Entscheidungsstichwort (Thema)

irrevisibles Recht. Krankenhauspflege. Sozialhilfe. Kostenteilung

 

Orientierungssatz

1. Bei einer zwischen den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe und den gesetzlichen Krankenkassen (hier: Bayern) geschlossenen "Vereinbarung anstelle des Halbierungserlasses" handelt es sich um nicht revisibles Recht (vgl BSG vom 17.10.1969 - 3 RK 30/68 = Die Leistungen 1970, 139), so daß die Auslegung des Berufungsgerichts für die Revisionsinstanz maßgebend ist.

2. Die Regelung einer Teilkostenerstattung (hier: Bayern), die den Halbierungserlaß des RAM vom 5.9.1942 ersetzt, ist im Verhältnis der beteiligten Sozialleistungsträger zueinander nicht deshalb unwirksam, weil ein Krankenversicherungsträger im Verhältnis zum Versicherten gemäß § 17 KVLG zur Leistungsgewährung verpflichtet ist.

 

Normenkette

KVLG § 17 Abs 1 Fassung: 1986-02-26; RAM/RMdIErl 1942-09-05 Fassung: 1942-09-05; SGG § 202; ZPO § 562

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 27.04.1989; Aktenzeichen L 4 Kr 77/87)

SG Bayreuth (Entscheidung vom 30.09.1987; Aktenzeichen S 10 Kr 7/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der beklagte Sozialhilfeträger der klagenden Landwirtschaftlichen Krankenkasse (LKK) die Kosten für die stationäre Unterbringung der bei ihr versicherten Kunigunde Sch     (Versicherte) für die Zeit vom 1. Juli 1979 bis 31. Juli 1980 zu erstatten hat.

Die Versicherte befand sich von 1965 an wegen Geisteskrankheit in stationärer Krankenhausbehandlung. Der Beklagte trug - mit einer kurzzeitigen Unterbrechung - die Kosten der Krankenhausbehandlung bis zum 30. Juni 1979. Er begehrt für die Zeit vom 1. Juli 1979 an die Übernahme der Kosten durch die Klägerin, da es sich bei dem Leistungsfall der Versicherten um einen der Klägerin zuzurechnenden Behandlungsfall handele. Die Klägerin lehnte dies - auch im Verhältnis zur Versicherten - unter Berufung auf die zwischen den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe und den gesetzlichen Krankenkassen in Bayern geschlossene "Vereinbarung anstelle des Halbierungserlasses" in der ab 1. Januar 1976 geltenden Fassung (VH 1976) ab. Nachdem die Klägerin in einem von der Versicherten angestrengten Verfahren rechtskräftig zur Gewährung von Krankenhauspflege verurteilt worden war (Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 18. April 1985), zahlte sie die für den streitigen Zeitraum angefallenen Kosten in Höhe von 30.961,70 DM an den Beklagten, verlangte danach aber unter Bezugnahme auf die VH 1976 die Erstattung des geleisteten Betrages. Die Beklagte lehnte dies ab.

Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts Bayreuth -SG- vom 30. September 1987; Urteil des Bayerischen LSG vom 27. April 1989). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen dargelegt: Die Klägerin könne einen Erstattungsanspruch zunächst nicht aus vertraglichen Bestimmungen herleiten. § 8 der VH 1976 regele, daß die Krankenkasse nach Gewährung von fünfjähriger Krankenhausbehandlung nicht mehr leistungspflichtig sei. Soweit sich die Krankenkasse gegenüber der Versicherten auf diese Bestimmung berufen habe, sei dies zu Unrecht geschehen; denn der Anspruch der Versicherten auf Krankenhilfe gemäß § 184 der Reichsversicherungsordnung (RVO) habe durch die VH 1976 nicht abbedungen werden können. Auch § 4 der VH 1976, nach dem Ersatz zu leisten sei, wenn einer der Vertragspartner irrtümlich oder zu Unrecht eingetreten sei, sei nicht einschlägig. Die Klägerin habe nämlich ihre gegenüber der Versicherten bestehende Leistungsverpflichtung erfüllt. Daran ändere auch die in der VH 1976 getroffene Vereinbarung über die Kostentragung bei Krankenhausbehandlung nichts. Die Vereinbarung sei insoweit wegen eines Verstoßes gegen die §§ 179 ff RVO unwirksam. Der Beklagte handele auch nicht treuwidrig, wenn er sich auf die gesetzliche Leistungspflicht der Klägerin berufe. Bestehe wie hier von vornherein keine Ungewißheit darüber, ob es sich um einen Behandlungs- oder um einen Pflegefall handele, griffen vertragliche Vereinbarungen anstelle des Halbierungserlasses zwischen zuständigem und unzuständigem Leistungsträger nicht ein. Auch aus den §§ 102 ff des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X), die auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden seien, lasse sich ein Erstattungsanspruch der Klägerin nicht herleiten. Insbesondere habe sie nicht als unzuständiger Leistungsträger iS des § 105 Abs 1 SGB X gehandelt.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, die Erstattungsregelung des § 4 der VH 1976 sei nicht deshalb unwirksam, weil die Versicherte ihr gegenüber gemäß § 17 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) einen Anspruch auf Gewährung von Krankenhauspflege habe. Eine Erstattungsverpflichtung des Beklagten gemäß § 4 der VH 1976 sei weiter nicht deshalb ausgeschlossen, weil keine Ungewißheit über den Grund der Einweisung bestehe. Insoweit weiche das angefochtene Urteil von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. November 1979 - 3 RK 28/78 (SozR 2200 § 205 Nr 30) ab, in der ausgeführt werde, daß die Prüfung, ob iS des § 4 der VH 1976 "zu Unrecht" geleistet worden sei, auf der Grundlage der Bestimmungen der VH 1976 zu erfolgen habe.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. April 1989 und des Sozialgerichts Bayreuth vom 30. September 1987 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr die Kosten für den Krankenhausaufenthalt der Versicherten Kunigunde Sch     in der Zeit vom 1. Juli 1979 bis 31. Juli 1980 in Höhe von 30.961,70 DM zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er führt aus, die Klägerin sei gegenüber der Versicherten gemäß § 184 RVO zur Übernahme der Behandlungskosten verpflichtet. Insoweit sei kein Raum mehr für die Zuständigkeit eines anderen Leistungsträgers zur Kostenübernahme. Dem stehe der Abschluß einer Vereinbarung zwischen Sozialleistungsträgern in Form eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gemäß § 53 SGB X nicht entgegen. Nach Abs 2 der Vorschrift könne ein derartiger Vertrag über Sozialleistungen nur geschlossen werden, soweit die Erbringung der Leistungen im Ermessen des Leistungsträgers stehe. Die Leistungspflicht gemäß § 184 RVO erweise sich aber nicht als Ermessensentscheidung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht haben die Vorinstanzen entschieden, daß ihr die Kosten für die Krankenhauspflege ihrer Versicherten in der Zeit vom 1. Juli 1979 bis 31. Juli 1980 nicht zu erstatten sind.

Die Klägerin kann sich zunächst nicht zu ihren Gunsten auf die VH 1976 berufen ungeachtet des Umstandes, daß der Senat an die Auslegung des LSG zu § 4 der VH 1976 gebunden ist, wonach der Klägerin hieraus ein Anspruch auf Kostenerstattung nicht zusteht. Denn bei der allein in Bayern gültig gewesenen VH 1976 handelt es sich um nicht revisibles Recht (vgl BSG-Urteil vom 17. Oktober 1969 - 3 RK 30/68), so daß die Auslegung des Berufungsgerichts für die Revisionsinstanz maßgebend ist (§ 202 SGG iVm § 562 der Zivilprozeßordnung - ZPO).

