Entscheidungsstichwort (Thema)

Spätblinde

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Beurteilung der Invalidität eines Schwerbeschädigten kommt es nicht auf den ihm tatsächlich gezahlten Lohn an, auch wenn es sich dabei um den ihm zustehenden Tariflohn handelt, maßgebend ist vielmehr, welchen Lohn der Beschädigte nach den ihm verbliebenen Kräften und Fähigkeiten allein bei Berücksichtigung seiner Leistung durch eine ihm zuzumutende Tätigkeit verdienen kann.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Spätblinder wird, solange er nicht neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, in der Regel als invalide iS des RVO § 1254 aF anzusehen sein. Die Notwendigkeit von Hilfeleistungen bei einzelnen Verrichtungen ist für die Frage der Invalidität nicht von entscheidender Bedeutung, jedoch muß es sich dann um Hilfen handeln, die für den Arbeitsgang weniger wichtig sind und den Ablauf der Arbeit im Betriebe oder in der Verwaltung nicht wesentlich beeinträchtigen.

 

Normenkette

RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. April 1955 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1927 geborene Kläger, der von April 1942 bis September 1944 als Zimmermannslehrling gearbeitet hatte, erblindete im Februar 1945 als Soldat infolge einer Verwundung auf beiden Augen. Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA.) bewilligte ihm vom 1. Januar 1946 an die Invalidenrente. Vom 1. März 1951 an war der Kläger beim Fernmeldeamt in H... als "Zahlengeber" tätig. Auf Grund dieser Beschäftigung, die er wöchentlich an sechs Werktagen mit insgesamt 43 Stunden ausübte, entzog ihm die Beklagte durch Bescheid vom 11. November 1952 mit Ablauf des Monats November 1952 die Rente, weil er wieder in der Lage sei, durch Arbeit "mehr als das für ihn maßgebliche Lohndrittel - auch die Hälfte -" zu verdienen und deshalb nicht mehr als invalide anzusehen sei.

Mit der beim Oberversicherungsamt (OVA.) D... eingelegten Berufung, die mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Dortmund überging, machte der Kläger geltend, er sei auf Grund des Schwerbeschädigtengesetzes (SchwBG) angestellt worden; die von ihm verrichtete Tätigkeit rechtfertige nicht die Entziehung der Rente. Er legte eine Bescheinigung der Oberpostdirektion Dortmund folgenden Inhalts vor:

"Der Kriegsblinde H... St... ist beim Fernmeldeamt in H.../Westf. tätig. St. ist nur mit Hilfe seiner sehenden Kollegen in der Lage, seine Tätigkeit auszuüben. Seine dienstlichen Leistungen betragen etwa 50%. St. wird aus sozialen Erwägungen bei der Deutschen Bundespost beschäftigt".

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen wies die Berufung des Klägers durch Urteil vom 27. April 1955 zurück und ließ die Revision zu: Zwar hätten sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers gegenüber dem Zustand zur Zeit der Bewilligung der Rente nicht geändert, so daß die Rente nicht nach § 1293 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. entzogen werden könne; die Rente sei aber nach § 1293 Abs. 2 RVO in Verbindung mit der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 zu Recht entzogen worden, weil der Kläger gegenwärtig nicht invalide sei. Er sei, wenn man seine Erblindung und eine geringe Herabsetzung seines Hörvermögens außer Betracht läßt, körperlich und geistig gesund. Wenn auch die Blindheit seine Erwerbsfähigkeit nicht unerheblich beeinträchtige, so schließe sie ihn nicht von allen Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts aus. Invalidität liege nicht mehr vor, weil der Kläger seit März 1951 als Zahlengeber tätig sei, seine dienstlichen Leistungen nach der Bescheinigung der Oberpostdirektion mit etwa 50 v.H. bewertet würden, er diese Tätigkeit ohne Beeinträchtigung seiner Gesundheit ausüben könne und den vollen Lohn eines Gesunden verdiene. Daß der Kläger auf Grund des SchwBG eingestellt worden sei und - wie er vortrage - sein Gehalt nur vergönnungsweise erhalte, sei für die Beurteilung seiner Erwerbsfähigkeit ohne Bedeutung. Er könne als Blinder mit einem Gesunden zwar nicht mehr "voll wettbewerbsfähig in Konkurrenz treten", es gebe aber viele Blinde, die vollwertige Leistungen verrichteten. Daß er bei seiner Berufstätigkeit für einzelne Verrichtungen auf die Hilfe fremder Personen angewiesen sei, könne ebenfalls nicht zur Verneinung seiner Erwerbsfähigkeit führen.

