1. Ich schließe mich zunächst Gottwald an, soweit er vom Verlust eines Stückes der Rechtskultur spricht.[42] Es handelt sich um den bereits früher begonnenen "Niedergang der Kultur der mündlichen Verhandlung im Zivilprozess".[43] Ich vermute hier einen hochgradigen Konsens zwischen pflichtbewussten Richtern und pflichtbewussten Rechtsanwälten.
  2. Ich erachte es als grundsätzlich verfehlt, solche Regelungen aus dem amtlichen Betreuungsverfahren für die ebenfalls hochsensiblen, in der Sache aber viel komplizierteren und vor allem streitigen Familiensachen zu übernehmen, auch und gerade nicht unter dem Gesichtspunkt staatlicher Ressourcen. Auch Artikel 6 Abs. 1 GG spricht – man bedenke die verheerenden Wirkungen falscher streitiger Entscheidungen – eine klare Sprache. Es sei aus der allgemeinen Zivilgerichtsbarkeit an den Fall Holweg erinnert,[44] dem mit § 522 Abs. 2 a.F. ZPO ein im Vergleich zu § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG noch deutlich günstigeres Verfahrensrecht zugrunde lag. Der Staat muss sich hier mehr, jedenfalls darf er sich nicht weniger Justiz leisten. Ein Rückfall hinter § 522 Abs. 2 ZPO n.F. ist daher nicht zu akzeptieren. Den Betroffenen muss bei Versagung der mündlichen Verhandlung der Weg zum Bundesgerichtshof entsprechend den Bestimmungen über die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerden eröffnet werden.
  3. Wenn nach der Rechtsprechung des EGMR aus Art. 6 EMRK über das Recht auf ein faires Verfahren das Recht auf Öffentlichkeit und daraus auf mündliche Verhandlung folgt, ist zu fragen, weshalb es nicht auch aus dem Grundgesetz folgt, welches in Art. 1 Abs. 1, Art. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 ebenfalls, und zwar als Prozessgrundrecht, das Recht auf ein faires Verfahren – und damit doch ebenfalls auf grundsätzliche mündliche Verhandlung – garantiert.[45]
  4. Soweit Art. 6 EMRK hinsichtlich des Rechts auf mündliche Verhandlung Einschränkungen für die Zulassung von Rechtsmittel vorsieht, ist dies nachvollziehbar und richtig. Dabei kann es aber nur um die Formalien gehen, die Formen und Fristen der Rechtsmitteleinlegung. Es ist daher in hohem Maße fraglich, ob die Zurückweisung als unbegründet überhaupt (auch nach § 522 Abs. 2 ZPO[46]) mit Art. 6 EMRK zu vereinbaren ist, auch wenn dies der Gesetzesentwurf, aber ohne es zu problematisieren, annimmt. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob nur Formen und Fristen zu prüfen oder materielle Rechtsfragen zu entscheiden sind.[47] Die Auffassung, es sei mit Art. 6 EMRK vereinbar, auf diese Weise die Prüfung von Sachrecht grundsätzlich der mündlichen Verhandlung zu entziehen, ist abzulehnen. Art. 6 EMRK erfordert also außerhalb der Prüfung der Rechtsmittelformalien grundsätzlich die mündliche Verhandlung und ist nebst der dazu ergangenen Rechtsprechung im Range einfachen Rechts, insbesondere bei Auslegungsfragen, zu beachten.[48]
  5. Eine Tatsache ist – so sollte man meinen – entweder neu oder nicht. Was ist dann aber eine "wirklich" neue Tatsache (s.o.)? Und was ist mit einer neu vorgetragenen Rechtsauffassung zu "alten" Tatsachen? Wann ist ein Fall "schwierig" oder aber "nicht einfach", und welche Tatsachen haben "erhebliche Bedeutung"? Was der eine Richter für schwierig oder erheblich hält, kommt dem anderen vielleicht einfach oder unerheblich vor. Man erkennt sofort die Gefahr, dass solche Bewertungen direkt zum "Rechtsgefühl" des Richters führen, der aber nicht nach dem zu entscheiden hat, was er persönlich verfahrensmäßig für gerecht hält (neu, nicht neu, wirklich neu; schwierig, nicht einfach, einfach), sondern danach, was materiell richtig ist. Dazu gelangt er – materiell – gar nicht erst, wenn eine Tatsache zwar neu ist, er sie aber – schon auf der formellen Ebene – nicht für "wirklich" neu halten darf, um nur eines von vielen denkbaren Beispielen zu bilden.
  6. Der Weg über § 522 Abs. 2 ZPO ist unbedingt abzulehnen. Zunächst hilft er in Fällen falscher Entscheidungen nicht weiter. Dass § 522 Abs. 3 ZPO (Rechtsmittelfähigkeit) anwendbar sei, wird zutreffend nicht vertreten. Damit ist also in den Fällen divergierender Auffassungen zwischen Gericht und Anwalt nichts gewonnen. Es fehlt aber auch an einem rechtlichen Ansatz, die Vorschrift anwenden zu dürfen. Eine Regelungslücke besteht ganz offensichtlich nicht, denn eine Regelung ist ja vorhanden. Auch wenn diese abzulehnen ist, ist sie anzuwenden oder, sollte das Gericht die Voraussetzungen als gegeben ansehen, nach Art. 101 GG zu verfahren. Es dürfte aber nicht angehen, seitens der Gerichte ein Verfahrensgesetz, welches man (zutreffend!) für unzweckmäßig oder ungerecht hält, eigenmächtig durch ein anderes zu ersetzen. Aus demselben Grund ist die Existenz eines übergeordneten Verfahrensgrundsatzes, wie ihn Borth annimmt,[49] abzulehnen.

    Es besteht auch keine anerkannte Rechtspraxis, die man – jetzt oder später – als Verfahrensrechtsquelle anerkennen könnte. OLG-Entscheidungen liegen nur in geringer Zahl vor, sie und die Literaturauffassungen sind alles andere als einheitlich.

    Soweit die Obergerichte § 522 Abs. 2 ZPO anwenden, und hier...

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