Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufenthaltsgenehmigung für einen ohne erforderliches Visum eingereisten Ausländer; Schutz des Familienlebens

 

Orientierungssatz

1. Zur Rechtslage bei Versagung einer Aufenthaltserlaubnis gegenüber einem Ausländer, der ohne erforderliches Visum eingereist ist und die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 AuslG 1990 erfüllt.

2. § 30 Abs. 3 AuslG 1990 sieht die Möglichkeit vor, der Situation Rechnung zu tragen, daß die Einhaltung der Einreisebestimmungen im Einzelfall unzumutbar ist. Die Möglichkeit, einem Ausländer unter den dort genannten Voraussetzungen eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen, die einen rechtmäßigen Aufenthalt begründet und damit weitgehend die gleichen Rechte wie eine Aufenthaltserlaubnis vermittelt, stellt somit eine Regelung dar, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG ebenso genügt wie den Anforderungen, die sich aus Art. 8 Abs. 1 MRK ergeben.

 

Normenkette

EMRK Art. 8; GG Art. 6 Abs. 1; AuslG § 30 Abs. 3, § 23 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 2 S. 1; AuslG1990DV § 9 Abs. 2; AuslG § 8 Abs. 1 Nr. 1; AuslG 1990 § 23 Abs. 1, § 30 Abs. 3, § 8 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Der 1964 geborene Kläger ist indischer Staatsangehöriger. Am 5. Oktober 1992 reiste er mit einem verfälschten Reisepaß in Deutschland ein und stellte zwei Tage später ohne Erfolg einen Asylantrag. Die ihm vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge gesetzte Ausreisefrist endete am 21. August 1993. Am 27. September 1993 versuchte der Kläger, mit einem gefälschten dänischen Reisepaß auszureisen; er wurde deswegen und wegen illegalen Aufenthalts vom Amtsgericht H. am 15. Oktober 1993 rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

Im August oder September 1994 reiste er freiwillig nach Dänemark aus. Dort heiratete er am 24. April 1995 eine deutsche Staatsangehörige, mit der er im April oder im Juli 1995 nach Deutschland zurückkehrte. Bei dieser Einreise verfügte er weder über einen Paß noch über ein Visum. Seit Juli 1995 ist der Kläger in G. gemeldet, wo er mit seiner Ehefrau wohnt.

Am 13. Juli 1995 beantragte der Kläger im Hinblick auf seine Ehe eine Aufenthaltserlaubnis. Mit anwaltlichem Schreiben vom 8. August 1995 beantragte er erneut eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG sowie ein Reisedokument als Ausweisersatz und drängte in einem weiteren Schreiben vom 13. Oktober 1995 auf eine baldige Entscheidung. Er wies darauf hin, seine Frau sei schwanger, weshalb er eine Arbeitserlaubnis benötige.

Mit Schreiben vom 18. Oktober 1995 teilte der Beklagte dem Kläger mit, eine Entscheidung sei noch nicht möglich, da nicht alle Akten vorlägen. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei jedoch wegen seiner illegalen Einreise ausgeschlossen; ihm könnte im Hinblick auf seine Paßlosigkeit allenfalls eine Duldung erteilt werden. Kurz darauf erhielt der Kläger vom Beklagten ein Ausweisersatzpapier sowie eine bis 23. April 1996 befristete Duldung mit der Möglichkeit der Arbeitsaufnahme.

Seit März 1996 besitzt der Kläger wieder einen Paß. Am 15. April 1996 wurde das Kind des Klägers geboren. Nachdem der Kläger am 8. Februar 1996 Untätigkeitsklage mit dem Antrag erhoben hatte, ihm eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen, lehnte der Beklagte unter dem 19. Juni 1996 den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos.

