Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers (§ 104 SGB 10). Einheit des Leistungsgrundes

 

Leitsatz (amtlich)

Der Erstattungsanspruch des Trägers der Sozialhilfe gegen den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht von der Einheitlichkeit des Rechtsgrundes für beide Leistungen abhängig.

 

Orientierungssatz

1. Die in § 1534 RVO aF enthaltene Sonderregelung, daß ein Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegenüber dem Unfallversicherungsträger nur besteht, wenn die Leistungen nach dem BSHG wegen eines Arbeitsunfalles erbracht wurden, ist mit Inkrafttreten der §§ 102 ff SGB 10 weggefallen.

2. Die Einheit des Leistungsgrundes als Voraussetzung für die Erstattungsberechtigung der Sozialhilfeträger nach den §§ 102 ff SGB 10 ist zugunsten eines einheitlichen Erstattungsrechts aller Sozialleistungsträger aufgegeben worden.

 

Normenkette

SGB 10 § 104 Fassung: 1982-11-04; RVO § 1539 Fassung: 1924-12-15, § 1534

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Entscheidung vom 25.11.1985; Aktenzeichen S 69 U 411/84)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Berufsgenossenschaft dem Kläger Sozialhilfeleistungen zu erstatten hat.

Der Kläger gewährte dem Beigeladenen Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG). Während dieser Zeit erlitt der Beigeladene am 15. Juni 1981 einen Arbeitsunfall, welcher auch zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) aus der gesetzlichen Rentenversicherung ab 1. Juli 1981 führte. Der Bescheid der Beklagten über die Bewilligung von Verletztenrente ab 16. Juni 1981 aus der gesetzlichen Unfallversicherung wurde am 25. April 1984 erteilt.

Der Kläger erhielt einen Teil seiner in der Zeit ab dem 16. Juni 1981 erbrachten Leistung von dem Träger der Rentenversicherung erstattet. In dem nunmehr anhängigen Verfahren verlangt er die bis zum 31. Mai 1984 an den Beigeladenen darüber hinaus geleistete Hilfe von der Beklagten zurück, welche die zustehende Nachzahlung von Verletztenrente bisher einbehielt.

Die Beklagte lehnte die mit Schreiben vom 13. Juli 1982 und 8. Mai 1984 geltend gemachte Erstattung mit der Begründung ab, die dem Beigeladenen gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt sei nicht mit Rücksicht auf den Arbeitsunfall gewährt worden.

Das Sozialgericht -SG- (Urteil vom 25. November 1985) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die dem Beigeladenen gewährte und aus der Rentenversicherung nicht erstattete Hilfe insoweit zu ersetzen, als sie bei rechtzeitiger Zahlung der bewilligten Verletztenrente nicht zur Zahlung gelangt wäre. Hierauf habe der Kläger als nachrangig verpflichteter Sozialleistungsträger nach § 104 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch - (SGB X) einen Anspruch. Diese erst am 1. Juli 1983 in Kraft getretene Vorschrift sei hier anzuwenden. Sie verlange keine Einheitlichkeit des Leistungsgrundes, so daß unerheblich sei, ob die Hilfe an den Beigeladenen auch ohne den Arbeitsunfall hätte gezahlt werden müssen. Der Anspruch sei nicht wegen Ablaufs der in § 111 SGB X normierten Ausschlußfrist entfallen; denn diese einjährige Frist habe erst mit Erlaß des Bewilligungsbescheides vom 25. April 1984 zu laufen begonnen, so daß das Schreiben des Klägers vom 8. Mai 1984 vor Fristablauf eingegangen sei. Das SG hat die Sprungrevision zugelassen.

