(1) Wirtschaftliche Unternehmenseinheit als Bewertungsobjekt

 

Rz. 195

Bei einem (funktionierenden) Unternehmen handelt es sich nicht nur um eine willkürliche Ansammlung von Vermögensgegenständen und Schulden. Vielmehr lässt erst die zweckgerichtete Kombination von materiellen und immateriellen Werten einen "lebenden" Organismus entstehen, der geeignet ist, durch das Zusammenwirken aller seiner Bestandteile finanzielle Überschüsse zu erwirtschaften. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass der Wert eines Unternehmens nicht durch die Summe der Werte der einzelnen Bestandteile des Vermögens und der Schulden bestimmt wird, sondern durch das Zusammenwirken all dieser Werte.[566] Im Rahmen der Bewertung ist es daher von entscheidender Bedeutung, alle an der Erwirtschaftung des Unternehmenserfolgs beteiligten Faktoren[567] zu erfassen und in die Analyse mit einzubeziehen. Die Frage, ob und inwieweit die auf dieser Grundlage vorgenommene Abgrenzung mit den formaljuristischen Gegebenheiten übereinstimmt, ist in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Das Bewertungsobjekt muss nach wirtschaftlichen Kriterien definiert werden.[568]

[566] IDW S 1, Tz 18, FN-IDW 2008, 271, 275.
[567] Vgl. IDW S 1, Tz 19, FN-IDW 2008, 271, 275: z.B. Beschaffungs- und Absatzbeziehungen bzw. -märkte, Forschung und Entwicklung, Organisation, Finanzierung und Management.
[568] IDW S 1, Tz 19, FN-IDW 2008, 271, 275.

(2) Stichtagsprinzip

 

Rz. 196

Unternehmenswerte sind grundsätzlich zeitpunktbezogen.[569] Der Bewertungsstichtag[570] determiniert, welche finanziellen Überschüsse den bisherigen Unternehmenseignern bereits zugeflossen sind und daher nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, und ab welchem Zeitpunkt zu erwartende bzw. schon realisierte finanzielle Überschüsse den künftigen Eigentümern zuzurechnen sind. Gegenstand der Bewertung ist also die zum Stichtag vorhandene Ertragskraft des Unternehmens.[571] Für das Pflichtteilsrecht ist der Stichtag der Zeitpunkt des Todes des Erblassers (Abs. 1 S. 1) oder – bei Pflichtteilsergänzungsansprüchen i.S.v. § 2325 BGB – ggf. der Zuwendungszeitpunkt. Folge des Stichtagsprinzips ist auch, dass bei der praktischen Durchführung der Bewertung stets auf den Kenntnisstand abzustellen ist, der bei angemessener Sorgfalt auch zum Bewertungsstichtag hätte erlangt werden können.[572]

[569] IDW S 1, Tz 22, FN-IDW 2008, 271, 275; vgl. zum Stichtagsprinzip Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung, S. 168; Fleischer, RIW 2013, 24.
[570] Vgl. zum Stichtagsprinzip Matschke, in: Petersen/Zwirner/Brösel, Handbuch Unternehmensbewertung, Teil A. 4 Rn 46; Peemöller/Kunowski, in: Peemöller, Praxishandbuch der Unternehmensbewertung, S. 293; Vahl, Die Stellungnahme des Instituts der Wirtschaftsprüfer zur Unternehmensbewertung, DB 1984, 1205 f.; IDW S 1, Tz 22, FN-IDW 2008, 271, 275; Piltz, Unternehmensbewertung, S. 110–120.
[571] Vahl, Die Stellungnahme des Instituts der Wirtschaftsprüfer zur Unternehmensbewertung, DB 1984, 1205 f.; IDW S 1, Tz 22, FN-IDW 2008, 271, 275; Piltz, Unternehmensbewertung, S. 110–120.
[572] IDW S 1, Tz 23, FN-IDW 2008, 271, 275.

(3) Unbeachtlichkeit des Vorsichtsprinzips

 

Rz. 197

Zu den prägenden Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung und Bilanzierung zählt das sog. Vorsichtsprinzip (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB), das vor allem dem Gläubigerschutz dient.[573] Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag bzw. zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses bekannt geworden sind, werden im Abschluss berücksichtigt (Imparitätsprinzip).[574] Gewinne sind nur anzusetzen, wenn sie am Abschlussstichtag bereits realisiert waren (Realisationsprinzip).[575]

 

Rz. 198

Bei der Unternehmensbewertung geht es um die Ermittlung des "wirklichen" Werts des Unternehmens. Daher ist eine Bereinigung der Jahresabschlüsse um aus dem Vorsichtsprinzip resultierende Effekte vorzunehmen, da sich sonst automatisch eine (zu) "vorsichtige" Einschätzung des künftigen Unternehmenserfolgs ergäbe. Man würde also im Prinzip einen Mindestertragswert erhalten, wie er dem Unternehmen selbst bei ungünstigsten Entwicklungen auf jeden Fall zukommen müsste.

[573] Morck, in: Koller/Kindler/Roth/Drüen, HGB, § 252 Rn 5; Horschitz/Gross/Weidner, Bilanzsteuerrecht und Buchführung, S. 153 f.
[574] Füllbier/Kuschel/Selchert, in: Küting/Pfitzer/Weber, § 252 Rn 81.
[575] Füllbier/Kuschel/Selchert, in: Küting//PfitzerWeber, § 252 Rn 90 f.; Winkeljohann/Büssow, Beck’scher Bilanz-Kommentar, § 252 HGB Rn 32–33.

(4) Betriebsnotwendiges und nicht betriebsnotwendiges Vermögen

 

Rz. 199

Das als wirtschaftliche Unternehmenseinheit definierte Bewertungsobjekt umfasst auf jeden Fall das sog. betriebsnotwendige Vermögen, also all diejenigen Vermögensgegenstände, derer das Unternehmen zur Erwirtschaftung seiner Ertragsüberschüsse bedarf.[576] Alle dem Unternehmen darüber hinaus rechtlich zuzuordnenden anderen Vermögensgegenstände bilden gemeinsam das nicht betriebsnotwendige Vermögen.

 

Rz. 200

Bei einer Wertermittlung durch Abzinsung der erwarteten zukünftigen Unternehmenserfolge wird naturgemäß nur das betriebsnotwendige Vermögen erfasst. Da Ziel der Unternehmensbewertung aber auch im Rahmen der Ertragsw...

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