Durch Urteil vom 23. September 1996 hob das Verwaltungsgericht die Bescheide auf und verurteilte den Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. In der Begründung heißt es, der Versagungsgrund des § 8 AuslG stehe der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis normalerweise entgegen. Auch § 9 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG greife zugunsten des Klägers nicht ein, weil die Heirat schon vor der Einreise stattgefunden habe. Ob eine analoge Anwendung der Vorschrift möglich sei, könne offenbleiben, weil jedenfalls Art. 8 EMRK einen Anspruch auf die beantragte Aufenthaltserlaubnis gewähre. Eine vorherige Ausreise wäre unverhältnismäßig wegen der hohen Kosten, der ungewissen Dauer des Aufenthalts (mit der Gefahr des Arbeitsplatzverlustes) und wegen der Gefahr, daß der Kläger als Sikh am Flughafen durch Gelderpresser bedroht werden könnte. Der Zweck des Visumszwanges sei nicht mehr erreichbar. § 71 AuslG greife nicht; Art. 6 GG und Art. 8 EMRK hätten Vorrang. Eine Duldung reiche für einen langjährigen Aufenthaltsstatus nicht aus.

Die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht durch Urteil vom 10. Juni 1997 aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurückgewiesen und die Revision zugelassen.

Mit seiner Revision macht der Beklagte geltend, das angefochtene Urteil verletze Bundesrecht, nämlich § 8 Abs. 1 AuslG. Dem Kläger könne aufgrund dieser Vorschrift keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, Art. 8 EMRK verleihe dem Kläger entgegen der genannten Vorschrift des Ausländergesetzes einen durchsetzbaren Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Die Einhaltung der Einreisevorschriften sei nach der Systematik des Ausländergesetzes ein entscheidendes Vorprüfungskriterium. Die danach zwingend vorgeschriebene Versagung der Aufenthaltserlaubnis sei im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. Dem legitimen Interesse des Klägers auf Schutz des Familienlebens werde durch die Erteilung einer Duldung gemäß § 55 AuslG Rechnung getragen.

Der Beklagte beantragt,

unter Änderung des Urteils des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 10. Juni 1997 und des Urteils des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 23. September 1996 die Klage abzuweisen.

Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Oberbundesanwalt weist darauf hin, § 8 Abs. 1 AuslG sei keine bloße Ordnungsvorschrift, sondern sanktioniere eine Straftat nach § 92 AuslG. Allerdings könne der Durchsetzung der Visumspflicht im konkreten Fall einer gelebten Familiengemeinschaft kein Vorrang vor dem durch Art. 6 GG gebotenen Schutz von Ehe und Familie zukommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Die angefochtenen Urteile verletzen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch nicht zu. Dies führt zur Abweisung seiner Klage.

1. Gegenstand der Klage ist allein der vom Kläger verfolgte Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Kläger hat bei dem Beklagten eine Aufenthaltserlaubnis beantragt. Sollte der formularmäßig gestellte Antrag vom 13. Juli 1995 noch Zweifel daran gelassen haben, ob sich der Antrag auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beschränkt, so sind diese durch den Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 8. August 1995 beseitigt worden; darin hatte er den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausdrücklich auf § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG gestützt. Der Beklagte hat auch nur über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entschieden. Trotz des äußerlich weitergehenden Klageantrages ist das Klagebegehren in diesem Sinne zu verstehen; ansonsten fehlte es an dem gemäß § 68 Abs. 2, § 75 Satz 1 VwGO erforderlichen Antrag bei der Behörde. Ob dem Kläger eine andere Form der Aufenthaltsgenehmigung - insbesondere eine Aufenthaltsbefugnis - zusteht, ist daher nicht zu prüfen.

2. Dem Kläger kann die beantragte Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt werden. Zwar ist nach § 23 Abs. 1 AuslG die Aufenthaltserlaubnis dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen (Nr. 1) bzw. dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge (Nr. 3) zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat und die Erteilung dem durch Art. 6 GG gebotenen Schutz von Ehe und Familie für die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem Ausländer im Bundesgebiet dient (§ 17 Abs. 1 AuslG). Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist nicht zweifelhaft, daß der Kläger, der mit einer Deutschen verheiratet ist, ein deutsches Kind hat und mit beiden in familiärer Gemeinschaft in G. lebt, die Voraussetzungen der Vorschrift nach beiden Alternativen erfüllt.

Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht jedoch § 8 Abs. 1 Nr. 1 AuslG entgegen. Nach dieser Vorschrift wird die Aufenthaltserlaubnis auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz versagt, wenn der Ausländer ohne erforderliches Visum eingereist ist. Dieser Versagungsgrund greift erst recht ein, wenn die Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt werden muß, sondern nach Ermessen versagt werden kann (Beschluß vom 4. Juli 1995 - BVerwG 1 B 40.95 - Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 4, S. 4). Deshalb kann hier unerörtert bleiben, ob der Umstand, daß der Kläger vor seiner Ausreise nach Dänemark wegen illegalen Aufenthalts und wegen Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden ist, dazu führt, daß über die Aufenthaltserlaubnis nur nach Ermessen zu entscheiden ist, weil gegen den Kläger ein Ausweisungsgrund vorliegt (§ 23 Abs. 3 i.V.m. § 17 Abs. 5, § 46 Nr. 2 AuslG; vgl. hierzu die Senatsurteile vom 24. September 1996 - BVerwG 1 C 9.94 - BVerwGE 102, 63 ≪65≫ = Buchholz 402.240 § 46 AuslG 1990 Nr. 3, S. 6, vom 19. November 1996 - BVerwG 1 C 25.94 - Buchholz 402.240 § 47 AuslG 1990 Nr. 11, S. 13 = InfAuslR 1997, 152 und vom 28. Januar 1997 - BVerwG 1 C 23.94 - Buchholz 402.240 § 7 AuslG 1990 Nr. 6, S. 23 = InfAuslR 1997, 240).

a) Der Kläger ist ohne erforderliches Visum eingereist. Er bedurfte nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AuslG im hier maßgeblichen Zeitpunkt seiner Einreise sowohl im Hinblick auf seine Nationalität als auch im Hinblick auf seine Absicht, sich dauerhaft in Deutschland aufzuhalten, einer Aufenthaltsgenehmigung; gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 AuslG war er verpflichtet, die Aufenthaltsgenehmigung vor der Einreise in der Form des Visums einzuholen. Eine "Einreise ohne erforderliches Visum" hätte nur dann nicht vorgelegen, wenn der Kläger berechtigt gewesen wäre, die Aufenthaltsgenehmigung nach seiner Einreise einzuholen. Das aber war nicht der Fall.

Nach § 9 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG kann ein Ausländer die Aufenthaltserlaubnis zu dem in § 17 Abs. 1 AuslG bezeichneten Zweck nach der Einreise einholen, wenn er sich rechtmäßig oder geduldet im Bundesgebiet aufhält und nach seiner Einreise durch Eheschließung im Bundesgebiet einen gesetzlichen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erworben hat. Nach Nummer 2 kann die Aufenthaltserlaubnis für den genannten Zweck u.a. dann nach der Einreise eingeholt werden, wenn der Ausländer erlaubt eingereist ist und während seines rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AuslG eingetreten sind. Die Voraussetzungen der Nummer 1 liegen nicht vor, weil der Kläger bereits vor seiner Einreise im Ausland geheiratet hatte. Nummer 2, an deren Anwendung im Hinblick auf das erst nach der Einreise des Klägers geborene Kind zu denken ist, greift nicht ein, weil der Kläger nicht erlaubt eingereist ist und sein Aufenthalt im Zeitpunkt der Geburt seines Kindes nicht rechtmäßig war. Wie die Begründung für die erst durch Verordnung vom 23. Februar 1993 (BGBl I S. 266) in die DVAuslG eingefügte Regelung (sowie für weitere Erleichterungen in den Nummern 2 und 3) eindeutig zeigt, soll die Änderung im Sinne einer Härteregelung die Möglichkeit eröffnen, "die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet nach der Einreise einzuholen, wenn erst nach der Einreise die Voraussetzungen eines gesetzlichen Anspruchs oder eines Härtefalls nach den §§ 17 bis 23 AuslG eingetreten sind. ... Generelle Voraussetzung für die Befreiung von der Visumspflicht ist der rechtmäßige oder geduldete Aufenthalt. Damit werden Ausländer mit strafbarem illegalem Aufenthalt, der im allgemeinen auch ein der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entgegenstehender Ausweisungsgrund ist, von der Vergünstigung ausgeschlossen. Nummer 1 begünstigt vor allem die ohne Visum eingereisten Asylbewerber, die auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit uneingeschränkt visumspflichtig sind und für die deshalb nicht nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG eine Ausnahme von dem Versagungsgrund des § 8 Abs. 1 Nr. 1 AuslG zugelassen werden kann. Im übrigen aber muß es dabei bleiben, daß eine unerlaubte Einreise keine Umgehung der Visumspflicht ermöglicht. Deshalb setzen Nummern 2 und 3 ausdrücklich die erlaubte Einreise voraus. Damit eine Umgehung der Familiennachzugsbestimmungen durch Erteilung von Duldungen ausgeschlossen wird, fordern Nummern 2 und 3 außerdem, daß die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis während des rechtmäßigen Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet eingetreten sind. Darüber hinaus gilt Nummer 3 nur bei Eintritt der eine Härte begründenden Umstände im Bundesgebiet, weil eine Befreiung von der Visumspflicht nur an Sachverhalte anknüpfen kann, die für die Behörden im Bundesgebiet nachprüfbar sind" (BRDrucks 13/93, S. 8 f.).

