Leitsatz (redaktionell)

Ergibt sich durch die fiktive Nachversicherung nach G131 § 72, daß der Versicherte Wanderversicherter in der Arbeiterrentenversicherung und in der Angestelltenversicherung geworden ist, dann kann er durch "Verzicht" auf die Rechte aus der Angestelltenversicherung die Rentenanträge auf den Versicherungszweig der Arbeiterrentenversicherung beschränken, wenn dies eine Minderung der Rente beseitigt.

 

Normenkette

G131 § 72 Fassung: 1951-05-11

 

Tenor

Auf die Revision der Kläger werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. März 1965 und des Sozialgerichts Schleswig vom 9. März 1964 sowie die drei Ergänzungsbescheide der Beklagten vom 7. Mai 1963 aufgehoben. Die drei Bescheide der Beklagten vom 24. September 1962 werden aufgehoben, soweit sie Widerrufsvorbehalte enthalten.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob bei der Berechnung der Versichertenrente des 1962 gestorbenen Versicherten und der Hinterbliebenenrenten der Kläger eine fiktive Nachversicherungszeit nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen (G 131), die die Rente mindert, zu berücksichtigen ist.

Der am 14. Juni 1962 gestorbene Versicherte, Ehemann und Vater der Kläger, war vom 1. Juli 1935 bis zum 8. Mai 1945 Berufssoldat. Er war vorher als Waagenschlosserlehrling und -geselle und nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft bis März 1962 als Waagenmonteur arbeiterrentenversicherungspflichtig beschäftigt. Am 7. Juni 1962 beantragte er bei der Beklagten Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Kläger beantragten am 26. Juni 1962 Hinterbliebenenrenten. Die Klägerin zu 1) beantragte am 3. September 1962 beim Pensionsamt Schleswig-Holstein die Erteilung einer Bescheinigung über die Nachversicherung des Versicherten auf Grund des § 72 G 131.

Die Beklagte bewilligte mit drei vorläufigen Bescheiden vom 24. September 1962 die Versichertenrente für die Zeit vom 1. März bis 30. Juni 1962 in Höhe von monatlich 445,10 DM und mit Wirkung vom 1. Juli 1962 an Witwenrente in Höhe von monatlich 210,20 DM und Waisenrente in Höhe von zusammen monatlich 165,- DM. Die Bescheide enthielten übereinstimmend folgenden Zusatz:

"Wir bitten Sie um Übersendung der Bescheinigung über die Nachversicherung, sobald diese vom Pensionsamt durchgeführt ist. Wir werden dann eine Neuberechnung vornehmen und einen Ergänzungsbescheid erteilen. Sollte sich hierdurch eine Minderung der Rente ergeben, sind wir gehalten, evtl. überzahlte Beträge zurückzufordern".

Das Pensionsamt Schleswig-Holstein bescheinigte mit Bescheid vom 28. September 1962, daß die Klägerin zu 1) zum Personenkreis des Art. 131 GG gehöre sowie keinen Anspruch und keine Anwartschaft auf Alters- und Hinterbliebenenversorgung nach dem G 131 habe, ferner daß der Versicherte vom 1. Juli 1935 bis 8. Mai 1945 Beschäftigungszeiten im öffentlichen Dienst abgeleistet habe, die für die Nachversicherung nach § 72 G 131 in Betracht kämen, und daß er während dieser Zeit nachstehende pauschalierte Bruttoarbeitsentgelte erzielt habe: Vom 1. Juli bis 31. Dezember 1935 600,- RM, von 1936 bis 1943 jährlich 1.200,- RM, 1944 1.500,- RM und vom 1. Januar bis 8. Mai 1945 853,- RM. Der Bescheid des Pensionsamts wurde nicht angefochten.

Die für die Nachversicherung zuständige Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) übernahm die in dem Bescheid des Pensionsamtes angegebenen Bruttoarbeitsentgelte in ihre Beitragsaufstellung und übermittelte diese der Beklagten. Die Beklagte berechnete nunmehr die Renten unter Einbeziehung der fiktiven Nachversicherungszeit neu und setzte mit den angefochtenen drei Ergänzungsbescheiden vom 7. Mai 1963 rückwirkend die Versichertenrente auf 395,60 DM, die Witwenrente auf 180,50 DM und die Waisenrente auf zusammen 155,- DM fest.