Ein Anspruch der Klägerin aus der genannten vertraglichen Regelung ist schon deshalb ausgeschlossen, weil diese - im Gegensatz zur Annahme des LSG, das die VH 1976 entgegen §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nicht in ihrer Gesamtheit ausgelegt hat - auf den Leistungsfall der Versicherten nicht anzuwenden ist. An dieser Auslegung der VH 1976 ist der Senat nicht deshalb gehindert, weil es sich bei ihr um irrevisibles Recht handelt. Das Revisionsgericht ist nämlich zur Feststellung und Anwendung irrevisiblen Rechts jedenfalls insoweit befugt, als sein Normgehalt vom Berufungsgericht nicht angesprochen worden ist (BSG SozR 2200 § 1248 Nr 41, S 102 mwN). Die VH 1976 ersetzte zulässigerweise (dazu BSGE 9, 112, 119) den bis zu seiner Aufhebung zum 1. Juli 1982 durch Art 6 des Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetzes vom 22. Dezember 1981 (BGBl I 1568) geltenden Halbierungserlaß des Reichsarbeitsministers vom 5. September 1942 (AN S 490). In der VH verpflichteten sich die Krankenkassen, ihren Versicherten bei stationärer Unterbringung wegen eines regelwidrigen Geisteszustandes Krankenhauspflege ohne Rücksicht darauf zu gewähren, ob die stationäre Unterbringung aus medizinischen Gründen (Behandlungsfall) oder aus sonstigen Gründen (Pflegefall) erforderlich war. Als Ausgleich hierfür beteiligten sich die überörtlichen Träger der Sozialhilfe in allen Leistungsfällen - also auch bei Behandlungsfällen - an den Kosten der stationären Unterbringung während der ersten sieben Jahre seit Beginn der Krankenhauspflege (§ 1 Abs 1, 2 iVm § 2 Abs 1 der VH 1976). Die Regelung einer Teilkostenerstattung im Verhältnis der beteiligten Sozialleistungsträger zueinander war entgegen der Ansicht des LSG nicht deshalb unwirksam, weil der Krankenversicherungsträger im Verhältnis zur Versicherten gemäß § 17 KVLG zur Leistungsgewährung verpflichtet war. Die Kostenteilungsvereinbarung der VH 1976 bezieht sich nämlich nicht auf die Leistungspflicht im Verhältnis zu Versicherten. Allerdings erfaßte die VH 1976 den Leistungsfall der Versicherten von vornherein nicht.

Die §§ 2 Abs 1 und 8 Abs 3 der VH 1976 bestimmen zwar, wann eine Leistungspflicht der Krankenkasse nicht mehr oder überhaupt nicht eintritt. Aus ihnen kann allerdings nicht abgeleitet werden, daß bei Vorliegen dieser Voraussetzungen die Krankenkasse nicht mehr zur Leistungsgewährung gegenüber ihrem Versicherten verpflichtet sei mit der Folge, daß der Träger der Sozialhilfe die Leistung zu erbringen hätte. Denn die genannten Vorschriften beziehen sich nach Wortlaut und systematischem Gehalt der Regelungen allein auf die Leistungsverpflichtung der Krankenkasse im Rahmen dieser Vereinbarung (vgl § 2 Abs 1 Satz 2 VH 1976). Besteht danach keine Leistungspflicht der Krankenkasse mehr, was hier gemäß § 8 Abs 3 VH 1976 der Fall war, so ist die Krankenkasse nur noch bei Versicherungsfällen im Sinne des Krankenversicherungsrechts zur Leistungsgewährung verpflichtet, nicht mehr aber bei übrigen Leistungsfällen. Eine Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zur Übernahme von Krankenhauspflegekosten bei Behandlungsfällen von Versicherten läßt sich aus den VH 1976 nicht begründen. Allein diese Auslegung entspricht dem Anliegen der an die Stelle des Halbierungserlasses getretenen VH 1976, für einen bestimmten Übergangszeitraum die oftmals rechtlich und tatsächlich schwierige Abgrenzung überflüssig zu machen, ob ein Behandlungsfall oder ein Pflegefall vorliegt.

Nach den - den Senat bindenden (§ 163 SGG) - Feststellungen des LSG handelte es sich bei der Versicherten im fraglichen Zeitraum um einen Behandlungsfall. Die Klägerin als zuständiger Versicherungsträger war deshalb für die Gewährung der Krankenhauspflege an die Versicherte zuständig, ohne daß ihr ein Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten zustehen würde. Daraus folgt zugleich, daß die Klägerin einen Erstattungsanspruch gegenüber dem Beklagten auch nicht aus dem § 102 ff SGB X herleiten kann, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat.

Nach allem war die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665257

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