Leitsatz (amtlich)

Hat das Sozialgericht der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen und deswegen die Berufung zugelassen, so wird dadurch das Landessozialgericht nicht gebunden, die Grundsätzlichkeit der Rechtsfrage ebenfalls zu bejahen und die Revision zuzulassen. In jeder Instanz sind die Voraussetzungen der Zulassung selbständig zu prüfen.

2.Hat das Landessozialgericht die Grundsätzlichkeit geprüft und im Urteil entschieden, daß die Revision nicht zugelassen wird, so liegt darin, selbst wenn die Entscheidung unrichtig sein sollte, kein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2.

 

Normenkette

SGG § 150 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 16. Februar 1955 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit der Rechtsanwälte ... wird auf 100,- DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Der Kläger bezog Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu) in B. Am 23. August 1953 erzielte er im Ostsektor von B einen Gelegenheitsverdienst von 34,- DM-Ost. Das Facharbeitsamt I B rechnete diesen Betrag durch Verfügung vom 17. September 1953 mit dem bestimmungsgemäßen Teil auf die Alfu an, setzte dabei jedoch eine DM-Ost einer DM-West gleich, während der Kläger Berücksichtigung des wesentlich niedrigeren Tageskurses der Ostmark verlangte. Der Einspruch des Klägers beim Spruchausschuß des Arbeitsamtes wurde am 16. November 1953 abgewiesen. Seine Berufung an die Spruchkammer für Arbeitslosenversicherung beim Sozialversicherungsamt Berlin ging mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht über. Das Sozialgericht schloß sich der Rechtsauffassung des Klägers an und hob mit Urteil vom 13. Oktober 1954 die Entscheidungen des Arbeitsamtes und des Spruchausschusses auf; es ließ indessen wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Berufung zu, die von der beklagten Bundesanstalt auch eingelegt wurde.

II. Das Landessozialgericht gab mit Urteil vom 16. Februar 1955 der Berufung statt und stellte die Entscheidung des Facharbeitsamts I B vom 17. September 1953 wieder her. Zur Begründung führte es aus, die Gleichsetzung der beiden Währungen auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenfürsorge beruhe auf den in beiden Währungsgebieten annähernd übereinstimmenden Verdienstmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Der Unterstützungsbezug des Klägers sei aus versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen erwachsen, die überwiegend in Ostwährung entlohnt worden seien. Daher könne der Kläger nicht einerseits die ihm nach der Parität der beiden Währungen zustehende Unterstützung laufend voll in Westmark in Anspruch nehmen, andererseits aber die Anrechnung seines Gelegenheitsverdienstes in Ostmark auf die Unterstützung zum vier- oder fünffach niedrigeren Tageskurs der Ostmark begehren.

III. Obwohl das Landessozialgericht seinerseits die Revision nicht zugelassen hatte, legte der Kläger das Rechtsmittel ein. Er sieht in der Nichtzulassung der Revision einen wesentlichen Verfahrensmangel, da die Sache grundsätzliche Bedeutung habe und diese Grundsätzlichkeit auch bereits vom Sozialgericht durch Zulassung der Berufung anerkannt worden sei. Materiell-rechtlich widerstreite es den tatsächlichen Wert- und Kaufkraftverhältnissen, den bei Gelegenheitsarbeit in DM-Ost erzielten Verdienst auf die in DM-West bezogene Unterstützung im Verhältnis 1 : 1 anzurechnen. Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts ... vom 13. Oktober 1954 wiederherzustellen.

Die Revisionsbeklagte bestreitet das Vorliegen eines Verfahrensmangels und beantragt unter Bezugnahme auf die nach ihrer Auffassung zutreffende Begründung des Berufungsgerichts, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.

