Leitsatz (amtlich)

Versorgungsleistungen an Kriegsopfer in Polen beginnen in der Zeit vor Aufnahme diplomatischer Beziehungen (1972-09-14) gemäß BVG § 64 Abs 2 S 5 iVm BVG § 64c Abs 5 und § 60 Abs 1 bei einer Bewilligung binnen weniger als 2 Jahren nach dem Antrag mit dem Antragsmonat (Abgrenzung zu BSG 1972-02-10 8 RV 427/71 = BVBl 1972, 68).

 

Leitsatz (redaktionell)

Die vom BMA erlassenen Richtlinien Ost 1967 und 1971, die eine weitestgehend von BVG § 64c Abs 5 abweichende Regelung zulassen, sind nicht mit dem Gesetz vereinbar und daher nicht verbindlich.

 

Normenkette

BVG § 64 Abs. 2 S. 5 Fassung: 1966-12-28, § 64c Abs. 5 Fassung: 1966-12-28, § 60 Abs. 1 Fassung: 1966-12-28, § 64 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1966-12-28

 

Tenor

Die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. November 1975 werden zurückgewiesen.

Der Beklagte und die Beigeladene haben der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die in Polen lebende Klägerin ist die Tochter der Eheleute Andreas und Agnieszka K, deren Sohn im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Diese beantragten im Juli 1967 Elternrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Noch vor dem Bescheid vom 13. Februar 1969, mit dem das Versorgungsamt ab 1. Oktober 1968 der Mutter der Klägerin eine Teilversorgung in Höhe von monatlich 45 DM zahlte, verstarb der Vater der Klägerin (18. Januar 1968). Der wegen eines früheren Zahlungsbeginns und wegen höherer Versorgung erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 13. Juni 1969). Während des Klageverfahrens verstarb auch die Mutter der Klägerin (7. April 1970), die bis zum Tode eine polnische Rente bezogen hatte. Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide, die der Verstorbenen ab 1. Juli 1967 zustehende Teilversorgung an die Klägerin auszuzahlen und ihr hierüber unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen Bescheid zu erteilen, im übrigen wies es die Klage ab und ließ die Berufung zu (Urteil vom 13. September 1972).

Während des hiergegen von der Beklagten und der Klägerin mittels Anschlußberufung angestrengten Berufungsverfahrens wurde die Elternteilversorgung mit Bescheid vom 16. Januar 1973 für die Zeit vom 1. Januar bis 30. April 1970 auf 70 DM monatlich erhöht und die Nachzahlung an die Klägerin ausbezahlt. Die vom Landessozialgericht (LSG) beigeladene Bundesrepublik Deutschland und der Beklagte erklärten sich bereit, im Vergleichswege einer Rentengewährung auch für die Zeit vom 1. Februar 1968 bis 30. September 1968 zuzustimmen. Damit war die Klägerin nicht einverstanden. Mit Urteil vom 21. November 1975 hob das LSG das Urteil des SG insoweit auf, als es die Verpflichtung zur neuen Bescheiderteilung ausgesprochen hatte, im übrigen wies es die Berufungen des Beklagten und der Klägerin zurück und ließ die Revision zu. Da die vom Beklagten bestrittene Leistungsverpflichtung einen Zeitraum vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen (14. September 1972) betreffe, sei § 64 Abs. 2 BVG iVm den Zustimmungsrichtlinien (RlO) der Beigeladenen einschlägig. Die nach § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgesehene gerichtliche Prüfung des Verwaltungsermessens ergebe hinsichtlich des Rentenbeginns einen Fehlgebrauch. Die RlO 1967 werde insoweit dem Gebot des § 64 c Abs. 5 BVG, der § 64 Abs. 2 Satz 3 BVG vorgehe, nicht gerecht. Danach sei § 60 Abs. 1 BVG entsprechend anzuwenden, der Rentenbeginn unterliege nicht der Ermessensausübung, weil keine Besonderheiten eine Abweichung von der Regel bedingten.

Die unselbständige Anschlußberufung der Klägerin sei unbegründet weil die Leistung frühestens mit dem Antrag beginnen könne, eine Abfindung nicht vorgesehen sei und die Leistungshöhe den maßgeblichen Vorschriften entspreche.

