Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.03.1975)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. März 1975 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darum, ob die Gesundheitsstörungen, die sich der Kläger am 12. Juli 1957 zugezogen haben will, Folgen eines Arbeitsunfalls sind.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 13. September 1971 die Anerkennung von Gesundheitsstörungen des Klägers als Folgen eines Arbeitsunfalles ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Juli 1974). Gegen dieses ihm am 15. August 1974 im Wege der Ersatzzustellung zugestellte Urteil legte der Kläger am 25. September 1974 bei dem Landessozialgericht (LSG) schriftlich Berufung ein. Das LSG hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 19. März 1975) und zur Begründung u. a. ausgeführt, die Berufung sei nicht fristgerecht eingelegt. Das mit einer zutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des SG sei ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 15. August 1974 an diesem Tage zugestellt worden. Damit habe die Berufungsfrist zu laufen begonnen. Entgegen der Auffassung des Klägers stehe dem nicht entgegen, daß der Kläger, wie er behaupte, zur Zeit der Zustellung des Urteils verreist gewesen sei. Die Zustellung sei im Wege der Ersatzzustellung wirksam erfolgt. Der Zustellungsbeamte sei, als er den Kläger am 15. August 1974 in seiner Wohnung nicht angetroffen habe, berechtigt gewesen, das Urteil dem Volker T. (T.) als Ersatzperson zum Zwecke der Zustellung zu übergeben. Volker T. sei ein zur Familie gehörender, seinerzeit 15-jähriger erwachsener Hausgenosse gewesen, der mit seiner Mutter und seinen Geschwistern mit dem Kläger zusammengelebt habe und als Pflegekind behandelt worden sei. Dem Kläger könne auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt werden. Wiedereinsetzungsgründe seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Allein der Umstand, daß der Kläger nach seinen Angaben zur Zeit der Ersatzzustellung des Urteils verreist gewesen sei, rechtfertige keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Wenn er es unter diesen Umständen unterlassen habe, ausreichend Vorsorge dafür zu treffen und sicherzustellen, daß auch bei seiner Abwesenheit vom Wohnort Zustellungen, die eine Frist in Lauf setzten, rechtzeitig zu seiner Kenntnis gelangten, habe er nicht schuldlos gehandelt. Das gelte hier um so mehr, als der Kläger zu der in Betracht kommenden Zeit auch mit der Zustellung eines Urteils des SG habe rechnen müssen.

Der Kläger hat die von dem erkennenden Senat mit Beschluß vom 22. Oktober 1975 zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung u. a. vorgetragen, das LSG habe in der Sache selbst entscheiden müssen, weil die Berufungsfrist nicht versäumt gewesen sei; mindestens hätte aber dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen. Das LSG habe keinerlei Tatsachen festgestellt, aus denen sich ergebe, daß Volker T. ein „erwachsener” Hausgenosse sei. Personen unter 15 Jahren könnten in keinem Fall als Erwachsen angesehen werden, Volker T. sei gerade 15 Jahre alt gewesen, woraus aber nicht ohne weiteres folge, daß er schon ein Erwachsener im Sinne des § 181 Abs. 1 Zivilprozeßordnung (ZPO) gewesen sei. Zumindest fehle es hierzu an einer entsprechenden Begründung im Urteil des LSG.

