Leitsatz (amtlich)

1. Hat das Berufungsgericht trotz Vorliegens "erheblicher Gründe" (ZPO § 227 in Verbindung mit SGG § 202) den Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung abgelehnt und dadurch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt, so liegt in der Ablehnung des Verlegungsantrags ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2.

2. Ein "erheblicher Grund" liegt vor, wenn der Beteiligte - zumal bei Abkürzung der Ladungsfrist - unter Berücksichtigung seines Krankheitszustands nicht in der Lage war, den Termin zur mündlichen Verhandlung vorzubereiten, insbesondere seinen Prozeßbevollmächtigten hinreichend zu informieren.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 110 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 227 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1950-09-12, Abs. 3 Fassung: 1950-09-12; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 10. Mai 1954 aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Celle zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Gründe

I.

Der im Jahre 1922 geborene Kläger war zuletzt als Wachmann bei einem Wachinstitut versicherungspflichtig beschäftigt; sein Arbeitsverhältnis endete wegen Erkrankung am 28. Februar 1942. Vom 1. Oktober 1941 bis 18. Februar 1942 stand er im Wehrdienst.

Den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Invalidenrente lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt mit Bescheid vom 29. Februar 1952 mit der Begründung ab, daß die Wartezeit nicht erfüllt sei.

Die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid wurde vom Oberversicherungsamt (OVA.) Oldenburg i. O. durch Urteil vom 15. April 1953 zurückgewiesen.

Ein Schreiben des Klägers vom 8. Juni 1953, das an die Beklagte gerichtet war, von dieser an das OVA. Oldenburg i. O. weitergeleitet wurde und dort am 16. Juni 1953 einging, wurde vom OVA. Oldenburg als Berufung gegen das Urteil des OVA. Oldenburg angesehen. Auf eine Anfrage erhielt der Kläger vom OVA. Oldenburg den Bescheid - abgesandt am 30. Oktober 1953 -, daß mit dem 1. Januar 1954 die Landessozialgerichte errichtet würden und die Berufung "diesem Gericht" zwecks Entscheidung zugeleitet würde. Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gab das OVA. die Sache an das Landessozialgericht (LSGer.) Celle ab, das den Rechtsstreit als vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg übergegangene Sache behandelte.

Das LSGer. beraumte unter Abkürzung der Ladungsfrist auf eine Woche Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 10. Mai 1954 an. Der Kläger erhielt die Ladung nebst einer Abschrift der Gegenerklärung der Beklagten am 3. Mai 1954 zugestellt. Mit Schreiben vom gleichen Tage beauftragte der Kläger seinen jetzigen Prozeßbevollmächtigten, Rechtsanwalt N in O, mit seiner Prozeßvertretung. Rechtsanwalt N erhielt den Auftrag am 4. Mai 1954. Mit Schreiben vom 5. Mai 1954 - eingegangen beim LSGer. am 7. Mai 1954 - bat er darum, den Termin zur mündlichen Verhandlung um etwa 14 Tage zu verlegen, weil er bisher keine Gelegenheit gehabt habe, Instruktionen von seinem Mandanten einzuholen; er beantragte ferner, dem Kläger für das Berufungsverfahren das Armenrecht zu bewilligen. Wie aus einem Aktenvermerk des Senatsvorsitzenden vom 7. Mai 1954 hervorgeht, wurde Rechtsanwalt N an diesem Tage fernmündlich davon verständigt, daß der Termin nicht verlegt werden könne; gleichwohl hielt Rechtsanwalt N seinen Verlegungsantrag aufrecht.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 10. Mai 1954 erschien für den Kläger niemand. Das Gericht lehnte das Gesuch des Klägers um Bewilligung des Armenrechts durch Beschluß als unzulässig ab und wies die Berufung gegen das Urteil des OVA. Oldenburg vom 15. April 1953 durch Urteil zurück. In den Urteilsgründen ist festgestellt, daß der Kläger zu der mündlichen Verhandlung krankheitshalber nicht erscheinen konnte. Zu dem Verlegungsantrag ist ausgeführt, daß "bei dem klaren Inhalt der Akten keine Veranlassung bestand, auf den Vertagungsantrag einzugehen, da die Sache entscheidungsreif war". Die Revision wurde nicht zugelassen.