Alle drei Erleichterungen der Nummern 1 bis 3 sind somit von dem Bestreben getragen, Fällen gerecht zu werden, in denen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erst nach der Einreise eingetreten sind. Dieses Bestreben ist für die Auslegung der Vorschrift maßgebend. Die vom Verwaltungsgericht erwogene entsprechende Anwendung der Vorschrift auf den hier gegebenen Fall, daß der Ausländer bereits vor seiner Einreise geheiratet und damit einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erworben hat, ist daher nicht möglich; sie würde dem Anliegen des Verordnungsgebers widersprechen.

b) Nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 AuslG kann trotz des Verstoßes gegen die Visumspflicht die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung nach diesem Gesetz offensichtlich erfüllt sind und der Ausländer nur wegen des Zwecks oder der Dauer des beabsichtigten Aufenthalts visumspflichtig ist. Die Vorschrift greift zugunsten des Klägers jedenfalls deshalb nicht ein, weil er bereits wegen seiner Staatsangehörigkeit visumspflichtig war.

3. Allerdings sperrt § 8 AuslG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht für Rechtsansprüche, die auf anderen Rechtsgrundlagen als denen des Ausländergesetzes beruhen (Urteil vom 3. Juni 1997 - BVerwG 1 C 18.96 - Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 11, S. 18). Dem Kläger stehen solche Ansprüche jedoch nicht zu.

a) Art. 6 GG vermittelt keinen solchen Anspruch. Zwar stehen nach dieser Vorschrift Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 51, 386 ≪396 f.≫; 80, 81 ≪93≫) und des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 22. Februar 1995 - BVerwG 1 C 11.94 - BVerwGE 98, 31 ≪46≫ = Buchholz 402.240 § 6 AuslG 1990 Nr. 2; weitere Nachweise im Urteil vom 27. August 1996 - BVerwG 1 C 8.94 - BVerwGE 102, 12 ≪19≫ = Buchholz 402.240 § 13 AuslG 1990 Nr. 3, S. 8) gewährt Art. 6 GG aber unmittelbar keinen Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis. Art. 6 GG gebietet auch grundsätzlich nicht die Freistellung von der Visumspflicht (vgl. Beschluß vom 15. September 1994 - BVerwG 1 B 214.93 - Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 3, S. 2 m.w.N.; Urteil vom 18. Juni 1996 - BVerwG 1 C 17.95 - BVerwGE 101, 265 ≪272≫ = Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990 Nr. 9, S. 15). Vielmehr steht, wie vom Bundesverfassungsgericht zu § 2 Abs. 1 AuslG 1965 entschieden worden ist, eine Regelung mit der Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang, wenn sie den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet von einer Erlaubnis abhängig macht, über deren Erteilung die Verwaltungsbehörden nach Ermessen entscheiden, sofern die Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigt. Die entscheidende Behörde hat hiernach die familiären Bindungen des Antragstellers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Ehe und Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG, daß die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 80, 81 ≪93≫; Urteil vom 4. Juni 1997 - BVerwG 1 C 9.95 - InfAuslR 1997, 355).