Selbst wenn aber das Urteil des SG wirksam zugestellt gewesen sei, hätte dem Kläger nicht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist versagt werden dürfen. Der Kläger habe die Zustellungsurkunde erst am 23. September 1974 von Frau Christine T. ausgehändigt erhalten. Volker T. habe den Vorgang in der Zwischenzeit vergessen gehabt. Die Nichteinhaltung der Frist beruhe also auf einem Verhalten des Volker T., das dem Kläger nicht als Verschulden angelastet werden könne. Selbst diesen treffe aber kein Verschulden, weil er nicht habe erkennen können, daß es sich um eine fristgebundene Angelegenheit gehandelt habe. In keinem Falle könne das Verhalten des Volker T. jedoch dem Kläger zugerechnet werden. Zu diesem Ergebnis hätte das LSG kommen müssen, wenn es den Kläger ausreichend über die Umstände der Fristversäumnis befragt und veranlaßt hätte, ungenügende Angaben tatsächlicher Art zu ergänzen. Den Kläger treffe nicht die Verpflichtung zum schlüssigen Vortrag der Wiedereinsetzungsgründe, was um so mehr gelte, wenn der Kläger – wie hier – rechtsunkundig und unvertreten sei. Das LSG hätte sich sonach nicht mit der Angabe zufriedengeben dürfen, der Kläger sei in Urlaub gewesen. Wer seine ständige Wohnung nur vorübergehend, z. B. während eines Urlaubs, nicht benutze, brauche überdies keine besonderen Vorkehrungen wegen möglicher Zustellungen zu treffen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. März 1975 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach § 36 des Sozialgesetzbuchs – Allgemeiner Teil – (SGB 1) gelte eine Person mit Vollendung des 15. Lebensjahres als handlungsfähig. Diese Handlungsfähigkeit könne zwar durch den gesetzlichen Vertreter eingeschränkt werden. Das sei aber offensichtlich zumindest gegenüber dem zustellenden Postbeamten nicht geschehen. Schließlich müsse auch von einem 15-jährigen verlangt werden können, daß er nach der Entgegennahme eines Schriftstückes seine anwesende Mutter hiervon unterrichtet.

Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die infolge ihrer Zulassung durch den Beschluß des erkennenden Senats vom 22. Oktober 1975 statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Sie führte auch im Sinne einer Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zum Erfolg.

Zu Recht rügt die Revision einen wesentlichen Mangel des Verfahrens insoweit, als das LSG die Berufung des Klägers nach den von ihm getroffenen Feststellungen nicht hätte als unzulässig verwerfen dürfen.

Ob die Berufungsfrist gegen das Urteil des SG Köln vom 11. Juli 1974 (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) am 15. August 1974 begann, hängt, wie das LSG zutreffend angenommen hat, davon ab, ob das Urteil dem Kläger an diesem Tag rechtswirksam zugestellt worden war. Im sozialgerichtlichen Verfahren wird gemäß § 63 Abs. 2 SGG von Amts wegen nach §§ 2 bis 15 des Verwaltungszustellungsgesetzes vom 3. Juli 1952 (BGBl I S. 379) – VwZG – zugestellt. Für die Zustellung durch die Post mit Postzustellungsurkunde (§ 3 VwZG) gelten u. a. die Bestimmungen der §§ 180 bis 186 und 195 Abs. 2 der ZPO (§ 3 Abs. 3 VwZG). Der Postbedienstete führt hiernach die Postzustellung nach dem VwZG in denselben Formen aus, die für die zivilgerichtliche Zustellung vorgeschrieben sind. Eine Ersatzzustellung an einen zu der Familie des Klägers gehördenden erwachsenen Hausgenossen in der Wohnung (§ 181 Abs. 1 ZPO) war somit möglich. Ob eine Person, der ersatzweise zugestellt werden soll, die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, insbesondere, ob sie als „erwachsen” anzusehen ist, unterliegt zunächst der Beurteilung des Postbediensteten, der die Zustellung bewirken soll. Im Streitverfahren sind diese Voraussetzungen jedoch vom Gericht zu überprüfen, ohne daß es an die Beurteilung des Postbediensteten gebunden ist (Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung 19. Aufl., Anm. IV zu § 181).