Die Kläger haben dazu erklärt, die Renten müßten ohne Berücksichtigung der Nachversicherungszeit berechnet werden. Die Minderung der Renten widerspreche dem Sinn und Zweck der Nachversicherungsfiktion des § 72 G 131; diese sei als Rechtswohltat gedacht.

Vor dem Sozialgericht (SG) haben die Kläger die Aufhebung der Ergänzungsbescheide beantragt. Das SG hat die Klagen abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 9. März 1964).

Die Kläger haben mit der Berufung u.a. noch geltend gemacht, die Rentenansprüche aus der Nachversicherung müßten gesondert festgestellt und die sich dabei ergebenden Beträge zusätzlich zu den in den Bescheiden vom 24. September 1962 festgesetzten Rentenbeträgen gewährt werden. Sie haben sinngemäß beantragt, das Urteil des SG aufzuheben und die drei Ergänzungsbescheide der Beklagten vom 7. Mai 1963 zu ändern sowie die Beklagte zu verurteilen, ihnen unter Anrechnung der nachversicherten Zeit höhere Renten zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 19. März 1965). Es hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, die Beklagte habe sich in den Bescheiden vom 24. September 1962 wirksam deren Widerruf vorbehalten; es komme darin klar zum Ausdruck, daß die endgültige Rentenfeststellung erst nach Übersendung der Bescheinigung des Pensionsamts über die Nachversicherung erfolgen könne. Der Widerrufsvorbehalt sei zulässig gewesen, da ein Anspruch der Kläger auf Erlaß dieser Bescheide nicht bestanden habe, solange die Renten noch nicht endgültig feststellbar gewesen seien. Dies habe erst geschehen können, nachdem das Pensionsamt seinen Bescheid vom 28. September 1962 erteilt und die BfA (§ 72 Abs. 2 Satz 3 G 131) ihre Beitragsaufstellung der Beklagten übermittelt habe. Die endgültige Rentenfeststellung in den Bescheiden vom 7. Mai 1963 lasse keine Fehler erkennen. In die Berechnung hätten alle vom Versicherten zurückgelegten Versicherungs- und Ausfallzeiten einschließlich der in den Bescheiden vom 24. September 1962 noch nicht berücksichtigten Nachversicherungszeit einbezogen werden müssen; denn durch die Fiktion der Nachversicherung gemäß § 72 Abs. 1 und 2 Satz 3 G 131 sei der Versicherte als ehemaliger Berufssoldat so gestellt, als ob für ihn Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung während der genannten Zeit, in der er Soldat war, entrichtet worden wären. Die BfA und die Beklagte seien an den Bescheid des Pensionsamtes gebunden gewesen. Zwar habe die fiktive Nachversicherung nach altem Recht die Rente nur erhöhen können. Die Neufassungen des § 72 Abs. 6 G 131 vom 11. September 1957 und vom 21. August 1961 stellten es aber für die Gewährung von Leistungen nur auf das geltende Recht ab (Vergleich mit der Fassung des § 72 Abs. 6 Satz 2 vom 1. September 1953).

Die Kläger haben Revision eingelegt und beantragen,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Urteils des Sozialgerichts Schleswig vom 9. März 1964 sowie der drei Ergänzungsbescheide der Beklagten vom 7. Mai 1963 die Beklagte zu verurteilen, ihnen höhere Renten unter Anrechnung der Nachversicherungszeit zu gewähren.

Sie haben zur Begründung ausgeführt, vom Ergebnis her könne das angefochtene Urteil nicht richtig sein, es verletze ihre Rechtsüberzeugung auf das gröblichste; ergebe sich infolge eines "Fehlers der Gesetzgebung" durch die Nachversicherung eine Minderung der Rente, so müsse der Versicherte auf die Rechte aus der Nachversicherung verzichten können. Falls ein Verzicht nicht in Betracht komme, müsse die Zeit der fiktiven Nachversicherung bei der Rentenberechnung gesondert berücksichtigt werden oder es müsse entsprechend § 1402 Abs. 2 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für diese Zeit ein Mindest-Monatsgehalt von 150,- DM zugrunde gelegt werden.

