Entscheidungsstichwort (Thema)

Freie Beweiswürdigung. rechtliches Gehör. wesentlicher Verfahrensmangel

 

Orientierungssatz

1. Das Gericht überschreitet sein Recht auf freie Beweiswürdigung, wenn es einen unzutreffenden oder auch nur eingeschränkt geltenden Beweisinhalt für seine Urteilsfindung heranzieht.

2. Ein wesentlicher Verfahrensmangel durch Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist gegeben, wenn das Gericht Beweismittel zur Grundlage seiner Entscheidung macht, die dem Kläger ausweislich des Akteninhalts nicht abschriftlich mitgeteilt worden sind.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, §§ 128, 107, 62

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.03.1967)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10.März 1967 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der 1925 geborene Kläger, der wegen Verlust des rechten Beines, Verlust des rechten 5. Fingers mit Mittelhandknochen, Versteifung der Finger und des Handgelenks rechts, Bewegungseinschränkung im rechten Ellenbogengelenk sowie Stecksplitter in mehreren Körperteilen Versorgung wegen Erwerbsunfähigkeit erhält, ist aktiver Justizoberinspektor. Er beantragte am 29. September 1961 Berufsschadensausgleich mit dem Vorbringen, daß er das Reifezeugnis habe und ursprünglich nach der Verwundung den Beruf eines Juristen angestrebt habe. Das Versorgungsamt Köln lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. Februar 1962 ab, weil der Kläger 1946 das Studium an der Universität K hätte aufnehmen können, wenn er gewollt hätte. Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) ist mit Urteil vom 10. März 1967 der Stellungnahme des Regierungsmedizinalrats Dr. M vom 26. Juli 1962 gefolgt, wonach die Schädigungsfolgen nicht ursächlich für die Nichtaufnahme eines Studiums gewesen seien. Dr. R (Äußerung vom 9. März 1962) habe ausgeführt, daß vor allem der Zeigefinger und der Daumen (der rechten Hand) noch ungehindert gebraucht werden können. Der Kläger sei noch in der Lage gewesen, Stenogramme aufzunehmen. Die Schädigungsfolgen seien daher nicht Ursache für die Nichtaufnahme des Studiums gewesen, so daß dahingestellt bleiben könne, ob der Kläger aus wirtschaftlichen Gründen (Unterhaltszuschuß während der Vorbereitung zum gehobenen Dienst) ein Hochschulstudium unterlassen habe.

Der Kläger rügt mit der nicht zugelassenen Revision, das LSG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt, die Grenzen der Beweiswürdigung (§ 128 SGG) überschritten und den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) nicht erfüllt.

Das LSG sei auf die Besonderheiten eines technischen Studiums nicht eingegangen; dies sei wesentlich, weil der Kläger vor der Verwundung einen technischen Beruf angestrebt habe, insbesondere den Beruf eines akademischen technischen Flugzeugbauers. In dieser Richtung habe das LSG den Sachverhalt nicht aufgeklärt, obwohl dem Gericht Zeugen angeboten worden seien.

Bei der Beurteilung der Schwere eines juristischen Studiums im Vergleich zu den Anforderungen der Ausbildung für den gehobenen Justizdienst habe das LSG einen in Wahrheit nicht bestehenden Erfahrungssatz angewandt. Schließlich greift die Revision noch die Feststellung des LSG an, daß der Kläger in der Lage gewesen sei, mit der beschädigten (rechten) Hand Stenogramme aufzunehmen. Diese Feststellung stütze sich erkennbar auf die von Dr. R (Bl. 189 der VA-Akten) abgegebene kurze handschriftliche Äußerung und auf das von Dr. M abgegebene Gutachten vom 26. Juli 1962. Diese Vorgänge seien aber nicht zum Gegenstand des Streitverfahrens gemacht worden. Das LSG habe die Stellungnahme von Dr. R nicht unverändert übernommen; denn Dr. R gehe davon aus, daß Zeigefinger und Daumen noch eingeschränkt gebraucht werden können. Nach Dr. F (Gutachten vom 19. Juni 1946) sei die Gebrauchsfähigkeit der Hand hochgradig eingeschränkt und nach Medizinalrat Dr. von W (Stellungnahme vom 4. Juni 1963) sei die Hand kaum noch gebrauchsfähig. Es lägen Mängel in der Beweiswürdigung und zugleich eine Verkürzung des rechtlichen Gehörs vor. Die ärztlichen Äußerungen aus den Verwaltungsakten, auf die sich das LSG gestützt habe, seien dem Kläger nicht mitgeteilt worden; sie seien auch nicht in der mündlichen Verhandlung erörtert worden; erst die schriftlich niedergelegten Entscheidungsgründe hätten erkennen lassen, daß das LSG sie zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10. März 1967 aufzuheben und unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger vollen Berufsschadensausgleich zu gewähren,

hilfsweise,

das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen.

hilfsweise,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger habe erstmals in der Berufungsbegründungsschrift vom 28. November 1964 geltend gemacht, daß er noch "zusätzlich einen technischen Beruf habe ergreifen wollen". Aufgrund dieser vagen, auf etwaige jugendliche Wunschvorstellungen hindeutenden Erwägungen hätte das LSG sich nicht veranlaßt sehen müssen, über das Berufsziel weitere Ermittlungen anzustellen, zumal der Kläger sein Berufsziel eindeutig mit "Rechtsanwalt" konkretisiert habe.