Der Kläger hat gegen das Urteil, das ihm am 24. Juni 1955 zugestellt worden ist, am 14. Juli 1955 Revision eingelegt. Den in der Revisionsschrift enthaltenen Antrag hat er in der mündlichen Verhandlung dahin klargestellt, daß er beantragt, die Urteile des LSG. und des SG. sowie den Entziehungsbescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Rente über den 30. November 1952 hinaus zu gewähren. Hilfsweise beantragt er, den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Die Revisionsbegründung ist, nachdem die Begründungsfrist bis zum 24. September 1955 verlängert worden war, am 22. September 1955 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen. Zur Rechtfertigung der Revision bringt der Kläger im wesentlichen folgendes vor: Sein Gesundheitszustand habe sich nicht gebessert. Er sei für die Tätigkeit als Zahlengeber nicht umgeschult worden, man habe nur nach der Verwundung versucht, ihn als Bürstenmacher umzuschulen. Aus der Tatsache, daß er seit 1. März. 1951 als Postangestellter mit einem Bruttogehalt von monatlich 308,-- DM beschäftigt sei, könne nicht geschlossen werden, daß er nicht mehr invalide sei. Die Tätigkeit "am Zahlengeber" gehöre bei der Post zum mittleren weiblichen Dienst, sie werde sonst nicht von männlichen Angestellten ausgeübt. Er sei bei seiner Arbeit im besonderen Maß auf fremde Hilfe angewiesen. Das LSG. habe verkannt, daß ihn die Deutsche Bundespost nur aus sozialen Erwägungen beschäftige; es habe nicht berücksichtigt, daß er seinen Arbeitsplatz auf Grund des SchwBG erhalten habe. Da er als Blinder fast ausschließlich für seine Wahrnehmungen auf das Gehör angewiesen sei, wirke sich auch die leichte Herabsetzung des Hörvermögens, die bei ihm beiderseits bestehe, besonders ungünstig aus.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und tritt der Auffassung, der Kläger werde nur aus rein sozialen Gründen beschäftigt, entgegen.

II

Die frist- und formgerecht eingelegte Revision ist begründet, weil das LSG. bei Prüfung der Erwerbsfähigkeit des späterblindeten Klägers von unrichtigen rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist.

Die Rechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides vom 11. November 1952 ist nach dem damals geltenden Recht zu beurteilen (Urteil des erkennenden Senats vom 17.12.1957 - 3 RJ 160/55 - in SozR. RVO § 1293 a.F. Bl. Aa 4 Nr. 5). Das Berufungsgericht hat die Entziehung nach Ziff. 1 der SVD Nr. 3 als gerechtfertigt angesehen, weil der Kläger nicht invalide im Sinne des § 1254 RVO a.F. sei. Die von der Revision gegenüber der Wirksamkeit der SVD Nr. 3 vorgebrachten Zweifel sind nicht begründet. Die Ziff. 1 der SVD Nr. 3 ist eine Norm des materiellen Rechts, die im Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheides wirksam war und erst seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (ArVNG) nicht mehr anwendbar ist. Diese Bestimmung gestattete eine Entziehung der Rente auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten, wenn eine neue Prüfung ergab, daß er nicht invalide ist (vgl. BSG. 2 S. 188).

Der Kläger ist auf Grund einer im Kriege erlittenen Verwundung im Alter von 17 Jahren erblindet, nachdem er vor seiner Einberufung zum Wehrdienst die Zimmermannslehre fast vollständig beendet hatte. Ein solcher "Spätblinder" wird, solange er nicht neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, in der Regel als invalide im Sinne des § 1254 RVO a.F. anzusehen sein, da er, zumindest für längere Zeit, nicht in der Lage sein wird, die für ihn nach § 1254 RVO a.F. maßgebende Lohnhälfte auch nur annähernd zu verdienen (vgl. BSG. in SozR. § 1254 RVO a.F. Bl. Aa 3 Nr. 4). Erwirbt er später neue berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die ihn in die Lage versetzen, wieder einer regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen, so hängt die Beurteilung seiner weiteren Invalidität davon ab, ob er durch eine solche - seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende und ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufs zuzumutende - Tätigkeit die für ihn maßgebende Lohnhälfte verdienen kann.