Ob eine Person als „erwachsen” im Sinne von § 181 Abs. 1 ZPO anzusehen ist, richtet sich bei unter Achtzehnjährigen nicht allein nach dem Lebensalter, sondern danach, ob sie nach ihrer körperlichen Entwicklung – ihrer äußeren Erscheinung – als erwachsen zu gelten haben und nicht etwa schon danach, ob von ihnen zu erwarten ist, daß sie das zuzustellende Schriftstück ordnungsgemäß weitergeben werden (RGZ 14, 338 ff; RGSt 47, 374, 375, 376; Stein/Jonas aaO, Anm. III 1 a; Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 34. Aufl., Anm. 1 B zu § 181 ZPO). Danach unterliegt es weitgehend dem Augenschein, wann eine Person „erwachsen” im Sinne dieser Vorschrift ist. Für diesen Eindruck kann naturgemäß nur der Zeitpunkt der Zustellung maßgebend sein, so daß insoweit eine gerichtliche Nachprüfung zu einem späteren Zeitpunkt je nach der Länge der vergangenen Zeit mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann. So wie es der pflichtgemäßen Beurteilung des zustellenden Postbediensteten unterliegt, ob eine Person in dem obengenannten Sinne erwachsen ist, können an das Gericht bei der Nachprüfung insoweit keine weitergehenden Anforderungen gestellt werden. Zwar ist das Reichsgericht in seinem Urteil vom 30. Juni 1913 (RGSt 47, 374 ff) davon ausgegangen, aus gesetzlichen Regelungen etwa über die Ehemündigkeit weiblicher Personen mit Vollendung des 16. Lebensjahres oder der Wehrfähigkeit junger 17-jähriger Männer könne nicht der Begriff der „unerwachsenen” Personen im Sinne von § 175 Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) n.F. (§ 176 Abs. 1 GVG a.F.) zuverlässig ausgelegt werden. Dem mag insoweit zuzustimmen sein, daß ein bestimmtes Lebensalter nicht in jedem Falle den Beweis dagegen oder dafür erbringt, daß eine Person erwachsen ist. Andererseits kann aber nach Auffassung des Senats nicht völlig außer Betracht gelassen werden, daß der Gesetzgeber an bestimmte Lebensalter Rechte und Pflichten im Rechtsleben knüpft und damit grundsätzlich davon ausgeht, daß der Betreffende in diesem Alter diesen Rechten und Pflichten auch „gewachsen” und insoweit „erwachsen” ist. In dieser Hinsicht weist die Beklagte zu Recht darauf hin, daß nach § 36 des SGB 1 Personen mit Vollendung des 15. Lebensjahres Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen können. Auch sind 16-jährige in eigener Sache prozeßfähig (§ 71 Abs. 2 Satz 1 SGG). Wenn auch bei 15-jährigen dem gesetzlichen Vertreter eine Befugnis zur Einschränkung der Handlungsfähigkeit eingeräumt ist und seine Zustimmung erforderlich ist, soweit dem Minderjährigen durch seine Handlungen, insbesondere durch die Rücknahme von Anträgen Nachteile entstehen könnten (§ 36 Abs. 2 SGB 1, vgl. auch § 71 Abs. 2 Satz 2 SGG), so zeigt sich doch aus diesen Regelungen, daß schon 15-jährigen eine rechtliche Handlungsfähigkeit zugestanden wird, die eine gewisse geistige Reife voraussetzt. Es erscheint daher gerechtfertigt, einen 15-jährigen auch im Sinne von § 181 Abs. 1 ZPO als „erwachsen” anzusehen, wenn er nicht im Einzelfall aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes Zweifel daran aufkommen läßt, ob seine geistige Entwicklung seinem Lebensalter entspricht. Anhaltspunkte für solche Zweifel bestanden hier in bezug auf Volker T., dem das Urteil des SG am 15. August 1974 von dem Postbeamten übergeben wurde, nicht; das LSG konnte deshalb davon ausgehen, er sei damals erwachsen im Sinne von § 181 Abs. 1 ZPO gewesen, zumal das LSG der Auskunft der Gemeinde Martinlamitz vom 5. Februar 1975 entnehmen konnte, daß er am 9. Dezember 1958 geboren war und damit am Zustellungstag schon geraume Zeit das 15. Lebensjahr vollendet gehabt hatte.