Das rechtliche Gehör sei deshalb nicht verletzt, weil der Sachverhalt vom sachbearbeitenden Richter mündlich vorgetragen worden sei und die Problematik durch den Vorprozeß wegen Schwerstbeschädigtenzulage (SG Köln - S 14 V 249/62 -) den Beteiligten hinreichend bekannt gewesen sei.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheide (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die nichtzugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; es bleibt daher zu prüfen, ob sie im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft und sachlich gerechtfertigt ist.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); die Revision ist daher nur statthaft, wenn der Kläger mit Erfolg einen wesentlichen Verfahrensmangel rügt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das ist hier der Fall.

In der angegriffenen Entscheidung hat das LSG es dahingestellt sein lassen, ob die Nichtaufnahme eines akademischen Studiums auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen sei. Es hat festgestellt, daß die Schädigungsfolgen nicht Ursache für die Nichtaufnahme eines Studiums seien. Es hat dies aus der Stellungnahme des Regierungsmedizinalrats Dr. M vom 26. Juli 1962 gefolgert, wonach der Kläger trotz seiner Körperbeschädigung in der Lage gewesen sei, ein akademisches Studium aufzunehmen und fortzusetzen. Das LSG hat insoweit auch als bedeutsam angesehen und auf Grund der Äußerungen der genannten Ärzte festgestellt, der Kläger sei - entgegen seiner Behauptung in der Lage gewesen, Stenogramme aufzunehmen. Auf die Möglichkeit eines technischen Studiums ist der Arzt, auf den sich das LSG gestützt hat, wie auch das LSG selbst, nicht eingegangen. Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG in dieser Richtung zu weiterer Sachaufklärung von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus verpflichtet gewesen wäre, weil die Revision in anderer Hinsicht Erfolg hat.

Das LSG hat zur Stütze seiner Feststellung die Äußerung des Dr. R vom 9. März 1962 dahin übernommen, daß "vor allem der Zeigefinger und der Daumen noch ungehindert gebraucht werden können". Tatsächlich hat aber Dr. R an der bezeichneten Stelle dargelegt: "Nach den Befunden von 1951 (HA) können vor allem der Zeigefinger und Daumen noch eingeschränkt gebraucht werden". Das LSG ist mithin zum Nachteil des Klägers von einem unrichtigen Inhalt der ärztlichen Äußerung ausgegangen; es hat damit wegen der Übernahme eines unzutreffenden oder auch nur eingeschränkt geltenden Beweisinhalts die Grenzen des Rechts der richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Es hat daher § 128 SGG verletzt.

Das LSG hat mit der Auszeichnung der Äußerungen von Dr. R vom 9. März 1962 und von Dr. M vom 26. Juli 1962 Beweismittel zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, die dem Kläger ausweislich des Akteninhalts nicht abschriftlich mitgeteilt worden sind (vgl. § 107 SGG). Zwar hat der Berichterstatter des Berufungssenats laut Sitzungsniederschrift vom 10. März 1967 eine Darstellung des Sachverhalts gegeben; daraus allein ist aber nicht zu schließen, daß dem Kläger auch der Inhalt der erwähnten ärztlichen Äußerungen bekannt gegeben worden ist. Die Sitzungsniederschrift enthält jedenfalls keine Angabe darüber, daß dem Kläger die ärztlichen Stellungnahmen vom 9. März 1962 und 26. Juli 1962 ihrem wesentlichen Inhalt nach mitgeteilt worden sind. Da die in erster Linie gebotene Übersendung von Abschriften der gutachtlichen Äußerungen unterblieben ist, hätte die Bekanntgabe des Inhalts dieser Äußerungen in der mündlichen Verhandlung in "nachgreifbarer Weise" erfolgen müssen (BSG, SozR Nr. 4 zu § 107 SGG). Eine Mitteilung darf umso weniger unterstellt werden, als weder die Ladung zur mündlichen Verhandlung noch die Sitzungsniederschrift einen Hinweis auf diese Beweismittel enthält. Stützt aber das Gericht seine Entscheidung auf ein im Verwaltungsverfahren ergangenes Gutachten, so hat es dieses Beweismittel dem Kläger zur Kenntnis zu bringen (BVerfGE vom 24. Juli 1963 - A 2 1 Bv R 103/60 in SozR GG Art. 103 Bl. Ab 2 Nr. 3). Der gerichtlichen Entscheidung dürfen nur Beweismittel zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten haben äußern können (BVerfGE 13, 145). Da das LSG nicht erkennbar seiner Mitteilungspflicht genügt hat, hat es auch den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art. 103 GG) nicht voll erfüllt. Die Rügen des Klägers, welche die Beweiswürdigung und das rechtliche Gehör betreffen, greifen mithin durch. Diese Verfahrensmängel sind auch wesentlich, weil nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei Vermeidung der gerügten Mängel zu einer anderen Tatsachenfeststellung gelangt wäre. Die Revision ist daher auch begründet.

Auf die Revision des Klägers war demgemäß das angefochtene Urteil aufzuheben und, da die nicht mit Erfolg angegriffenen Feststellungen zu einer Sachentscheidung nicht ausreichen, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Der Ausspruch über die außergerichtlichen Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284795

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