Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Anwendungsbereich. Aufgabe der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats entsprechend dessen Zusicherung der Einbürgerung des Betroffenen zu erwerben. Widerruf dieser Zusicherung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Staatenlosigkeit

 

Normenkette

AEUV Art. 20-21

 

Beteiligte

Wiener Landesregierung

JY

Wiener Landesregierung

 

Tenor

1. Die Situation einer Person, die die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese mit der Folge des Verlusts ihres Unionsbürgerstatus zwecks Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats aufgibt, nachdem ihr die Behörden dieses Mitgliedstaats die Verleihung von dessen Staatsbürgerschaft zugesichert haben, fällt ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht, wenn diese Zusicherung widerrufen wird und die betroffene Person infolgedessen daran gehindert wird, den Unionsbürgerstatus wiederzuerlangen.

2. Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats zu prüfen haben, ob der Widerruf der Zusicherung der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, durch den der Verlust des Unionsbürgerstatus für die betreffende Person endgültig wird, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation dieser Person mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Diesem Erfordernis der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht Genüge getan, wenn der Widerruf mit straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsübertretungen begründet wird, die nach dem anwendbaren nationalen Recht rein finanziell geahndet werden.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 13. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. März 2020, in dem Verfahren

JY

gegen

Wiener Landesregierung

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), S. Rodin und I. Jarukaitis, der Richter F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. März 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von JY, vertreten durch Rechtsanwälte G. Klammer und E. Daigneault,
  • der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, D. Hudsky, J. Schmoll und E. Samoilova als Bevollmächtigte,
  • der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
  • der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères, N. Vincent und D. Dubois als Bevollmächtigte,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch J. M. Hoogveld als Bevollmächtigten,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 1. Juli 2021

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft im Wesentlichen die Auslegung von Art. 20 AEUV.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen JY und der Wiener Landesregierung (Österreich) wegen deren Entscheidung, die Zusicherung der Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an JY zu widerrufen und ihr Ansuchen auf Verleihung dieser Staatsbürgerschaft abzuweisen.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit

Rz. 3

Art. 7 Abs. 2 des am 30. August 1961 in New York geschlossenen und am 13. Dezember 1975 in Kraft getretenen Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Verminderung der Staatenlosigkeit (im Folgenden: Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit) sieht vor:

„Ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats, der in einem ausländischen Staat die Einbürgerung anstrebt, verliert seine Staatsangehörigkeit nur dann, wenn er die ausländische Staatsangehörigkeit erwirbt oder die Zusicherung des ausländischen Staates für die Verleihung der Staatsangehörigkeit erhalten hat.”

Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit

Rz. 4

Das am 6. November 1997 im Rahmen des Europarats geschlossene Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit ist am 1. März 2000 in Kraft getreten und gilt seit diesem Datum für die Republik Österreich.

Rz. 5

In Art. 4 („Grundsätze”) dieses Übereinkommens heißt es:

„Die Bestimmungen betreffend die Staatsangehörigkeit jedes Vertragsstaates müssen auf den folgenden Grundsätzen beruhen:

  1. Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit;
  2. Staatenlosigkeit ist zu vermeiden;

…”

Rz. 6

Art. 7 („Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf Veranlassung eines Vertragsstaates”) des Übereinkommens bestimmt:

„(1) Ein Vertragsstaat darf mit Ausnahme der ...

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