Gegen das am 23. Juni 1954 zugestellte Urteil des LSGer. hat der Kläger am 23. Juli 1954 Revision eingelegt mit dem Antrag, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie des zugrundeliegenden Urteils des OVA. Oldenburg vom 15. April 1953 dem Antrag des Klägers vom 10. November 1951 stattzugeben.

Der Kläger hat gerügt, er habe infolge der Ablehnung des Verlegungsantrags nicht die Möglichkeit gehabt, seine Rechte im Verfahren vor dem LSGer. in ausreichendem Maße wahrzunehmen. Der Verlegungsantrag, so macht er geltend, sei schon deshalb begründet gewesen, weil er seinem Prozeßbevollmächtigten aus Krankheitsgründen nicht rechtzeitig habe Instruktionen erteilen können; das LSGer. hätte außerdem berücksichtigen müssen, daß er durch Krankheit gehindert gewesen sei, für sechzig Beitragsmonate die Beiträge zu bezahlen und daß er sich die Krankheit, durch die er erwerbsunfähig geworden sei, bei der Wehrmacht zugezogen habe.

II.

Da das LSGer. die Revision nicht zugelassen hat, hängt die Statthaftigkeit der Revision davon ab, ob der Kläger einen tatsächlich vorliegenden wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Er hat unter diesem Gesichtspunkt vorgetragen, daß er infolge der Ablehnung des Antrags auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung nicht die Möglichkeit gehabt habe, seine Rechte im Berufungsverfahren in ausreichendem Maße wahrzunehmen.

Zu den Grundgedanken, die das Verfahren vor den Sozialgerichten bestimmen, gehört der Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs. 1 SGG). Wenn das Gericht auch im sozialgerichtlichen Verfahren den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat (§ 103 SGG), so behält die mündliche Verhandlung doch auch in diesem Verfahren die vom Gesetzgeber als wesentlich erachtete Aufgabe, den Streitstoff mit den Beteiligten erschöpfend zu erörtern. Die mündliche Verhandlung ist, worauf Peters-Sautter-Wolff (Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand: August 1955, Anm. 1 zu § 124) mit Recht hinweisen, ein Mittel zur Verwirklichung des den Beteiligten verbürgten rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG). Die Beteiligten haben deshalb grundsätzlich ein Recht darauf, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden.

Dieses Wesensmerkmal der mündlichen Verhandlung bestimmt auch die Voraussetzungen, die den Antrag eines Beteiligten auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung zu rechtfertigen vermögen. Nach § 227 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 ZPO kann das Gericht "aus erheblichen Gründen" auf Antrag oder von Amts wegen einen Termin verlegen. Da das SGG in dieser Hinsicht keine Bestimmungen über das Verfahren enthält und grundsätzliche Unterschiede des Zivilprozesses gegenüber dem sozialgerichtlichen Verfahren die entsprechende Anwendung des § 227 ZPO nicht ausschließen, ist § 227 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbar (§ 202 SGG). Das Streben nach Beschleunigung des Verfahrens, wie es in der seit dem 1. Januar 1934 gültigen Fassung des § 227 ZPO zum Ausdruck kommt, kennzeichnet auch das Verfahren vor dem Sozialgericht (vgl. Beschluß des BSGer . vom 11.5.1955 - 6 RKa 13/54). Indessen darf der Grundsatz, daß Verlegungen oder Vertagungen von Terminen mit der vom Gesetz geforderten Beschleunigung des Verfahrens in Einklang zu bringen sind, nicht zu einer Verkümmerung des rechtlichen Gehörs führen (vgl. RG. in JW. 1936 S. 653 und RGZ. 81 S. 321 (324); vgl. auch RVA. in AN. 1911 S. 421). Insofern kann mit Rosenberg (Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 6. Aufl., § 67 IV 2) von einem Recht auf Vertagung gesprochen werden. Wenn erhebliche Gründe vorliegen, so darf ein Termin nicht nur verlegt werden, sondern er ist dann auch zur Sicherung des rechtlichen Gehörs zu verlegen. Das gilt auch, wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält. Der Vortrag eines Beteiligten in der mündlichen Verhandlung kann dazu führen, daß das Gericht entgegen seiner bisherigen, aus dem Akteninhalt gewonnenen Auffassung neue Gesichtspunkte für wesentlich erachtet. Es ist demnach ohne Rücksicht darauf, ob die Sache auf Grund des Akteninhalts entscheidungsreif erscheint, vom Gericht zu prüfen, ob erhebliche Gründe für eine Verlegung des Termins gegeben sind.