Die Beklagte beantragt, die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 19. März 1965 zurückzuweisen. Sie ist der Auffassung, ein solcher Verzicht auf die Nachversicherung sei nicht möglich, weil er dem Verzicht auf die Berücksichtigung tatsächlich entrichteter Beiträge gleichstände. Dies sei aber nicht zulässig, wie sich aus den §§ 1253, 1254, 1255 Abs. 1 und 3 RVO ergebe. Für die gesonderte Berechnung einer Rentenleistung aus den Nachversicherungszeiten fehle jegliche gesetzliche Grundlage. Für eine entsprechende Anwendung des nur für die Nachversicherung nach § 1232 RVO geltenden § 1402 Abs. 2 RVO auf die Nachversicherung nach § 72 G 131 sei kein Raum, da für die letztere eine spezielle Regelung bestehe (Hinweis auf Nr. 9 Abs. 2 Ziff. 5 der Verwaltungsvorschriften zur Durchführung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften (§§ 72 bis 74) des G 131, zu § 72 G 131, wonach bei Berufssoldaten ... für die Zeit des jeweils innegehabten Dienstgrades der Bruttoarbeitsentgelt ... aus den den Verwaltungsvorschriften beigegebenen Übersichten zu entnehmen sei).

Das beigeladene Pensionsamt hält ebenfalls die Revision nicht für begründet.

II

Die Revision der Kläger ist begründet.

Der Widerrufsvorbehalt in den Bescheiden vom 24. September 1962 allerdings ist wirksam; denn die Beklagte war zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Bescheide noch nicht verpflichtet, über die erhobenen Rentenansprüche zu entscheiden, weil der Sachverhalt - das Versicherungsleben des Versicherten - noch nicht in vollem Umfang festgestellt war und auch noch nicht festgestellt werden konnte. Die Bescheinigung des Pensionsamtes, ob und für welche Zeit und in welchem Umfang der Versicherte als nachversichert gelte, stand noch aus.

Es trifft auch zu, daß ein Versicherter oder seine Hinterbliebenen für die Rentenberechnung nach den §§ 1253, 1254 RVO nicht auf die Berücksichtigung von "anrechnungsfähigen Versicherungszeiten" (§ 1250 Abs. 1 RVO) bei der Ermittlung der Anzahl der "anrechnungsfähigen Versicherungsjahre" (§ 1258 Abs. 1 RVO und nicht auf die Berücksichtigung der der Beitragsentrichtung zugrundeliegenden Bruttoarbeitsentgelte für die Feststellung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage (§ 1255 Abs. 1 und 3 RVO) verzichten können. Eine Ausnahme hiervon besteht für die Rentenberechnung aber, abgesehen von der Behandlung der Pflichtbeiträge der ersten 5 Kalenderjahre seit Eintritt in die Versicherung und der Inflationsbeiträge (§ 1255 Abs. 4 und 7 RVO), bei der Wanderversicherung, wie sie hier vorliegt, weil der Versicherte, der im übrigen Versicherungszeiten in der Arbeiterrentenversicherung zurückgelegt hat, gemäß § 72 G 131 als Berufssoldat als in der Angestelltenversicherung nachversichert galt. Bei der Wanderversicherung kann nämlich der Leistungsantrag auf einzelne Versicherungszweige beschränkt werden (§ 1310 Abs. 1 Satz 2 RVO). Mit dem auf Leistungen aus einem Versicherungszweig beschränkten Rentenantrag bezweckt der Wanderversicherte, seine Versicherung in dem anderen Versicherungszweig auszuschalten, wenn die Berücksichtigung der letzteren Versicherung bei einer Gesamtleistung zu einer ungünstigeren Rente führt als die Versicherung in dem einen Versicherungszweig. Wird der Rentenantrag beschränkt, so gelten nicht die Vorschriften über die Berechnung der Leistung als Gesamtleistung (§ 1310 Abs. 2 bis 7 RVO). Dies bedeutet, daß bei der Feststellung der für die Rentenberechnung rechtserheblichen Merkmale die Versicherung in dem anderen Versicherungszweig außer Betracht bleibt. Versicherungszeiten in dem anderen Versicherungszweig können dann aber nicht die Berechnung in dem einen Versicherungszweig beeinflussen. Die Berechnung der Rente ist so vorzunehmen, als ob der Versicherte nicht in verschiedenen Versicherungszweigen, sondern nur in dem einen Versicherungszweig versichert gewesen wäre.

