Orientierungssatz

Ersatzzeitanrechnung nach RVO § 1251 Abs 2:

Die Anrechnung einer Ersatzzeit (Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft) ohne vorhergehende Versicherung setzt voraus, daß für die fristgerecht aufgenommene rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten.

Auch nach EG-Recht können Beiträge zur französischen Sozialversicherung dabei nicht berücksichtigt werden (vgl BSG 1964-02-18 4 RJ 217/61 = BSGE 20, 184, EuGH 1967-12-05 14/67 = EuGHE 13, 443).

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 2 S. 2 Buchst. a; EWGV 3 Art. 28 Abs. 1 Buchst. b

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 05.04.1965)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 22.11.1962)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 5. April 1965 wird aufgehoben. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. November 1962 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger trat im März 1942 in die deutsche Wehrmacht ein, geriet später in französische Kriegsgefangenschaft und verpflichtete sich im Mai 1947 als Arbeiter in Frankreich. Dort war er bis zu seiner Übersiedlung nach Deutschland im Februar 1951 als Arbeiter beschäftigt.

Ihm wurde aus der deutschen Arbeiterrentenversicherung (ArV) von Juli 1961 an die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zugebilligt. Die Beklagte lehnte es jedoch im Bescheid vom 8. März 1962 ab, dem Kläger die Zeiten seines Kriegsdienstes und seiner Kriegsgefangenschaft als Ersatzzeiten rentensteigernd gutzubringen. Für sie war maßgebend, daß der Kläger nicht innerhalb von drei Jahren, nachdem er in Frankreich auf Grund des zivilen Arbeitsverhältnisses ein größeres Maß von Bewegungsfreiheit wiedergewonnen hatte, in eine nach deutschem Recht rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit eingetreten war (§ 1251 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der Kläger erhielt - neben der Rente aus der deutschen Rentenversicherung - aus der französischen Rentenversicherung eine Invalidenpension. Dabei wurden Versicherungszeiten von 1947 bis Anfang 1951 in Rechnung gestellt. - Die Rente aus der deutschen ArV ist dem Kläger nach seiner Genesung und Umschulung wieder entzogen worden.

Die um Erhöhung dieser Rente erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Freiburg durch Urteil vom 22. November 1962 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat dagegen mit Urteil vom 5. April 1965 die Beklagte verurteilt, in die Rentenberechnung die Ersatzzeiten von März 1942 bis Mai 1947 einzubeziehen. Die Rechtfertigung für diese Entscheidung hat es aus Vorschriften des europäischen Rechts hergeleitet.

Das LSG hat die Revision zugelassen, die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Senat hat - durch Beschluß vom 1. März 1967 - gemäß Art. 177 Abs. 1 Buchst. b Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) über folgende Frage eingeholt:

"Ist Art. 28 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-VO Nr. 3) oder ist der Anhang G I Buchst. B bis D zur EWG-VO Nr. 3 oder sind beide Vorschriften in Verbindung miteinander dahin auszulegen,

daß für die Entscheidung, ob nach deutschem Recht Ersatzzeiten anzurechnen sind, Beiträge, die nach den Vorschriften eines anderen Mitgliedsstaats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entrichtet sind, den Beiträgen nach den deutschen Rechtsvorschriften gleichstehen?"

Der EuGH hat mit Urteil vom 5. Dezember 1967 entschieden:

"Die Versicherungsträger der Bundesrepublik Deutschland sind nach Art. 28 und Anhang G der Verordnung Nr. 3 des Rates der EWG über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer nicht verpflichtet, für die Entscheidung, ob nach deutschem Recht "Ersatzzeiten" anzurechnen sind, nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegte Zeiten zu berücksichtigen."

Die Beklagte hält ihren Revisionsantrag aufrecht.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist begründet.

Dem Kläger können die Zeiten seines Kriegsdienstes und seiner Kriegsgefangenschaft nicht rentensteigernd gutgebracht werden. Dafür fehlt es an der Voraussetzung eines entsprechenden Versicherungsbestandes. Vor dem Ersatzzeitgeschehen war der Kläger nicht in einer gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Nachher hat er nicht innerhalb von drei Jahren in einer deutschen Rentenversicherung - mit Beiträgen belegte - Zeiten versicherungspflichtiger Beschäftigungen oder Tätigkeiten zurückgelegt (§ 1251 Abs. 2 RVO; BSG 20, 184; 22, 246, 247).

Die Kriegsgefangenschaft des Klägers endete im Mai 1947. Zu diesem Zeitpunkt erlangte er zwar noch nicht die volle Freizügigkeit wieder; er blieb zunächst an der Ausreise aus Frankreich gehindert Aber er befand sich in einem - nach arbeitsrechtlichen Vorschriften zu beurteilenden - Arbeitsverhältnis und unterstand dem Schutz der französischen Sozialversicherung. Diese Rechtssituation schließt die Annahme aus, daß der Kläger aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht für die Zeit nach Mai 1947 noch Kriegsgefangener gewesen sei. Das hat das erkennende Gericht in dem - den Beteiligten bekannten - Vorlagebeschluß vom 1. März 1967 im einzelnen dargelegt. Dementsprechend hat denn auch der französische Versicherungsträger seine Leistungspflicht aus den Beitragszeiten von 1947 bis 1951 anerkannt.

Von dem deutschen Versicherungsträger kann der Kläger eine Leistungsverbesserung nicht erhalten. Diese könnte sich zwar aus der 4. Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950 (BGBl II 1951, 177, 195; dazu auch Art. 6 Abs. 2 Buchst. e EWG-VO Nr. 3) ergeben. Die Rechtswohltaten dieser Vereinbarung sind aber nur denjenigen Personen zugedacht, die Frankreich schon vor dem 1. Januar 1951 verlassen hatten (so Art. 3 § 1 Abs. 1 der 4. Zusatzvereinbarung). Der Kläger ist hingegen erst im Februar 1951 in die Bundesrepublik gekommen.

Das Arbeitsverhältnis, in dem der Kläger vorher in Frankreich stand, begründete nach deutschem Recht keine Versicherungspflicht. Diese Pflicht knüpft regelmäßig nur an eine Beschäftigung im Bundesgebiet an. Das bringt das Gesetz dadurch zum Ausdruck, daß es die Ausnahmen von der Regel bestimmt (vgl. § 1227 Abs. 1 Nrn 2 und 8, Abs. 2 RVO). Ein solcher Ausnahmefall war vom Kläger nicht verwirklicht.

Eine andere Rechtsfolge ergibt sich schließlich nicht aus Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts, insbesondere nicht aus Art. 28 und Anhang G der EWG-VO Nr. 3. Das ist durch das Urteil des EuGH vom 5. Dezember 1967 klargestellt worden. Auf diese, den Beteiligten bekanntgegebene Entscheidung wird hingewiesen. Ihr liegt dieselbe Rechtsauffassung zugrunde, von der auch der erkennende Senat bei seiner Anfrage an den EuGH ausgegangen ist.

Das Urteil des LSG, das sich von einer anderen Rechtsansicht hat leiten lassen, kann nicht aufrechterhalten werden; der Revision ist mit der auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG beruhenden Kostenentscheidung stattzugeben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1772174

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