Im vorliegenden Streitfall hat der Kläger die Ladung zu dem auf den 10. Mai 1954 anberaumten Termin mit einer Abschrift der Gegenerklärung der Beklagten erst am 3. Mai 1954 erhalten. Nach § 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 110 Satz 1 SGG teilt der Vorsitzende Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mit. Zwar läßt diese Vorschrift zu, daß die regelmäßige Ladungsfrist von zwei Wochen abgekürzt wird. Doch darf diese Abkürzung keinesfalls so weit gehen, daß den Beteiligten nicht mehr Zeit zur sachgemäßen Vorbereitung der Verhandlung bleibt. Hier war zu berücksichtigen, daß der Kläger vor Empfang der Terminsladung in seiner Sache letztmals durch ein Schreiben des OVA. Oldenburg - abgesandt am 30. Oktober 1953 - über den Stand des Verfahrens unterrichtet worden war. Das Schreiben enthielt nur die Mitteilung, daß seine Berufung nach Errichtung der Landessozialgerichte - 1. Januar 1954 - "diesem Gericht" zwecks Entscheidung zugeleitet werden würde. Unter diesen besonderen Umständen kann dem Kläger, dem bis zum Empfang der Ladung nicht bekannt gegeben war, auf welches Landessozialgericht die Sache übergegangen war, kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß er erst ein Tätigwerden des zuständigen LSGer. abwartete, bevor er einen Prozeßbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Vertretung betraute. Das hat er unverzüglich am gleichen Tage getan, an dem er die Ladung erhielt. Die Frist vom 4. Mai bis zum 10. Mai 1954, die dem Prozeßbevollmächtigten zur Vorbereitung des Termins nun noch verblieb, kann in Anbetracht des schweren Leidens des Klägers ( Friedreich'sche Ataxie), das nach der Feststellung des LSGer. sein Erscheinen in der Berufungsverhandlung verhindert hat, nicht als ausreichend angesehen werden. Zur Unterrichtung des Prozeßbevollmächtigten, dessen Kanzlei etwa 30 km vom Wohnort des Klägers entfernt liegt, blieb bei der Art des Leidens des Klägers nur der umständliche und mehr Zeit beanspruchende Weg der mittelbaren Verständigung. Es konnte dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers auch nicht zugemutet werden, die mündliche Verhandlung ohne gründliche Information und Vorbereitung wahrzunehmen, da ohne genaue Kenntnis des Sachverhalts eine sachgemäße Prozeßvertretung des Klägers nicht möglich war. Auch die dem Gericht gegebene Befugnis, im Falle des Ausbleibens von Beteiligten zu verhandeln und zu entscheiden (§ 110 Satz 2 SGG), darf nicht dazu führen, daß der Grundsatz des rechtlichen Gehörs hierbei verletzt wird. Somit lagen "erhebliche Gründe" vor, die den Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung rechtfertigten. Daß die Zurückweisung des Verlegungsantrags nach § 227 Abs. 2 Satz 2 in Verb. mit Abs. 3 ZPO unanfechtbar ist, hindert nicht die Nachprüfung durch das Revisionsgericht, ob die Zurückweisung eine Versagung rechtlichen Gehörs bedeutet.

Der Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der durch Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlichen Rang erhalten hat, stellt einen Mangel dar, der das Verfahren nicht mehr als geeignete Grundlage für die Urteilsfindung erscheinen läßt. Er ist also "wesentlich" im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; für das allgemeine verwaltungsgerichtliche Verfahren ist dies auch ausdrücklich bestimmt (§ 54 Abs. 2 Buchst. c BVerwGerG ).

Das angefochtene Urteil war hiernach aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSGer. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Bei der erneuten Verhandlung wird auch zu prüfen sein, ob die Vorschrift des § 1263 a Abs. 1 Nr. 2 RVO auf das Versicherungsverhältnis des Klägers Anwendung findet.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2373409

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