Die übrigen Voraussetzungen einer gültigen Ersatzzustellung sind von keiner Seite bezweifelt worden. Der Kläger lebte mit der Mutter des Volker T. zusammen und dieser wurde nach den Feststellungen des LSG (vgl. auch die obengenannte Auskunft der Gemeinde Martinlamitz) als sein Pflegekind behandelt. Er gehörte daher zur „Familie” des Klägers (Baumbach/Lauterbach aaO, Anm. 1 B).

Wenn damit auch von der rechtswirksamen Zustellung des Urteils des SG am 15. August 1974 auszugehen und die Berufung sonach am 25. September 1974 verspätet bei dem LSG eingelegt worden ist, folgt daraus noch nicht, daß sie das LSG als unzulässig hätte verwerfen dürfen. Denn das LSG hat, was von dem Kläger zutreffend gerügt wird, nicht ausreichend geprüft, ob die Voraussetzungen für die von ihm beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) gegen die Versäumung der Berufungsfrist vorlagen.

Das LSG hat ein Verschulden des Klägers an der Versäumung der Berufungsfrist darin erblickt, daß er nach seinen Angaben zur Zeit der Ersatzzustellung verreist gewesen sei und es unterlassen habe, ausreichend Vorsorge dafür zu treffen, daß auch bei seiner Abwesenheit Zustellungen, die eine Frist in Lauf setzten, rechtzeitig zu seiner Kenntnis gelangten. Das gelte um so mehr, als er zu der in Betracht kommenden Zeit auch mit der Zustellung eines Urteils des SG hätte rechnen müssen, nachdem er erfahren gehabt habe, daß in seiner Streitsache Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 11. Juli 1974 anberaumt worden war. Damit hat das LSG die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) überspannt. Wie das Bundesverfassungsgericht mehrfach entschieden hat, braucht jemand, der eine ständige Wohnung hat und diese nur vorübergehend nicht benutzt – etwa während eines drei- oder mehrwöchigen Urlaubs – für diese Zeit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Zustellungen zu treffen (BVerfG 25, 158, 166; 26, 315, 319; 34, 154, 156, 157). Der Staatsbürger müsse damit rechnen können, daß er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erhalten werde, falls ihm während seiner Urlaubsabwesenheit etwa eine Strafverfügung oder ein Bußgeldbescheid durch Niederlegung bei der Post zugestellt werde und er aus Unkenntnis dieser Ersatzzustellung die Einspruchsfrist versäumen sollte. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) wäre andernfalls sein Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) verletzt. – § 44 der Strafprozeßordnung, zu dem die genannten Entscheidungen ergangen sind, setzt ebenso wie § 67 SGG voraus, daß jemand ohne sein Verschulden an der Einhaltung einer Frist verhindert war. Die von dem BVerfG entwickelten Grundsätze sind daher im sozialgerichtlichen Verfahren gleichermaßen anzuwenden. Daran ändert sich im Falle des Klägers im Ergebnis auch dadurch nichts, daß er zur Zeit der Ersatzzustellung mit der Zustellung des Urteils des SG hätte rechnen müssen. Insbesondere in der Entscheidung Bd. 34, S. 154 ff hat das BVerfG insoweit keine Einschränkungen gemacht; auch dort war nach voraufgegangener polizeilicher Vernehmung jedenfalls mit einem Bußgeldbescheid zu rechnen (aaO S. 155), und das BVerfG hat ausdrücklich betont, daß diese Grundsätze auch dann gelten, wenn der Betroffene vor Erlaß des Bußgeldbescheides polizeilich vernommen worden ist (aaO S. 156).

