Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 10.12.1992)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Dezember 1992 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Zwischen den Beteiligten ist im Revisionsverfahren noch umstritten, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1989 für die Zeit vom 20. März 1989 (Ende der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit) bis 25. April 1989 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 vH zu gewähren, wenn der „Stütztatbestand” aus dem ersten Arbeitsunfall vom 7. Dezember 1987 mit einer MdE um 10 vH nicht mehr über die 13. Woche nach dem zweiten Unfall hinaus andauert.

Der im Jahre 1937 geborene Kläger erlitt am 7. Dezember 1987 einen Arbeitsunfall (Schlüsselbeinbruch sowie Frakturen zweier Rippen), für dessen Folgen die Beklagte für die Zeit vom 7. März bis 31. Dezember 1988 eine vorläufige Rente in Form einer Gesamtvergütung nach einer MdE um 20 vH gewährte (Bescheid vom 16. September 1988 und Bescheid vom 25. April 1989 idF des Widerspruchsbescheids vom 16. November 1989).

Während des hiergegen gerichteten Klageverfahrens erlitt der Kläger am 23. Februar 1989 einen weiteren Arbeitsunfall (Absturz in einer Scheune mit diversen Prellungen), für dessen Folgen die Beklagte eine Gewährung von Verletztenrente ablehnte (Bescheid vom 24. November 1989).

Das Sozialgericht (SG) hat das Begehren des Klägers, ihm wegen der Folgen der Arbeitsunfälle vom 7. Dezember 1987 und 23. Februar 1989 Verletztenrente nach einer MdE um jeweils 20 vH zu gewähren, abgewiesen (Urteil vom 7. August 1990). Im Berufungsverfahren hat nach Beweisaufnahme die Beklagte sich im Vergleichswege bereit erklärt, für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. Dezember 1987 für die Zeit vom 23. Februar 1989 (Tag des weiteren Arbeitsunfalls) bis 25. April 1989 (Ende der unfallbedingten MdE) eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH zu zahlen. Für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1989 könne keine dem MdE-Grad von 10 vH entsprechende Teilrente gewährt werden, weil über die 13. Woche nach dem Unfall (den 25. Mai 1989) hinaus eine zu entschädigende, dh durch die Folgen des Unfalls vom 7. Dezember 1987 gestützte MdE nicht mehr bestanden habe. Der Kläger hat dieses Vergleichsangebot nicht angenommen. Die Beklagte hat daraufhin beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen, soweit sie über ihr Vergleichsangebot hinausgehe.

Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. Dezember 1987 für die Zeit vom 23. Februar bis 25. April 1989 und wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1989 für die Zeit vom 20. März bis 25. April 1989 Verletztenrenten nach einer MdE um jeweils 10 vH zu gewähren. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 10. Dezember 1992). Das LSG ist zu dem Ergebnis gelangt, wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. Dezember 1987 ergebe sich für die Zeit nach dem 31. Dezember 1988 eine MdE lediglich aufgrund des neurologischen Befundes von allenfalls 10 vH bis zum 25. April 1989. Die weiteren beim Kläger festgestellten Gesundheitsstörungen seien nicht unfallbedingt. Damit stehe dem Kläger – entsprechend dem Vergleichsangebot der Beklagten – für die Folgen dieses Unfalls für die Zeit vom 23. Februar 1989 (Eintritt des weiteren Arbeitsunfalls) bis zum 25. April 1989 Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH zu. Der Arbeitsunfall vom 23. Februar 1989 habe nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit ab 20. März 1989 zu einer MdE um 10 vH geführt, die bis Februar 1991 vorgelegen habe. Für die Folgen dieses Arbeitsunfalls sei ebenfalls Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH für die Zeit nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit vom 20. März bis 25. April 1989 zu gewähren. Zwar sei nach § 580 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) Voraussetzung für die Gewährung von Rente, daß die zu entschädigende MdE über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauere. Ein Rentenanspruch bestehe allerdings nicht, wenn die MdE von 10 vH wegen des zweiten Unfalls nicht über die 13. Woche hinaus vorliege. Welche MdE indessen zu entschädigen sei, richte sich nach § 581 RVO. Danach habe die MdE wegen der Folgen des Unfalls vom 23. Februar 1989 ab 20. März 1989 10 vH betragen. Damit habe von diesem Zeitpunkt an bis zum 25. April 1989 eine zu entschädigende MdE vorgelegen, da für diesen Zeitraum die Voraussetzungen des § 581 Abs 3 RVO erfüllt gewesen seien. Das weitere gesetzliche Erfordernis, wonach Verletztenrente nur bei einer zu entschädigenden MdE über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus gewährt werden könne, sei ebenfalls erfüllt, weil eine meßbare MdE um 10 vH bis Februar 1991 vorgelegen habe. Damit seien alle Voraussetzungen für eine sogenannte Stützrente für die Zeit vom 20. März bis 25. April 1989 erfüllt.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung, auch für die Folgen des Unfalls vom 23. Februar 1989 Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH zu gewähren. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe eine meßbare (10 %ige) einer „zu entschädigenden” MdE gleichgesetzt. Eine MdE, für die Verletztenrente zu gewähren sei, liege jedoch erst vor, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert sei oder die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert sei und die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichten. Eine „zu entschädigende” MdE, dh insgesamt 20 %ige MdE habe hier nur bis einschließlich 25. April 1989 bestanden (je 10 vH aus den Unfällen von 1987 bis 1989). Ab 26. April 1989 sei nur noch eine MdE von 10 vH aus dem Unfall vom 23. Februar 1989 verblieben. Diese habe zwar über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus (bis Februar 1991) angedauert, reiche für sich allein jedoch für die Zahlung einer Rente nicht, weil kein „zu entschädigender” MdE-Grad mehr erreicht werde.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Dezember 1992 aufzuheben und nach dem von ihr gestellten Antrag der 2. Instanz gemäß zu entscheiden.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. Dezember 1987 für die Zeit vom 23. Februar bis 25. April 1989 eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH zu gewähren. Gegen diesen – dem Vergleichsvorschlag der Beklagten vom 7. Oktober 1991 entsprechenden – Rentenanspruch des Klägers erhebt die Beklagte keine Einwendungen, wie ihrem Revisionsantrag unter Bezugnahme auf den zweitinstanzlich gestellten Antrag und ihrer Revisionsbegründung zu entnehmen ist.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß die Beklagte auch verpflichtet ist, für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1989 für die Zeit vom 20. März bis 25. April 1989 eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH zu zahlen. Entgegen der Auffassung der Revision ist für den Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen dieses – zweiten – Arbeitsunfalls mit einer MdE von 10 vH nicht erforderlich, daß der „Stütztatbestand” (MdE 10 vH) aus dem früheren Arbeitsunfall über die 13. Woche nach dem zweiten Arbeitsunfall hinaus andauert.

Nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO wird eine Verletztenrente grundsätzlich nur dann gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel, also um 20 vH gemindert ist. Abweichend von diesem Grundsatz ist nach § 581 Abs 3 RVO in den Fällen, in denen die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge mehrerer Arbeitsunfälle gemindert und die Hundertsätze der durch die einzelnen Arbeitsunfälle verursachten MdE zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen, für jeden, auch einen früheren Arbeitsunfall, Verletztenrente zu gewähren. Diese Ausnahmeregelung von dem in § 581 Abs 1 Nr 2 RVO festgelegten Grundsatz hat den Sinn und Zweck, Unbilligkeiten zu vermeiden, die sich aus einer Anhäufung von Folgen aus mehreren Unfällen geringfügiger Art, also mit einer MdE um weniger als 20 vH ergeben können (BSGE 28, 71, 72). Eine Verletztenrente wegen derartiger Unfallfolgen ist nur dann zu gewähren, wenn die Voraussetzungen des § 580 Abs 1 RVO erfüllt sind. Daher können bei Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 581 Abs 3 RVO, die die durch mehrere kleinere Arbeitsunfälle geschädigten Versicherten begünstigen will, deren Erwerbsfähigkeit insgesamt um wenigstens ein Fünftel gemindert ist, auch nur solche Unfälle berücksichtigt werden, die für sich allein betrachtet – also abgesehen von dem Grad der MdE – geeignet sind, den Anspruch auf eine Verletztenrente zu begründen. Von diesem Grundsatz ausgehend hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, daß wegen eines früheren Arbeitsunfalls mit einer MdE um wenigstens 10 vH beim Eintritt eines weiteren Arbeitsunfalls Verletztenrente nach § 581 Abs 3 Satz 1 und 2 RVO nur dann zu gewähren ist, wenn die durch diesen – zweiten – Unfall verursachte MdE um wenigstens 10 vH über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus andauert (BSGE 28, 71, 72/73; 32, 191, 193; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 570m mwN). Dementsprechend hatte sich im vorliegenden Fall die Beklagte in ihrem Vergleichsangebot vom 7. Oktober 1991 bereit erklärt, wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 7. Dezember 1987 für die Zeit vom 23. Februar bis 25. April 1989 Verletztenrente nach einer MdE um 10 vH zu zahlen.