§ 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO steht nicht entgegen. Die Stellung dieser Vorschrift in der RVO betrifft die Anrechnung von Zeiten als Ersatzzeiten in der Arbeiterrentenversicherung, wenn deren Voraussetzungen (Versicherung vorher, keine Versicherungspflicht während der Ersatzzeit) in der Arbeiterrentenversicherung gegeben sind. Anders als in sonstigen Vorschriften der RVO wird für die Rentenberechnung in § 1251 Abs. 2 RVO nicht auf eine Versicherungspflicht in anderen Versicherungszweigen hingewiesen, wie etwa bei der Versicherungsfreiheit von Altersruhegeldempfängern in § 1229 Abs. 1 Nr. 1 RVO oder bei der Anrechnung von Renten aus den verschiedenen Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherungen nach § 1241 Abs. 3 RVO. § 72 Abs. 10 G 131 besagt für das Verhältnis von fiktiver Nachversicherungszeit und Ersatzzeit nichts anderes als § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO für das Verhältnis von Versicherungspflicht (§ 1227 RVO) zu den in § 1251 Abs. 1 RVO genannten Zeiten. Eine Erstreckung auf andere Zweige der gesetzlichen Rentenversicherung als den, in dem die Nachversicherung als durchgeführt gilt, ist nicht zu erkennen. § 72 Abs. 10 G 131 bedeutet hier, daß Kriegsdienstzeiten eines Berufssoldaten, der in der Angestelltenversicherung als nachversichert gilt, keine Ersatzzeiten in der Angestelltenversicherung sein können. Diese Rechtslage ist eine Folge davon, daß Wanderversicherte den Rentenantrag auf einen Versicherungszweig beschränken können, obwohl nach dem Grundsatz der neuen Rentenformel die Rente das gesamte Versicherungsleben des Versicherten widerspiegeln soll und dementsprechend fortlaufend an die Lohnentwicklung angepaßt wird. Dieser Grundsatz wird durch die Möglichkeit der Beschränkung des Rentenantrages auf einen Versicherungszweig durchbrochen.

Die Kläger haben die Rentenanträge auf den Versicherungszweig der Arbeiterrentenversicherung beschränkt. In den Äußerungen, die sie in den Vorinstanzen abgegeben haben, kommt genügend klar zum Ausdruck, daß sie die Rentenanträge nach Erteilung der Bescheinigung des Pensionsamtes auf den Versicherungszweig der Arbeiterrentenversicherung beschränken wollen. Zwar könnte ihr Vorbringen widerspruchsvoll erscheinen, weil sie einmal nur die Aufhebung der Ergänzungsbescheide verlangen und ein anderes Mal die Errechnung einer besonderen Rente aus der Nachversicherung und deren zusätzliche Gewährung zu den in den vorläufigen Bescheiden bewilligten Rentenbegehren. Diese Äußerungen widersprechen einander aber nicht; sie stehen vielmehr im Verhältnis von Haupt- und Hilfsvorbringen, wie die jeweiligen weiteren Ausführungen zeigen.

Auf Grund der Beschränkung der Rentenanträge hat die Nachversicherung in der Angestelltenversicherung außer Betracht zu bleiben. Dem entspricht die Rentenberechnung, die die Beklagte vor Erteilung der Bescheinigung des Pensionsamtes über die fiktive Nachversicherung vorgenommen hat. Die späteren Ergänzungsbescheide sowie die Urteile der Vorinstanzen sind deshalb aufzuheben. Die ursprünglich vorläufigen Bescheide sind mit Ausnahme der nunmehr überholten Widerrufsklausel als rechtmäßig zu bestätigen.

Dem Antrag der Kläger, die Beklagte zur Zahlung höherer Renten unter Anrechnung der Nachversicherungszeit zu verurteilen, kann nicht entsprochen werden, weil es an jeder Rechtsgrundlage dafür fehlt, die Nachversicherungszeit gesondert von den übrigen Versicherungszeiten rentensteigernd derart zu berücksichtigen, daß zu den Rentenbeträgen der vorläufigen Bescheide noch ein Rentenbetrag hinzutritt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374988

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