Gegen dieses Urteil haben der Beklagte und die Beigeladene Revision eingelegt und die Verletzung des § 64 Abs. 2, des § 64 c Abs. 5 und des § 60 Abs. 1 BVG gerügt. Der Klägerin wurde mit Beschluß des Senats vom 10. Dezember 1975 das Armenrecht bewilligt. Die Beigeladene meint, der Begriff "Dauer" umfasse nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Urteil vom 10. Februar 1972 - 8 RV 427/71 -) sowohl den Beginn als auch das Ende der Versorgung und unterliege dem in den RlO ausgeübten Ermessen der Verwaltung. § 64 Abs. 2 Satz 3 BVG sei eine Spezialvorschrift für Leistungen an Berechtigte im Rahmen des § 64 Abs. 2 BVG. Mit der Erwähnung des § 64 c Abs. 5 in § 64 Abs. 2 letzter Satz BVG sei nur klargestellt worden, daß insoweit die allgemeinen Vorschriften gelten sollten, als von dem Ermessen des § 64 Abs. 2 Satz 3 BVG kein Gebrauch gemacht worden sei. Darin sei ein zusätzlicher Hinweis auf die Möglichkeit der Begrenzung des Leistungsbeginns zu erblicken, die in der Regel auf Besonderheiten der Auslandsversorgung beruhe.

Einer Notwendigkeit der Begrenzung zur Abweichung von § 60 Abs. 1 BVG bedürfe es entgegen der Auffassung des LSG nicht. Im übrigen sei eine solche in der Betragsansammlung zu erblicken, wobei es auf deren tatsächliche Höhe im Einzelfall nicht entscheidend ankomme. Mit den in § 64 Abs. 2 Satz 3 BVG genannten Begriffen "Art, Höhe und Dauer" sei der Verwaltung ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt, der ein pragmatisches Vorgehen hinsichtlich der Gestaltung und Durchführung der Versorgung erlaube. Seit dem Beginn der Auslandsversorgung 1951 gelte der anerkannte Grundsatz, daß der Versorgungsbeginn (§§ 8, 64 BVG) abweichend von den §§ 60 ff BVG geregelt werden könne.

Die Beigeladene beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. November 1975 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 13. September 1972 insoweit abzuändern, als der Beklagte bezüglich des Zahlungsbeginns verpflichtet wurde, die Teilversorgung bereits für die Zeit vor dem 1. Februar 1968 zu gewähren.

Der Beklagte hält die nähere Bestimmung des Begriffs "angemessener Umfang" (2. NOG) durch die Begriffe "Art, Höhe und Dauer" (3. NOG) für eine klare Umreißung der Gestaltungsbefugnis der Verwaltung, wobei der Begriff "Dauer" auch Beginn und Ende der Versorgung umfasse, also eine von § 60 Abs. 1 BVG abweichende Regelung erlaube. Die in den Richtlinien 1971 getroffene Regelung werde auch für die Zeit vor dem 1. Januar 1970 angewendet, wenn der für die Beteiligten noch nicht bindend gewordene Bescheid vor diesem Zeitpunkt ergangen sei.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. November 1975 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 13. September 1972 insoweit abzuändern, als das Land bezüglich des Zahlungsbeginns verpflichtet wurde, die Teilversorgung bereits für die Zeit vor dem 1. Februar 1968 zu gewähren.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zu verwerfen.

Dem angefochtenen Urteil sei zuzustimmen. Dem Begriff "Dauer" sei allerdings gedanklich "weitere" voranzustellen. Die Verweisung in § 64 Abs. 2 letzter Satz BVG auf § 64 c Abs. 5 BVG gelte für § 64 Abs. 1 und 2 BVG. Sie enthalte nicht nur einen zusätzlichen Hinweis für die Begrenzung des Leistungsbeginns. Nr. 26 der RlO stehe mit den Grundsätzen und Anforderungen an eine fehlerfreie Ermessensentscheidung nicht im Einklang, sie führe zu zufälligen, der Willkür unterliegenden Ergebnissen. Besonderheiten der Versorgung im Sinne von § 64 c Abs. 5 BVG die eine Abweichung von § 60 Abs. 1 BVG rechtfertigten, habe das LSG für den vorliegenden Einzelfall, auf den es hier allein ankomme, zutreffend verneint.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen des Beklagten und der Beigeladenen sind unbegründet.