Dieser Rechtsprechung ist jedoch nicht zu entnehmen, daß für die Gewährung einer Verletztenrente nach § 581 Abs 3 Satz 1 und 2 RVO wegen der Folgen des zweiten Arbeitsunfalls nach einer MdE um ebenfalls 10 vH die Hundertsätze der durch die beiden Arbeitsunfälle verursachten MdE für die Dauer von mehr als 13 Wochen nach dem zweiten Arbeitsunfall zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen müßten. Entscheidend ist allein, ob beide Unfälle für sich allein betrachtet – also abgesehen vom Grad der MdE – geeignet sind, den Anspruch auf eine Verletztenrente zu begründen. Dies bedeutet für den Anspruch nach § 581 Abs 3 RVO, daß für beide Arbeitsunfälle über die 13. Woche nach seinem jeweiligen Eintritt hinaus die MdE mindestens 10 vH betragen haben muß.

Soweit die Revision es unter Bezugnahme auf den Wortlaut des § 580 Abs 1 RVO entscheidend auf das Vorliegen einer entschädigungspflichtigen MdE abstellt, rechtfertigt dies keine andere Entscheidung. Aus § 581 Abs 3 RVO ergibt sich, daß auch eine MdE um 10 vH eine zu entschädigende MdE iS des § 580 Abs 1 RVO ist, wenn sie länger als 13 Wochen andauert und solange sie mit einer MdE um mindestens 10 vH aus einem anderen Unfall iS des § 581 Abs 3 RVO zusammentrifft. Beide Voraussetzungen sind bei beiden Arbeitsunfällen auch vom 20. März bis 25. April 1989 erfüllt.

Entgegen der Ansicht der Beklagten bedeutet dieses Ergebnis nicht, daß analog dazu eine aus einem Arbeitsunfall verbliebene MdE von zunächst 20 vH und vor Ablauf der 13. Woche auf 10 vH gesunkene MdE zu entschädigen wäre, wenn die MdE von 10 vH über die 13. Woche hinaus nach dem Unfall andauere. Auf einen solchen Fall ist die für mehrere Arbeitsunfälle geltende Regelung des § 581 Abs 3 RVO als Ausnahme von dem in § 581 Abs 1 Nr 2 RVO iVm § 580 Abs 1 RVO festgelegten Grundsatz, wonach eine Verletztenrente nur dann gewährt wird, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens 20 vH über die 13. Woche hinaus gemindert ist, nicht anwendbar.

Nach den Feststellungen des LSG haben die Arbeitsunfälle sowohl vom 7. Dezember 1987 als auch vom 23. Februar 1989 eine MdE um wenigstens 10 vH über die 13. Woche hinaus nach dem jeweiligen Eintritt des Arbeitsunfalls hinterlassen: Der Unfall vom 7. Dezember 1987 hatte bis zum 31. Dezember 1988 eine MdE um 20 vH und anschließend bis 25. April 1989 eine MdE um 10 vH zur Folge. Infolge des zweiten Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1989 bestand eine MdE von mindestens 10 vH bis Februar 1991. Damit stützt der vom Kläger am 7. Dezember 1987 erlittene Arbeitsunfall seinen Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. Februar 1989, beginnend mit dem Tage nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit (nach den Feststellungen des LSG vom 20. März 1989) bis zum Wegfall der die Erwerbsfähigkeit mindernden Folgen aufgrund des Arbeitsunfalls vom 7. Dezember 1987 (nach den Feststellungen des LSG am 25. April 1989).

Nach alledem war die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1173582

Breith. 1994, 814

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