Leitsatz (amtlich)

1. Die Förderung berufsvorbereitender Maßnahmen iS des AFG § 40 ist nicht generell auf solche Maßnahmen beschränkt, die in Betrieben und überbetrieblichen Ausbildungsstätten durchgeführt werden.

2. Eine schulische Maßnahme dient dann der Eingliederung Behinderter iS von AReha § 10 Nr 5 (Fassung: 1970-07-02), wenn sie nach Lehrplan und inhaltlicher Ausgestaltung darauf ausgerichtet ist, die Behinderten soweit mit Kenntnissen und Fertigkeiten auszustatten, daß sie nach Abschluß der Maßnahme im Erwerbsleben einsatzfähig sind.

 

Normenkette

AFG § 56 S. 1 Fassung: 1969-06-25, § 58 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25, § 40 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25; BAföG § 2; RehaAnO § 10 Nr. 5 Fassung: 1970-07-02

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. Februar 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Unterbringung der Behinderten Barbara R (R.) im St. W-Heim in B als eine berufliche Bildungsmaßnahme nach den §§ 56 - 62 des Arbeitsförderungsgesetzes in der bis 30. September 1974 geltenden Fassung (AFG aF) i. V. m. der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter vom 2. Juli 1970 (AReha 1970) zu fördern hat.

Die am 27. August 1954 geborene R. ist geistig minderbegabt. Nachdem sie im Sommer 1969 mit einem geringen Bildungsergebnis aus der Volksschule entlassen worden war, besuchte sie vom 1. September 1969 bis 23. Juli 1971 die im St. W-Heim eingerichtete hauswirtschaftliche Sonderberufsschule für schwachbegabte Mädchen. Während dieser Zeit war sie im Heim untergebracht. Die Kosten der Maßnahme wurden vom Kläger in seiner Eigenschaft als überörtlicher Träger der Sozialhilfe übernommen. Unmittelbar nach Beendigung der Maßnahme übernahm die R. eine hauswirtschaftliche Tätigkeit in einem Krankenhaus.

Mit Bescheid vom 4. November 1970 lehnte die Beklagte den Antrag der R. vom 27. Oktober 1969 auf Leistungen zur Arbeits- und Berufsförderung Behinderter ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 31. März 1971). Der Kläger, der mit Anzeige vom 20. November 1970 etwaige Ansprüche der R. gemäß § 90 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) auf sich übergeleitet hatte, erhob Klage. Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat mit Urteil vom 10. Januar 1974 die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die der R. in der Zeit vom 1. September 1969 bis 23. Juli 1971 zustehende Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) an den Kläger bis zur Höhe seiner Aufwendungen zu zahlen. Die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 13. Februar 1975 zurückgewiesen. Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß die zum Personenkreis nach § 56 AFG aF gehörende R. mit dem Besuch der Sonderberufsschule an einem Lehrgang nach § 10 Nr. 5 AReha 1970 zur Verbesserung der Eingliederungsmöglichkeiten für Behinderte, die den Anforderungen eines anerkannten Ausbildungsberufes nicht und einer Arbeitsaufnahme oder einer Tätigkeit für Behinderte noch nicht gewachsen sind, teilgenommen habe. Die Maßnahme sei keine Schulausbildung gewesen. Der Kern der Bildungsmaßnahme habe vielmehr in der Vorbereitung auf den ausgewählten und für die Behinderte geeigneten Beruf bestanden.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung der §§ 40, 56, 58 AFG aF i. V. m. § 10 Nr. 5 AReha 1970. Zur Begründung hat sie im wesentlichen vorgetragen: § 40 Abs. 1 AFG schließe die Förderung jeglicher schulischer Berufsbildungsmaßnahmen aus. Weder § 56 noch der auf § 40 AFG verweisende § 58 AFG aF ließen einen Spielraum für eine extensive Auslegung des § 40 AFG dahingehend, daß er im Hinblick auf die besonderen Belange eines Behinderten ausnahmsweise auch auf schulische Ausbildungsgänge anwendbar sei. Die besonderen Verhältnisse eines Behinderten mögen zwar eine heimgebundene Ausbildung erfordern. Daraus könne aber nicht auf die Notwendigkeit einer schulischen Ausbildung geschlossen werden. Das AFG lasse auch im Behindertenbereich allein die Förderung einer betrieblichen oder überbetrieblichen Ausbildung zu.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts sowie das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und ist der Auffassung, daß der Gesetzgeber mit der in § 40 AFG vorgenommenen Begriffsbestimmung "berufliche Ausbildung in betrieblichen oder überbetrieblichen Einrichtungen sowie für die Teilnahme an Grundausbildungs- und Förderungslehrgängen und anderen berufsvorbereitenden Maßnahmen" eine weitergehende Beschränkung auf Ausbildungseinrichtungen als in § 10 AReha 1970 nicht habe vornehmen wollen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Die Beklagte ist verpflichtet, die von der Behinderten R. in der Sonderberufsschule des St. W.-Heimes in B. in der Zeit vom 1. September 1969 bis 23. Juli 1971 besuchte Bildungsmaßnahme nach den Vorschriften der AReha 1970 zu fördern und die der R. zustehenden Leistungen an den Kläger bis zur Höhe seiner Aufwendungen zu zahlen.

Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß die geistig minderbegabte R. zum Personenkreis der Behinderten im Sinne des § 56 AFG gehört. Dazu sind nämlich alle Personen zu rechnen, die infolge einer vom Normalen abweichenden körperlichen, geistigen oder seelischen Verfassung in ihrer beruflichen Sicherheit bedroht sind (BSG SozR 4100 § 56 Nr. 1).

Für diesen Personenkreis finden, wie das LSG ebenfalls zutreffend entschieden hat, gemäß § 58 Abs. 1 AFG aF die Vorschriften des 2. Abschnitts, 4. Unterabschnitt des AFG und damit auch § 40 AFG uneingeschränkt Anwendung. Dies legt die von der Beklagten gezogene Folgerung nahe, daß auch für Behinderte die Förderung schulischer Ausbildung ausgeschlossen ist (vgl. dazu BSGE 37, 229).

Dieser Folgerung kann allerdings nicht - wie das LSG meint - mit dem Einwand begegnet werden, daß es sich nicht um eine Maßnahme in schulischer Form gehandelt habe. Bei seiner Argumentation, der Kern der Maßnahme habe in der Vorbereitung auf den Beruf bestanden und die Haushaltungsschule habe nicht im wesentlichen allgemeines Schulwissen vermittelt (was an sich richtig ist), hat das LSG verkannt, daß es für die Eigenschaft einer Bildungsmaßnahme als schulische Ausbildung nicht darauf ankommt, ob allgemeinbildendes Wissen oder berufliches Wissen vermittelt wird. Auch die überwiegende oder sogar ausschließliche Vermittlung von beruflichem Wissen kann in schulischer Form erfolgen. Dies ist z. B. der Fall in den Berufsfachschulen, die sogar eine betriebliche Berufsausbildung voll ersetzen können (Rahmenordnung über Berufsfachschulen, Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 3. November 1971). Berufsfachschulen unterliegen grundsätzlich nicht der Förderung nach dem AFG, sondern nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz - BAFöG - (vgl. hierzu Rothe/Blanke, Komm. zum BAFöG, Anm. 5.1 zu § 2). Für die Unterscheidung kommt es vielmehr darauf an, in welcher Weise Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, ob dies im wesentlichen "am Werkstück" nach der Art betrieblicher Ausbildungen geschieht oder mehr in den traditionellen Formen schulischen Unterrichts (BSG-Urteil vom 26. Mai 1976 - 12/7 RAr 69/74), wie dies auch bei dem streitigen Lehrgang der Fall war.

Dieser somit als schulische Maßnahme einzustufende Lehrgang ist dennoch nicht von der Förderung ausgeschlossen. Nach den Feststellungen des LSG hat es sich nämlich nicht um eine Ausbildung im Sinne von § 40 AFG gehandelt, sondern um einen Lehrgang nach § 10 Nr. 5 AReha 1970, der den berufsvorbereitenden Maßnahmen (§ 40 Abs. 1, 2. Halbsatz AFG) zuzuordnen ist. Die von vornherein auf zwei Jahre festgelegte Bildungsmaßnahme war nach Lehrplan und inhaltlicher Ausgestaltung geeignet und auch darauf ausgerichtet, die Behinderte im Rahmen ihrer Bildungsfähigkeit soweit mit Berufskenntnissen und Fertigkeiten auszustatten, daß sie nach Abschluß der Maßnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsatzfähig wurde. Daß die im Alter von 15 Jahren mit geringem Bildungsergebnis aus der Volksschule entlassene geistig minderbegabte R. vor Beginn der Maßnahme zu einer beruflichen Tätigkeit noch nicht fähig war und auch nicht zu erwarten war, daß sie eine Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf durchlaufen oder hierzu befähigt werden könnte, ergibt sich ebenfalls aus den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen. Für solche Maßnahmen (Grundausbildungs- und Förderungslehrgänge und andere berufsvorbereitende Maßnahmen) gilt die aus der ersten Alternative des § 40 Abs. 1 AFG (berufliche Ausbildung in Betrieben oder überbetrieblichen Einrichtungen) zu entnehmende Begrenzung der Förderung von Ausbildungsgängen nicht. Dies hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 26. Mai 1976 (12/7 RAr 69/74) für eine Maßnahme zur Erzielung der Berufsreife (§ 10 Nr. 4 AReha 1970) entschieden. Es besteht keine Veranlassung, diese Frage für die Eingliederungslehrgänge nach § 10 Nr. 5 AReha 1970 anders zu beurteilen. Der Wortlaut des § 40 AFG läßt nicht erkennen, daß die für Ausbildungen geltende Beschränkung auch auf die berufsvorbereitenden Maßnahmen auszudehnen ist. Dies entspricht den Bedürfnissen der Berufsförderung. In der zitierten Entscheidung wurde darauf hingewiesen, daß die Unterweisung bei berufsvorbereitenden Maßnahmen in vielen Fällen nur in schulischer Form erfolgen kann. Da der Beklagten die Förderung berufsvorbereitender Maßnahmen ohne ausdrückliche Beschränkung übertragen worden ist, können schulische Bildungsveranstaltungen dabei nicht generell ausgeklammert werden. Auch die AReha 1970 enthält keinen Anhalt für eine solche Einschränkung. Eine derartige Regelung wäre überdies gesetzwidrig. Die Beklagte hat nach § 56 AFG aF bei ihren Maßnahmen die besonderen Verhältnisse der körperlich, geistig und seelisch Behinderten zu berücksichtigen. Da zu den Maßnahmen im Sinne dieser Vorschrift auch die Anordnungen der Bundesanstalt gehören (BSGE 37, 229), ist die Beklagte verpflichtet, im R Rahmen ihres Anordnungsrechts diesen Bedürfnissen der Behindertenförderung Rechnung zu tragen. Dies schließt die Förderung schulischer Veranstaltungen ein, wo dies zweckmäßig - und nach dem Gesetz möglich - erscheint.

Dementsprechend ist auch unerheblich, ob die Maßnahme innerhalb einer Schule oder als unabhängige Veranstaltung angeboten wird. Dies gilt um so mehr, als es sich bei Maßnahmen nach § 10 Nr. 5 AReha 1970 um das letzte Mittel handelt, Behinderte in das Erwerbsleben einzugliedern, die nach Art und Schwere ihrer Behinderung der Ausbildung für einen anerkannten Ausbildungsberuf nicht zugeführt werden können und auch einer Arbeitsaufnahme oder einer Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte, also sogar einer auf die Behinderten zugeschnittenen Beschäftigungsweise, noch nicht gewachsen sind.

Die Maßnahme verliert auch nicht deshalb den Charakter eines Eingliederungslehrganges nach § 10 Abs. 5 AReha, weil neben der Unterrichtung und Unterweisung in berufsbezogenen Fächern in allgemein bildenden Fächern unterrichtet wurde. Abgesehen davon, daß der allgemeinbildende Unterricht gegenüber den Fächern der Hauswirtschaft und der praktischen Unterweisung ganz deutlich in den Hintergrund trat, kann auch die Vervollkommnung der Allgemeinbildung jedenfalls bei einem geistig Behinderten zur Erlangung der Fähigkeit, am Erwerbsleben teilzunehmen, notwendig sein. Erforderlich ist lediglich - woran hier kein Zweifel besteht -, daß die Vermittlung in berufsbezogener Form erfolgt.

Nach alledem ist das angefochtene Urteil des LSG zu Recht ergangen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649809

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