Nach den Revisionsanträgen ist nur noch streitig, ob der Klägerin als Rechtsnachfolgerin auch für die Zeit ab Juli 1967 bis 31. Januar 1968 eine Nachzahlung aus dem der Höhe nach unstreitigen Elternrentenanspruch ihrer verstorbenen Mutter als Kannleistung zusteht. In welchem Umfang der Beklagte über die Leistung für diese Zeit entscheiden durfte, bestimmt sich nicht nach § 64 Abs. 1, sondern nach Abs. 2 BVG i.d.F. des Dritten Neuordnungsgesetzes (3. NOG) vom 28. Dezember 1966 (BGBl I S. 750) in Verbindung mit den Vorschriften, auf die diese Bestimmung verweist; denn zu jener Zeit (1967/68) bestand noch keine diplomatische Beziehung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Davon ist das LSG zutreffend ausgegangen. Während der Anspruch nach § 64 Abs. 2 Satz 1 BVG ruht, kann nach Satz 2 Versorgung im angemessenen Umfang gewährt werden. Das ist hier geschehen. Wenn nach Satz 3 in einem solchen Fall die Versorgung "nach Art, Höhe und Dauer festzulegen" ist, so muß gemäß dieser Verpflichtung auch über den Beginn der Leistungen entschieden werden. Dies hat die Verwaltung ebenfalls beachtet. Entgegen der Auffassung des LSG und der Klägerin umfaßt der allgemeine und ohne Einschränkung verwendete Begriff "Dauer" nach üblichem Sprachgebrauch auch den Beginn der Versorgung. Das wird durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt. Nach dem Entwurf zum 3. NOG sollte sich die Weisung auf "Beginn und Ende" der Leistungen beziehen (BT-Drucksache V/1012, zu BT-Drucksache V/1216). Die Veränderung des Wortlauts bedeutet keine inhaltliche Änderung dahingehend, daß nicht etwa der Beginn der Versorgung zu regeln wäre, sondern erweitert nur den Regelungsgehalt durch den Begriff "Dauer". Diese Fassung erscheint mit Rücksicht auf noch zu erörternde Bedürfnisse der Verwaltungspraxis verständlich und zweckmäßig. Die ausdrückliche Weisung, daß die "Dauer" einschließlich des Beginns der Leistung festzulegen ist, ermächtigt die Verwaltung indessen nicht, die Versorgung nach ihrem Ermessen beginnen zu lassen. Vielmehr ist im - folgenden - Satz 5 gesetzlich bestimmt, wie der Beginn zu regeln ist. Nach dieser Vorschrift gilt für den Fall einer Bewilligung - wie hier - u.a. die Vorschrift des § 64 c Abs. 5 BVG entsprechend, die nach der einschränkenden Verweisung in § 64 Abs. 1 BVG unmittelbar die Versorgung der Deutschen und deutschen Volkszugehörigen in Ländern mit diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufgrund eines Rechtsanspruchs regelt. Nach § 64 c Abs. 5 Satz 1 BVG sind aber u.a. die Vorschriften der §§ 60 und 61 BVG über den Beginn der Versorgung verbindlich, soweit nicht Besonderheiten der Kriegsopferversorgung außerhalb des Bundesgebiets eine Abweichung bedingen. Demnach sind die Leistungen grundsätzlich von dem Monat ab, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens vom Antragsmonat ab zu gewähren (§ 60 Abs. 1, § 61). Dem Umstand, daß davon Ausnahmen zulässig sein können, wird mit der inhaltlich unbestimmten Weisung des § 64 Abs. 2 Satz 3 BVG, u.a. die "Dauer" der Leistung festzulegen, Rechnung getragen.