Die Beklagte vertritt im Revisionsverfahren weiterhin die Auffassung, die Einheitlichkeit des Leistungsgrundes von Sozialhilfe und Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung sei ein ungeschriebenes Erfordernis des § 104 SGB X. Das SG habe zudem § 111 SGB X unrichtig angewendet. Jedenfalls die für die Zeit vom 16. bis 30. Juni 1981 gezahlte Hilfe könne nicht erstattet verlangt werden, weil die einjährige Ausschlußfrist am 1. Juli 1981 zu laufen begonnen habe. Im übrigen seien die §§ 104, 111 SGB X überhaupt nur auf Fälle anzuwenden, in welchen der Erstattungsanspruch bei deren Inkrafttreten noch nicht erloschen gewesen sei. Hiervon sei aber für den größeren Teil der Ansprüche wegen der vorher geltenden sechsmonatigen Frist des § 1539 aF der Reichsversicherungsordnung (RVO) auszugehen. Bei Inkrafttreten der §§ 104, 111 SGB X seien die Erstattungsansprüche nur noch für die letzten sechs Monate bestehen geblieben.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. November 1985 - S 69 U 411/84 - aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Mit Recht hat das SG die Beklagte in dem im Urteilstenor näher bezeichneten Umfang zur Erstattung der von dem Kläger in der Zeit vom 16. Juni 1981 bis zum 31. Mai 1984 an den Beigeladenen gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt verurteilt.

Das SG und die Beteiligten gehen zutreffend von der Anwendbarkeit der am 1. Juli 1983 (§ 25 des Gesetzes vom 4. November 1982 - BGBl I, 1450) in Kraft getretenen Vorschriften des Dritten Kapitels (§§ 86 ff) des SGB X aus. Diese sind nach ständiger Rechtsprechung (BSGE 56, 69 ff; 57, 15, 18; BSG SozR 1300, § 102 Nr 1; BSG Urteil vom 30. Januar 1985 - 1/4 RJ 107/83 - jeweils mwN) in noch nicht abgeschlossenen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren anzuwenden. Demzufolge ist im vorliegenden Verfahren zu Recht überprüft worden, ob die Voraussetzungen der allein als Anspruchsgrundlage in Betracht zu ziehenden Vorschrift des § 104 SGB X gegeben sind. Nach ihr hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger, der Sozialleistungen erbracht hat, ohne daß die Voraussetzungen des § 103 Abs 1 SGB X vorliegen, gegenüber dem Leistungsträger einen Erstattungsanspruch, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte. Im vorliegenden Falle ergibt sich die Nachrangigkeit der vom Kläger gewährten Hilfe zum Lebensunterhalt in erster Linie aus § 2 BSHG (s BSGE 56, 69, 72; BSG SozR 1300 § 111 Nr 1); sie ist, worauf das SG richtig hinweist, ferner § 76 Abs 1 BSHG zu entnehmen und folgt schließlich aus § 9 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I). Hiervon gehen auch die Beteiligten aus.

Die Beklagte meint jedoch, daß der Träger der Sozialhilfe nur dann einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X gegen den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hat, wenn er die Unterstützung wegen des Unfalles gewährt hat. Diese Voraussetzung wäre hier nach den konkludenten Feststellungen des SG deshalb nicht gegeben, weil der Beigeladene schon vor dem Arbeitsunfall im Leistungsbezug stand und sich hieran in der Zeit vom 16. Juni 1981 bis zum 31. Mai 1984 ohne den Unfall nichts geändert haben würde. Damit nimmt die Beklagte auf die durch Art II § 3 Nr 1 Buchst a des Gesetzes vom 4. November 1982 aa0 aufgehobene Vorschrift des § 1534 RVO aF Bezug. Nach dieser Vorschrift hatte der Sozialhilfeträger gegenüber dem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung nur dann einen Ersatzanspruch, wenn die Unterstützung infolge des Unfalles gewährt worden war. Diese Norm ist ihrem Inhalt nach nicht in die Regelungen des SGB X übernommen, sondern, wie es in der Begründung des Gesetzes (BT-Drucks 9/95 zu Art II § 3, S 30) heißt, "wegen § 110 SGB X" - jetzt: § 104 SGB X - ersatzlos gestrichen worden. Damit hat der Gesetzgeber die Streichung von § 1534 RVO aF und damit seiner inhaltlichen Regelung bewußt vorgenommen. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, daß er die in § 1539 RVO aF den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung eingeräumte Sonderstellung nicht aufrechterhalten, sondern vielmehr das Erstattungsrecht der Leistungsträger untereinander einheitlich handhaben wollte. Andernfalls hätte der Gesetzgeber nicht lediglich die alte Sonderregelung gestrichen, ohne sie dann inhaltlich in die Neuregelung zu übernehmen (wie hier Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl S 966a). Darüber hinaus zeigt auch der Wegfall des § 1532 RVO aF, daß der Gesetzgeber die Einheit des Rechtsgrundes als Voraussetzung für die Erstattungsberechtigung des Trägers der Sozialhilfe nicht in das SGB X übernehmen wollte. Nach dieser Vorschrift war der Erstattungsanspruch des Sozialhilfeträgers gegenüber der Krankenkasse auf die Hilfe beschränkt, welche für dieselbe Krankheit gewährt worden war. Auch insoweit hat der Gesetzgeber keine einschränkende Sonderregelung in das SGB X übernommen.