Aber auch wenn man dem letzten Umstand – mit dem LSG – eine gewisse Bedeutung einräumen will, hätte doch vor Feststellung eines prozeßrechtlichen Verschuldens geklärt werden müssen, zu welcher Zeit – nach dem 11. Juli 1974 – und für wie lange der Kläger einen Urlaub angetreten hat. Zutreffend rügt die Revision daher, das LSG hätte, wenn es dem Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagen wollte, die näheren Umstände, die zu der Fristversäumung geführt haben, aufklären müssen: So etwa, wie lange der Kläger von seiner Wohnung abwesend war, ob er etwa noch während des Laufs der Berufungsfrist, wie die Revision offenbar vortragen will, – nämlich angeblich in der Zeit vom 10. oder 11. September bis 18. September 1974 – wieder zurückgekehrt war, aus welchem Grunde ihm die erfolgte Ersatzzustellung nicht rechtzeitig bekannt geworden ist u. a., woraus sich ergeben könnte, ob ihn wirklich ein Verschulden an der verspäteten Einlegung der Berufung trifft. Solcher Ermittlungen bedarf es gerade bei einer Ersatzzustellung, da ein etwaiges Verschulden des Volker T. dem Kläger grundsätzlich nicht zuzurechnen ist (vgl. BSG in SozR Nr. 35 zu § 67 SGG).

Unabhängig hiervon hat das LSG auch nicht geprüft und erwogen, ob der Kläger nicht dadurch „ausreichend Vorsorge” für den rechtzeitigen Erhalt von Zustellungen getroffen hat, daß nicht nur Volker T., sondern auch Frau T. solche Sendungen entgegennehmen und dem Kläger erforderlichenfalls nachsenden oder ihn unterrichten konnte. Allerdings kann es je nach den Umständen geboten erscheinen, auch ohne Rücksicht auf einen Urlaub die Familienangehörigen anzuhalten, auf jeden Fall den Eingang von Post, insbesondere aber von amtlichen Sendungen, unverzüglich mitzuteilen und dafür zu sorgen, daß sie dem Adressaten zugeleitet werden. Unter Umständen hätte sogar der Kläger regelmäßig nachfragen müssen, ob derartige Sendungen für ihn angekommen seien. Solche Anweisungen oder Nachfragen hätten sich andererseits erübrigt, wenn der Kläger sich nach den Erfahrungen des voraufgegangenen Zusammenlebens mit hinreichender Sicherheit darauf verlassen konnte, regelmäßig und unverzüglich in den Besitz seiner gesamten Post zu kommen. Ob solche Anweisungen oder Nachfragen gegenüber den älteren Angehörigen der „Familie” erforderlich waren oder gegebenenfalls nur gegenüber Frau T., muß ebenfalls noch geklärt werden. Von Bedeutung könnte insoweit sein, ob etwa Frau T. regelmäßig im Hause war und Postzustellungen entgegennahm oder ob mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch Volker T. insoweit in Betracht kam. Gegebenenfalls wird sodann zu prüfen sein, inwieweit das Verhalten des Klägers für die verspätete Berufungseinlegung doch ursächlich war (vgl. dazu auch BVerfG 34, 154, 157 oben).

Bei einer kürzeren Abwesenheit wird es regelmäßig nicht erforderlich sein, daß sich der Kläger Briefe durch die Post nachsenden läßt. Wenn es das BVerfG in den von ihm entschiedenen Fällen, in denen die Betroffenen verreist waren und eine Ersatzzustellung durch Niederlegung bei der Postanstalt (§ 182 ZPO) erfolgt war, nicht für erforderlich gehalten hat, daß mit Hilfe eines Nachsendeantrags bei der Post die unverzügliche Kenntnis einer erfolgten Zustellung hätte gewährleistet werden müssen, so kann im Falle einer Ersatzzustellung an einen erwachsenen Hausgenossen (§ 181 Abs. 1 ZPO) im Grundsatz nichts anderes gelten. Eine solche Unterlassung reicht deshalb für die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand regelmäßig nicht aus.

Da die vorbezeichneten notwendigen tatsächlichen Feststellungen von dem LSG nicht getroffen worden sind, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zur Nachholung dieser Feststellungen und ggf. zu einer Sachentscheidung zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Unterschriften

Dr. Maisch, Spielmeyer, Thomas

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926403

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