Das Ausländergesetz erfüllt das verfassungsrechtliche Schutzgebot für Ehe und Familie, indem es in allen auf die Familie bezogenen aufenthaltsrechtlichen Regelungen auf die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 AuslG verweist, wonach die Aufenthaltsgenehmigung "zum Zwecke des nach Artikel 6 des Grundgesetzes gebotenen Schutzes von Ehe und Familie ... für die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft ... im Bundesgebiet erteilt und verlängert werden kann". Damit stellt das Ausländergesetz eine Reihe abgestufter Regelungen zur Verfügung, in denen dem Schutzgebot des Art. 6 GG nach Maßgabe der nach Fallgruppen gewichteten besonderen Schutzbedürftigkeit der Betroffenen Rechnung getragen wird.

In diesem Zusammenhang stellt die Regelung des § 30 Abs. 3 AuslG eine Auffangvorschrift dar. Sie gestattet es, dem Ausländer abweichend von § 8 Abs. 1 AuslG u.a. auch dann eine Aufenthaltsgenehmigung in der Form der Aufenthaltsbefugnis zu erteilen, wenn es ihm aus besonderen Gründen nicht zuzumuten ist, das Bundesgebiet zum Zwecke der Erfüllung der Einreisevorschriften zu verlassen. Die Vorschrift des § 30 AuslG ist sowohl in ihrem offenen Tatbestand als auch in der Einräumung eines Ermessens für die Wertungen des in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen Schutzauftrags zugänglich.

Ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift beim Kläger erfüllt sind, ist hier nicht zu prüfen, weil die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis, wie bereits erwähnt, nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits ist. Hierüber hat ggf. die Ausländerbehörde zu befinden; sie wird dabei auch zu prüfen haben, ob in der Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe ein noch fortwirkender, gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 AuslG in der Regel zur Versagung der Aufenthaltsgenehmigung führender Ausweisungsgrund zu sehen ist oder ob im Hinblick auf die familiären Verhältnisse des Klägers und die Größe des zeitlichen Abstandes ein der Behörde eine Ermessensentscheidung ermöglichender Ausnahmefall vorliegt.

b) Auch aus Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl 1952 II S. 686, 953/1954 II S. 14) - EMRK - ergibt sich kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Art. 8 Abs. 2 EMRK verbietet grundsätzlich Eingriffe der Behörden in die Ausübung dieses Rechts. Wesentliches Ziel des Art. 8 EMRK ist der Schutz des einzelnen vor willkürlicher Einmischung der öffentlichen Gewalt in das Privat- und Familienleben. Aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgt jedoch grundsätzlich kein Recht des Ausländers, in ein bestimmtes Land einzureisen und sich dort aufzuhalten. Der Ausschluß einer Person von einem Land, in dem nahe Angehörige leben, kann aber das Recht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK verletzen (Urteile vom 26. März 1982 - BVerwG 1 C 29.81 - BVerwGE 65, 188 ≪195≫ = Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 30 und vom 27. Februar 1996 - BVerwG 1 C 41.93 - BVerwGE 100, 287 ≪296≫ = Buchholz 402.240 § 7 AuslG 1990 Nr. 4; vgl. auch Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - vom 28. Mai 1985 ≪Abdulaziz≫, EuGRZ 1985, 567 ≪570≫). Zwar können sich aus Art. 8 EMRK auch positive Verpflichtungen ergeben, die Bestandteil einer wirksamen Achtung des Familienlebens sind. Die Reichweite der positiven Verpflichtungen hängt von der Lage der Betroffenen ab. Bei der Bestimmung der zur Erfüllung des Begriffs der "Achtung" des Familienlebens notwendigen Schritte haben die Vertragsstaaten aber mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und Mittel der Gemeinschaft und der Individuen einen weiten Ermessensspielraum (EGMR, Urteil vom 28. Mai 1985 ≪Abdulaziz≫, a.a.O. S. 569; Urteil vom 27. Februar 1996 - BVerwG 1 C 41.93 - a.a.O.); insbesondere beschränkt die Vorschrift nicht das Recht der Vertragsstaaten, die Beachtung besonderer Einreisevorschriften wie etwa der Vorschrift zu verlangen, die Aufenthaltsgenehmigung im Wege der Visumserteilung zu beantragen (Urteil vom 18. Juni 1996 - BVerwG 1 C 17.95 - a.a.O.). Ebenso wie mit Art. 6 GG (vgl. BVerfGE 76, 1 ≪50≫; 80, 81 ≪93≫; Beschluß vom 2. Dezember 1994 - BVerwG 1 B 123.94 - Buchholz 402.240 § 9 AuslG 1990 Nr. 2) ist es auch mit Art. 8 EMRK vereinbar, daß über den Zuzug selbst bei Vorliegen einer Härte nach Ermessen entschieden wird, wenn bei der Ermessensabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die familiären Belange mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden.