Mit dieser Auslegung folgt der erkennende Senat dem ersten Teil der Entscheidung des 8. Senats des BSG im Urteil vom 10. Februar 1972 - 8 RV 427/71 - (BVBl 1972, 68), wonach der Begriff "Dauer" auch den Beginn umfaßt. Der außerdem vom 8. Senat vertretenen Auffassung, die Verwaltung sei auch ermächtigt, allgemein die Versorgungs-Kannleistung ins Ausland abweichend von § 60 Abs. 1 BVG beginnen zu lassen, kann hingegen der erkennende Senat jedenfalls nicht für eine Versorgung nach § 64 Abs. 2 BVG an Kriegsopfer in Ländern beipflichten, die keine diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland haben. Entgegen der Auffassung der Revisionskläger hatte der 8. Senat, der im übrigen nicht mehr für Kriegsopfersachen zuständig ist, gar nicht über den Leistungsbeginn für Fälle dieser Art zu entscheiden; die ihm vorliegende Sache betraf eine Teilversorgung nach Rumänien, mit dem die Bundesrepublik Deutschland damals bereits diplomatische Beziehungen unterhielt, also einen Fall des § 64 Abs. 1 BVG. Dafür gelten aber abweichend von den Regeln dieser Vorschrift u.a. die Besonderheiten des § 64 Buchst. e Abs. 1 i.V.m. § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 BVG; dagegen ist die die Kannleistung in ein Land ohne diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland regelnde Vorschrift des § 64 Abs. 2 Satz 5 BVG, die auf § 64 c Abs. 5 verweist, nicht in die Verweisungsnorm des § 64 e Abs. 1 einbezogen. Es ist nicht klar erkennbar, warum der Gesetzgeber insoweit mit der grundsätzlichen Bindung des Leistungsbeginns an den Antragsmonat die Kriegsopfer in Ländern ohne diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik, deren Versorgungsanspruch ruht, im Fall einer Bewilligung - ebenso wie bei einer Pflichtversorgung in Länder mit diplomatischen Beziehungen gemäß § 64 Abs. 1 - günstiger zu stellen scheint, als die Deutschen in Ländern mit diplomatischen Beziehungen, sofern diese ausnahmsweise aus besonderen Gründen auf eine Teilversorgung beschränkt werden. Eine elastischere Regelung können bei dieser Teilversorgung irgendwelche Rücksichten auf die diplomatischen Beziehungen oder sonstige übergeordnete Gesichtspunkte gebieten. Ein Redaktionsversehen, das zu einer anderen Auslegung führen könnte, ist beim Ausschluß des § 64 Abs. 2 Satz 5 BVG in § 64 e Abs. 1 nicht ersichtlich.

Im vorliegenden Fall durfte die Verwaltung von dem Grundsatz, daß die Leistung mit dem Antragsmonat beginnt, nicht zum Nachteil der Klägerin abweichen. Sie hat keine Besonderheiten der Kriegsopferversorgung außerhalb des Bundesgebiets dargelegt, die eine solche Entscheidung "bedingten", d.h. rechtfertigten und auch geböten. Die vom BMA erlassenen Richtlinien des Jahres 1967, die eine weitestgehend von § 64 Buchst. c Abs. 5 BVG abweichende Regelung zulassen, sind mithin nicht mit dem Gesetz vereinbar und daher nicht verbindlich. Gleiches gilt für die 1971 erlassenen Richtlinien, die auf diesen noch anhängigen Fall anzuwenden sind, jedenfalls für Sachgestaltungen der vorliegenden Art. Ob die darin vorgesehene Staffelung des Leistungsbeginns im übrigen mit dem Gesetz vereinbar ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Besondere Gründe, die einer rückwirkenden Bewilligung für weniger als zwei Jahre bis zum Antragsmonat entgegenständen, haben die Revisionskläger nicht vorgetragen. Wenn sie diese Leistung rückwirkend ab 1. Oktober 1968 und schließlich ab 1. Februar 1968 bewilligen, erscheint es nicht hinreichend begründet, von einer weiteren Vorverlegung für die Zeit ab 1. Juli 1967 absehen zu müssen; sie liegt noch in dem Zeitraum, bis zu dem nach den Richtlinien von 1971 rückwirkende Bewilligungen zulässig sein sollen.

Mithin ist das Urteil des LSG im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652255

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