Das LSG. hat im wesentlichen aus der Tatsache, daß der Kläger seit März 1951 als "Zahlengeber" beim Fernmeldeamt in Hagen bei vollem Tarifgehalt tätig ist und daß die Oberpostdirektion D... in der vom Kläger vorgelegten Bescheinigung seine Leistungen mit etwa 50 v.H. bewertet hat, den Schluß gezogen, der Kläger sei nicht mehr invalide. Dabei hat es nicht genügend beachtet, daß in der Bescheinigung der Oberpostdirektion weiter angegeben ist, der Kläger übe seine Tätigkeit nur mit Hilfe seiner sehenden Kollegen aus und werde nur aus sozialen Erwägungen bei der Deutschen Bundespost beschäftigt. Zwar wird man dem LSG. darin beitreten können, daß die Notwendigkeit von Hilfeleistungen bei einzelnen Verrichtungen für die Frage der Invalidität nicht von entscheidender Bedeutung ist; jedoch muß es sich dann um Hilfen handeln, die für den Arbeitsgang weniger wichtig sind und den Ablauf der Arbeit im Betriebe oder in der Verwaltung nicht wesentlich beeinträchtigen. Das LSG. hat aber Feststellungen darüber, inwieweit der Kläger auf die Mithilfe seiner Mitarbeiter angewiesen ist und wie sie sich auf den Ablauf der Arbeit im Betrieb oder in der Verwaltung auswirkt, nicht getroffen. Es hat auch nicht festgestellt, nach welchen Gesichtspunkten die Oberpostdirektion die Leistungen des Klägers bewertet hat und ob gleichartige oder ähnliche, für den Kläger geeignete Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft in nennenswerter Zahl vorhanden sind. Maßgebend für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit eines Versehrten ist in erster Linie, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß er imstande ist, eine ihm zumutbare Tätigkeit im wesentlichen ohne fremde Hilfe zu verrichten und ob - unabhängig von der jeweiligen Beschäftigungslage - Arbeitsplätze, auf denen er mit einer solchen Tätigkeit die Hälfte des für ihn in Betracht kommenden Vergleichslohnes verdienen kann, nicht nur gelegentlich zur Verfügung stehen. Deshalb hätte sich das Berufungsgericht auch mit der Behauptung des Klägers auseinandersetzen müssen, der Arbeitsplatz beim Fernmeldeamt Hagen sei für ihn erst geschaffen worden.

Das LSG. hat die Invalidität des Klägers hauptsächlich wegen der Höhe des ihm tatsächlich gewährten Arbeitsentgelts verneint. Wenn auch ein Arbeitseinkommen, das die gesetzliche Mindestverdienstgrenze im Sinne des § 1254 RVO a.F. übersteigt, häufig für das Nichtbestehen von Invalidität sprechen mag, so wird doch gerade bei Schwerbeschädigten, insbesondere bei Erblindeten, im Hinblick auf bestehende tarifvertragliche Regelungen aus der Höhe des Lohnes nur selten geschlossen werden können, welcher Lohn der wirklichen Leistung des Schwerbeschädigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt entsprechen würde; das gilt insbesondere, wenn der betr. Tarifvertrag keine Bestimmung über die Zulässigkeit eines herabgesetzten Lohnes bei geminderter Leistungsfähigkeit (Minderleistungslohnklausel) enthält. Für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten ist aber entscheidend, ob er in der Lage ist, auf Grund der ihm verbliebenen Kräfte und Fähigkeiten unter Berücksichtigung etwa neu erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten eine ihm zuzumutende Tätigkeit zu verrichten und dabei durch seine Leistung die Hälfte des für ihn in Betracht kommenden Vergleichslohnes zu verdienen. Denn allein der durch die eigene Leistung des Versicherten erzielbare Arbeitsentgelt kann für die Beurteilung des Ausmaßes der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit maßgebend sein. Da nicht feststeht, ob der Kläger überhaupt über ein solches Maß von Erwerbsfähigkeit verfügt, kann zunächst offen bleiben, ob die bisherige Rechtsprechung des Senats (vgl. BSG. 1 S. 90) in vollem Umfange aufrecht zu erhalten ist, wonach auch ein Schwerbeschädigter, der auf Grund seiner Arbeitsleistung mindestens die Hälfte des Vergleichslohnes verdient, gleichwohl als invalide anzusehen ist, wenn er einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit den Hilfen des Schwerbeschädigtengesetzes erlangen und ausfüllen kann (vgl. auch BSG. in SozR. RVO § 1254 a.F. Bl. Aa 3 Nr. 4 und RVO § 1293 a.F. Bl. Aa 2 Nr. 4, Bedenken gegen die bisherige Rechtsprechung bei Scheerer, Zeitschrift für Sozialreform, 1958 S. 239).

Das angefochtene Urteil ist somit aufzuheben, und der Rechtsstreit ist mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen. Dieses wird zunächst nähere Feststellungen über die Art der vom Kläger bisher verrichteten Tätigkeiten treffen und den Sachverhalt unter Beachtung der vorstehenden Rechtsausführungen näher klären müssen. Sollte sich der Entziehungsbescheid nach neuer Prüfung als rechtmäßig erweisen, so wird das LSG. die Erwerbsfähigkeit des Klägers vom 1. Januar 1957 an unter Berücksichtigung des § 1246 Abs. 2 RVO n.F. zu beurteilen haben (vgl. SozR. RVO § 1293 a.F. Bl. Aa 4 Nr. 5).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1959, 1295

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