Hiervon unabhängig ist allerdings die Frage zu beantworten, ob überhaupt ein Verhältnis des Vor- oder Nachranges besteht, wenn ausschließlich der eine oder der andere Leistungsträger zur Erbringung einer Sozialleistung zuständig und verpflichtet ist (s hierzu BSG SozR 4100 § 105b Nr 4). Diese Frage stellt sich wegen der umfassenden Zuständigkeit des Trägers der Sozialhilfe (§ 1 BSHG) im vorliegenden Fall nicht.

Damit kann, da auch die übrigen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs nach § 104 SGB X gegeben sind, von der Erstattungsverpflichtung der Beklagten grundsätzlich ausgegangen werden.

Die von dem Kläger geltend gemachten Erstattungsansprüche waren im Zeitpunkt der Anmeldung bei der Beklagten (Juli 1982) noch nicht erloschen. Zwar ist im vorliegenden Falle auch die Ausschlußfrist des § 111 SGB X zu beachten, wonach ua der Erstattungsanspruch gem § 104 SGB X ausgeschlossen ist, wenn er nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend gemacht wird. Diese Vorschrift führt hier entgegen der Auffassung der Revision nicht zur Abweisung eines Teiles des geltend gemachten Anspruchs. Bei ihrem Inkrafttreten am 1. Juli 1983 waren die fraglichen Ansprüche bereits von dem Kläger geltend gemacht, so daß von nun an ein Erlöschen des Erstattungsanspruchs ausgeschlossen war (BSG USK 8320). Die Vorschrift des § 111 SGB X ist allerdings entgegen der Annahme der Beklagten nicht rückwirkend in Kraft gesetzt worden, so daß sie nur Fälle erfaßt, in denen im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Vorschrift der Anspruch nicht bereits infolge des Ablaufs der für seine Geltendmachung nach früherem Recht maßgebenden Anmeldefrist ausgeschlossen war (BSG SozR 1300 § 111 Nr 1; BSG Urteil vom 22. April 1986 - 8 RK 44/85).

Auch bei Inkrafttreten des § 111 SGB X am 1. Juli 1983 waren aber die Ansprüche des Klägers noch nicht - teilweise - erloschen. Nach damaligem Recht (§ 1539 RVO aF) war der Ersatzanspruch des Trägers der Sozialhilfe ausgeschlossen, wenn er nicht spätestens sechs Monate nach Ablauf der Unterstützung geltend gemacht wurde. Da jedoch die Hilfe zum Lebensunterhalt des Beigeladenen von seiten des Klägers am 1. Juli 1983 noch nicht "abgelaufen" war, war der Erstattungsanspruch des Klägers auch noch nicht ausgeschlossen. Die Ausschlußfrist des § 1539 RVO aF begann erst mit dem Ende der Unterstützungsgewährung zu laufen und nicht etwa mit dem Ablauf des Zeitraumes, für welchen die Hilfe erbracht werden mußte (BSG SozR RVO § 1539 Nr 3; BSG USK 8320; BSG Urteil vom 15. Juli 1969 - 1 (12) RJ 454/67; RVA An 1920, 415; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 1539 Anm 3 Buchst a).

Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665658

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge