Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufung. Ausschluß. Statthaftigkeit. Arbeitsunfall. Gewöhnung

 

Orientierungssatz

1. Die Berufung ist nicht durch § 145 Nr 4 SGG ausgeschlossen, wenn das Erreichen der 50 vH-Grenze von der umstrittenen MdE abhängt.

2. Die Beurteilung der Frage, ob Anpassung oder Gewöhnung eingetreten ist, hängt in der Regel nicht ausschließlich von medizinischer Sachkunde ab, vielmehr gehört dazu auch eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse des Verletzten durch das Gericht, das hierbei auch außermedizinische Erkenntnisse zu berücksichtigen hat. Zu diesem Fragenkreis gehört aber nicht die Prüfung, ob bei gewissen Unfallfolgen ihrer Art nach die Möglichkeit von Anpassung oder Gewöhnung schlechthin ausgeschlossen ist. Woher das LSG diese überwiegend medizinisch geprägten Erfahrungsgrundsatz gewonnen hat, hätte das Gericht darlegen müssen.

 

Normenkette

SGG § 145 Nr. 4; RVO § 608; SGG § 128

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 06.12.1957)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Dezember 1957 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der 1923 geborene, als Landmaschinentechniker beschäftigte Kläger erlitt durch Arbeitsunfall am 16. August 1949 eine schwere Verletzung des linken Fußes. Wegen der hierdurch notwendigen Amputation des linken Unterschenkels in der Mitte gewährte ihm die Beklagte eine vorläufige Rente von zunächst 70 v.H., vom 1. Dezember 1950 an von 60 v.H. Nachdem Anfang 1951 in der Orthopädischen Universitätsklinik H... zwecks Schaffung günstigerer Stumpfverhältnisse das Wadenbein reseziert und ein Narbenneurom entfernt worden war, schätzte diese Klinik in dem Gutachten vom 23. Mai 1951 die beim Kläger infolge des Unfalls bestehende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 50 v.H. Die Beklagte stellte hierauf durch Bescheid vom 27. Oktober 1951 die Dauerrente auf 50 v.H. fest. Zur Begründung führte sie aus, durch den operativen Eingriff seien die Stumpfverhältnisse wesentlich gebessert worden, der Kläger sei jetzt in der Lage, mit seinem einwandfrei sitzenden Unterschenkelkunstbein gut und sicher zu gehen. Diesen Bescheid focht der Kläger ohne Erfolg an. Die Beklagte überreichte dem Oberversicherungsamt (OVA) ein weiteres Gutachten der Orthopädischen Universitätsklinik H... vom 29. Oktober 1952; darin bezeichneten die Gutachter eine Heraufsetzung der Rente als ungerechtfertigt, die noch vorliegenden Störungen im Bereich des Amputationsstumpfes seien gering und leicht zu beheben. Das OVA wies im April 1953 die Berufung gegen den Dauerrentenbescheid zurück.

Auf Grund einer Nachuntersuchung in der Orthopädischen Universitätsklinik am 19. Dezember 1953 führten die Gutachter aus, der klinische Befund sei der gleiche geblieben, jedoch könne inzwischen weitgehende Anpassung und Gewöhnung angenommen werden; die unfallbedingte MdE betrage noch 40 v.H. Durch Bescheid vom 27. Januar 1954 setzte hierauf die Beklagte die Dauerrente auf 40 v.H. herab.

Mit seinem Klagevorbringen hat der Kläger den Eintritt von Anpassung und Gewöhnung bestritten und darauf hingewiesen, daß er seit dem 29. Dezember 1953 an Stumpfbeschwerden erkrankt und zur Zeit nicht arbeitsfähig sei. Der vom Sozialgericht (SG) gehörte ärztliche Sachverständige Dr. L... hat sich dem Gutachten der Orthopädischen Universitätsklinik angeschlossen. Das SG hat am 24. Februar 1955 die Klage abgewiesen.

Die Berufung des Klägers hatte Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 6. Dezember 1957 die Entscheidung des SG sowie den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger über den 1. März 1954 hinaus eine Dauerrente nach einer MdE von 50 v.H. zu zahlen: Unter einer Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei in erster Linie eine Besserung der Unfallfolgen dem Befunde nach zu verstehen. Eine solche Besserung sei zur Zeit des angefochtenen Bescheids im Vergleich zur erstmaligen Dauerrentenfestsetzung Mitte 1951 nicht eingetreten. Eine anderweitige Einschätzung der MdE bei gleichbleibendem Befund, worauf das Vorgeher der Beklagten letztlich hinauslaufe, genüge bei einer Neufeststellung der Dauerrente nicht. Die Gutachter, die jetzt eine Gewöhnung und Anpassung des Klägers an die Unfallfolgen annähmen, gingen bei ihrer Ansicht, derartige Umstände ließen die Neufeststellung einer Dauerrente zu, von falschen rechtlichen Voraussetzungen aus. Deshalb sei ihre Ansicht für die richterliche Überzeugung nicht maßgebend. Überdies sei es angesichts des vertrauensärztlichen Gutachtens vom 29. Dezember 1953 immerhin zweifelhaft, ob von Anpassung und Gewöhnung an die Unfallfolgen die Rede sein könne, da der Kläger damals wegen Stumpfbeschwerden arbeitsunfähig geschrieben worden sei. Wenn beim Kläger außerdem im Oktober 1952 - wie das seinerzeit drei Jahre nach dem Unfall erstattete Gutachten der Heidelberger Klinik besage - keine Anpassung und Gewöhnung eingetreten sei, so sei das auch für später unwahrscheinlich. Jedenfalls sei die Zeitspanne zwischen dem Gutachten vom Oktober 1952 und demjenigen vom Dezember 1953 zu kurz, um eine ins Gewicht fallende Änderung anzunehmen. Bei anders gearteten Unfallfolgen - z.B. Hand-, Finger- oder Augenverletzungen - werde im übrigen die Anpassung und Gewöhnung eine größere Rolle spielen als im vorliegenden Fall. Man werde daher, selbst wenn man Anpassung und Gewöhnung bei Anwendung des § 608 RVO gelten lasse, dem Rentenherabsetzungsbescheid nicht beipflichten können. Besonders sei noch zu berücksichtigen, daß der Kläger nach seiner von der Beklagten nicht bestrittenen Darstellung in seiner Tätigkeit noch genauso behindert sei wie früher. Die Beklagte habe nichts vorgetragen, was dafür spreche, daß der Kläger nunmehr bestimmte Arbeiten verrichten könne, zu denen er vorher nicht imstande war; deshalb erübrigten sich in dieser Hinsicht weitere Ermittlungen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 17. März 1958 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14. April 1958 Revision eingelegt und sie zugleich begründet. Sie rügt Verletzung des § 608 RVO und beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision.

Er pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.

Beide Beteiligte haben sich damit einverstanden erklärt, daß gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) über die Revision durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden wird.

II

Die Revision ist statthaft und zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG). Sie hatte auch Erfolg.

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Berufung des Klägers nicht durch § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen war. Denn von der Entscheidung über die streitige Neufeststellung der Dauerrente hing die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers ab. Diesen Begriff hat der erkennende Senat entsprechend dem materiellen Unfallversicherungsrecht ausgelegt, demnach ist die Berufung nicht durch § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen, wenn das Erreichen der 50 v.H.-Grenze (§ 559 b RVO) von der umstrittenen MdE abhängt. Eine etwa neben den Unfallfolgen noch bestehende Kriegsbeschädigung des Klägers wäre also insoweit ohne Bedeutung (vgl. SozR SGG § 145 Bl. Da 3 Nr. 5).

Gegen die Feststellung des LSG, im objektiven Befund der Verletzungsfolgen sei zur Zeit des angefochtenen Bescheids keine Besserung nachweisbar, hat die Revision keine Einwände geltend gemacht. Sie rügt jedoch mit Recht den vom LSG vertretenen Standpunkt zu der Frage, welche Bedeutung einer Anpassung oder Gewöhnung des Verletzten an die Unfallfolgen bei Anwendung des § 608 RVO zukommt. Aus den Darlegungen des angefochtenen Urteils zu dieser Frage geht nicht klar hervor, ob das LSG die Gewöhnung im Rahmen des § 608 RVO überhaupt nicht berücksichtigen will oder ihr - wenn auch unter erheblichen Einschränkungen - doch wenigstens eine zweitrangige Bedeutung einräumt. So heißt es im angefochtenen Urteil einerseits, unter einer Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO sei "in erster Linie" eine Änderung im Befund der Verletzungsfolgen zu verstehen; diese Ausdrucksweise erlaubt den Schluß, daß das LSG daneben in zweiter Linie auch eine Anpassung oder Gewöhnung als eine solche Änderung ansieht. Andererseits bemerkt das LSG jedoch, die Annahme, daß eine Gewöhnung an Unfallfolgen ohne Befundänderung die Neufeststellung einer Dauerrente zulasse, beruhe auf "falschen rechtlichen Voraussetzungen". Welchen dieser beiden widersprüchlichen Standpunkte das LSG seiner Entscheidung zugrunde legen wollte, geht aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe nicht eindeutig hervor.

Der Auffassung des LSG, für die Neufeststellung einer Dauerrente auf Grund des § 608 RVO genüge nicht lediglich eine anderweitige Einschätzung der MdE bei gleichbleibendem Befund, ist allerdings grundsätzlich beizupflichten. Unbeschadet dieses Grundsatzes kann jedoch nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (SozR RVO § 608 Bl. Aa 1 Nr. 3, ferner Urteil vom 27.4.1961 - 2 RU 277/56 -) eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO auch bei gleichbleibendem medizinischen Befund in der Anpassung oder Gewöhnung des Verletzten an die Unfallfolgen erblickt werden. Der Senat hat sich damit der schon lange anerkannten Auffassung angeschlossen, daß nach der Lebenserfahrung die Erwerbsfähigkeit eines Unfallverletzten auch bei an sich irreparablen Körperschäden sich dadurch erhöhen kann, daß im Laufe der Zeit der Verletzte größere Geschicklichkeit im Gebrauch der geschädigten Körperteile erlangt. Das angefochtene Urteil trägt - einerlei wie sein grundsätzlicher Ausgangspunkt in dieser Frage zu deuten sein mag - diesen Umständen offensichtlich allgemein nicht genügend Rechnung. Darüber hinaus erscheinen auch die Darlegungen im einzelnen in mehrfacher Hinsicht nicht frei von Bedenken.

Zwar hängt auch nach Ansicht des erkennenden Senats (a.a.O.) die Beurteilung der Frage, ob Anpassung oder Gewöhnung eingetreten ist, in der Regel nicht ausschließlich von medizinischer Sachkunde ab, vielmehr gehört dazu auch eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse des Verletzten durch das Gericht, das hierbei auch außermedizinische Erkenntnisse zu berücksichtigen hat. Zu diesem, unter Umständen ohne Hinzuziehung ärztlicher Sachverständiger zu beurteilenden Fragenkreis gehört aber nach Ansicht des Senats nicht die Prüfung, ob bei gewissen Unfallfolgen ihrer Art nach die Möglichkeit von Anpassung oder Gewöhnung schlechthin ausgeschlossen ist. Das LSG hat ausgeführt, bei Beinamputationen könne eine Gewöhnung nicht im gleichen Maße beobachtet werden wie z.B. bei Hand-, Finger- oder Augenverletzungen. Es ist nicht ersichtlich, woher das LSG diesen überwiegend medizinisch geprägten Erfahrungssatz gewonnen hat, jedenfalls hat keiner der in diesem Verfahren gehörten Sachverständigen sich in diesem Sinne geäußert; nach Meinung des Senats ist dieser Satz auch sonst nicht hinreichend fundiert.

