigenwirtschaftlichen Interesse erfolgt; bei der geringen Entfernung zwischen Wohnort und Arbeitsstelle sei dem Beigeladenen auch das Leihen von Geld bei Arbeitskollegen nicht zuzumuten gewesen.

Gegen das ihr am 7. März 1973 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 30. März 1973 Berufung eingelegt. Zu Unrecht habe das SG ihr Schreiben vom 1. Juni 1970 als einen Verwaltungsakt angesehen; gegenüber einem anderen Hoheitsträger wie der Klägerin habe sie einen solchen nicht wirksam erlassen können. Vielmehr liege eine Ersatzstreitigkeit nach § 1504 RVO vor, die als Leistungsklage gem. § 54 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu behandeln sei. Entgegen der Auffassung des SG habe es sich nicht um einen durch § 550 RVO geschützten Wegeunfall gehandelt. Vielmehr sei der Weg des Beigeladenen zum Zeitpunkt des Unfalls in einer dem versicherten Weg genau entgegengesetzten Richtung verlaufen, wodurch auch der Versicherungsschutz unterbrochen worden se...

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