Wie schon dargelegt, sieht § 30 Abs. 3 AuslG die Möglichkeit vor, der Situation Rechnung zu tragen, daß die Einhaltung der Einreisebestimmungen im Einzelfall unzumutbar ist. Die Möglichkeit, einem Ausländer unter den dort genannten Voraussetzungen eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen, die einen rechtmäßigen Aufenthalt begründet und damit weitgehend die gleichen Rechte wie eine Aufenthaltserlaubnis vermittelt, stellt somit eine Regelung dar, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 GG ebenso genügt wie den Anforderungen, die sich aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergeben. Daher kann auch Art. 8 EMRK jedenfalls dort keine weitergehenden als die durch Art. 6 GG vermittelten Schutzwirkungen entfalten, wo sein Anwendungsbereich sich mit dem des Art. 6 GG deckt. Das ist nicht nur für das Verhältnis zwischen Ehegatten, sondern auch für das familiäre Verhältnis des Vaters zu seiner ehelichen Tochter der Fall; diese Beziehungen werden vom Schutzbereich beider Vorschriften umfaßt (vgl. Urteil vom 9. Dezember 1997 - BVerwG 1 C 19.96 -).

Im vorliegenden Fall ist nicht erkennbar, daß die Anwendung dieser Grundsätze zu Ergebnissen führte, die für den Kläger und seine Angehörigen nicht zumutbar sind. Zum einen spricht alles für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis. Zum anderen kann er eine Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Visumspflicht beantragen. Es ist nicht zu erkennen, daß es ihm unüberwindbare Schwierigkeiten machen würde, einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom Ausland aus zu stellen; das Gesetz verlangt insbesondere nicht, daß dies vom Heimatstaat des Klägers aus zu geschehen hätte. Sollte die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis eine gewisse Zeit dauern, wäre selbst eine vorübergehende Trennung des Klägers von seiner Familie nicht unzumutbar, wobei zu berücksichtigen ist, daß der Kläger seine Situation selbst verschuldet hat und deshalb weniger schutzwürdig ist. Es wäre ihm zuzumuten gewesen, den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach seiner Heirat von Dänemark aus zu stellen und die Erteilung abzuwarten, statt illegal einzureisen.

 

Fundstellen

Buchholz 402.240 § 8 AuslG 1990, Nr 14 (red. Leitsatz und Gründe)

FamRZ 1998, 736

FamRZ 1998, 736-738 (red. Leitsatz und Gründe)

NVwZ 1998, 748-750 (red. Leitsatz und Gründe)

EzAR 021, Nr 6 (red. Leitsatz und Gründe)

InfAuslR 1998, 276

InfAuslR 1998, 276-279 (red. Leitsatz und Gründe)

ZAR 1998, 229

ZAR 1998, 229 (red. Leitsatz)

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