Unter Hinweis auf das vertrauensärztliche Gutachten vom 29. Dezember 1953 hat das LSG es als "immerhin zweifelhaft" bezeichnet, ob von einer Anpassung oder Gewöhnung des Klägers an die Unfallfolgen die Rede sein könne. Abgesehen davon, daß das LSG hiermit die entscheidende Frage letztlich offengelassen hat, läßt das angefochtene Urteil auch nicht hinreichend erkennen, ob das vertrauensärztliche Gutachten vom 29. Dezember 1953 überhaupt in seinem vollen Umfange geprüft und gewürdigt worden ist. Ähnliches gilt von der Erwägung des LSG, die Zeitspanne zwischen dem Gutachten der Orthopädischen Universitätsklinik vom Oktober 1952 und demjenigen vom Dezember 1953 sei zu kurz, um eine ins Gewicht fallende Gewöhnung annehmen zu können. Hierbei hat das LSG nicht hinreichend berücksichtigt, daß die Klinik in ihrem Gutachten vom 29. Oktober 1952 nur zu der Frage Stellung zu nehmen brauchte, ob bei dem Kläger, der damals die erste Festsetzung der Dauerrente mit 50 v.H. als zu niedrig beanstandete, eine höhere MdE anzuerkennen war; ferner hat das LSG übersehen, daß dieses Gutachten nicht auf einer gleichzeitigen Nachuntersuchung des Klägers beruhte, sondern daß der Kläger nach den im Gutachten gemachten Angaben sich letztmalig am 3. Januar 1952 in der Orthopädischen Universitätsklinik H.-S. vorgestellt hatte. Die Schlußfolgerung des LSG, die Zeitspanne von Oktober 1952 bis Dezember 1953 erscheine für die Annahme einer Gewöhnung des Klägers zu kurz, ermangelt demnach bereits ausreichender tatsächlicher Grundlagen; es bedurfte daher keiner Prüfung, ob der Beginn dieser Zeitspanne nicht vielmehr auf den Zeitpunkt des ersten Dauerrentenbescheids (27.10.1951) oder gar - wie die Revision meint - des Unfalls anzusetzen wäre.

Die Bezugnahme auf theoretische Erwägungen an Stelle einer eingehenden Ermittlung und Würdigung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse des Klägers reicht nicht aus, um mit dem LSG die Klage als begründet anzusehen. Eine möglicherweise insoweit unzulängliche Mitwirkung der Beklagten an der Klärung dieser Umstände durfte das LSG nicht veranlassen, in dieser Richtung von den erforderlichen Ermittlungen abzusehen (vgl. SozR SGG § 128 Bl. Da 24 Nr. 35). Auf die hiernach begründete Revision der Beklagten war das angefochtene Urteil aufzuheben. Da die bisherigen Feststellungen eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst nicht ermöglichen, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Dieses wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung zunächst zu prüfen haben, ob aus den vorliegenden ärztlichen Gutachten greifbare Merkmale einer Anpassung oder Gewöhnung des Klägers zur Zeit der Bescheiderteilung zu ersehen sind oder ob darin lediglich "schablonenhaft" der abstrakte Begriff der Gewöhnung zitiert wird. Neben der bisher unterbliebenen tatrichterlichen Würdigung dieser Frage bedarf es einer Prüfung der - unter Umständen noch ergänzungsbedürftigen - Angaben, die der Arbeitgeber des Klägers über dessen Einsatzfähigkeit und Belastbarkeit bei der Arbeit gemacht hat; in dieser Hinsicht kommt zunächst vor allem die in den Akten der Beklagten enthaltene Auskunft der Firmengemeinschaft Kögel-Holzmann vom 8. Oktober 1953 in Betracht.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2308654

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