Für das Vorbringen der Parteien im einzelnen wird auf die Schriftsätze des Klägers vom 1. und 30. April sowie 11. August 1955 und auf den Schriftsatz der Beklagten vom 9. Juli 1955 Bezug genommen. Die im Schriftsatz vom 1. April 1955 erhobene Rüge, daß das angefochtene Urteil lediglich von den drei Berufsrichtern, nicht aber auch von den beiden Landessozialrichtern unterschrieben sei, ließ der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung fallen.

IV. Die Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden. Sie ist jedoch nicht statthaft.

Die Entscheidung darüber, ob die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zuzulassen ist, hat das Gesetz dem Landessozialgericht zugewiesen, und in dem vorliegenden Rechtsstreit hat das Landessozialgericht im Tenor und in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ausdrücklich ausgesprochen, daß die Revision nicht zugelassen werde. Dieser Ausspruch bindet den erkennenden Senat. Da der Gesetzgeber bewußt davon abgesehen hat, die "Nichtzulassungsbeschwerde" des § 53 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes in das Sozialgerichtsgesetz zu übernehmen, hat das Bundessozialgericht sogar in den Fällen, in denen die Revision vom Landessozialgericht zu Unrecht, d. h. entgegen dem Gesetz, nicht zugelassen worden sein sollte, keine Befugnis, dieses Rechtsmittel von sich aus zuzulassen (zu vgl. Haueisen in "Sozialgerichtsbarkeit" 1955 Heft 1 S. 1; ebenso Schroeder-Printzen, ZfS 1954 S. 45 ff; Sinthaus, ZfS 1954 S. 63 ff; so auch 5. Senat des BSGer ., Beschluß v. 11.6.1955 - 5 RKn 2/54 -). Die Regelung des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG entspricht übrigens auch der Rechtslage, wie sie durch Gesetz vom 12. September 1950 (BGBl. I S. 535 ff) für den Zivilprozeß in § 546 der Zivilprozeßordnung (ZPO) eingeführt worden ist. Nach den vom Bundesgerichtshof zu § 546 ZPO entwickelten Grundsätzen (BGHZ Bd. 2 S. 16 ff), die nach der Auffassung des erkennenden Senats ebenfalls für die Anwendung des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG gelten können, ist es auch aus den allgemeinen Rechtsgedanken der Rechtssicherheit, der Rechtseinheit und der Fortbildung des Rechts heraus nicht gerechtfertigt, die seitens des Vorderrichters unterbliebene Zulassung nachzuholen.

V. Eine Revision, die vom Landessozialgericht nicht zugelassen wurde, ist daher für den Bereich der Arbeitslosenversicherung und -unterstützung nur statthaft, falls ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und auch tatsächlich vorliegt (vgl. 8. Senat des BSGer ., Urteil vom 14.7.1955 - 8 RV 177/54 -).

Der wesentliche Verfahrensmangel soll nach Meinung des Klägers darin bestehen, daß das Landessozialgericht die grundsätzliche Bedeutung der strittigen Rechtsfrage nicht beachtet und die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen habe, wozu es schon um deswillen verpflichtet gewesen sei, weil bereits das Sozialgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Berufung zugelassen habe.

VI. Diese Auffassung des Klägers ist rechtsirrig. Was den ersten Teil des Arguments betrifft, so ist er aus dem gleichen Grunde wie zu IV. ausgeführt abwegig. Denn die bewußt abgelehnte Nichtzulassungsbeschwerde kann naturgemäß auch nicht auf dem Wege über § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG eingeführt werden. Insbesondere aber ist das Landessozialgericht an die Entscheidung des Sozialgerichts über die Grundsätzlichkeit nicht gebunden. Zufolge der Mehrstufigkeit des Rechtsganges in der Sozialgerichtsbarkeit - wie in allen fachlichen Zweigen der deutschen Gerichtsbarkeit - hat das Gericht in jeder Instanz nach der für das einzelne Rechtsmittel jeweils zuständigen Vorschrift die Voraussetzungen der Zulassung selbständig zu prüfen. Dies ergibt sich nicht allein aus logischen Erwägungen über Inhalt, Zweck und Ziel des einzelnen Rechtsmittels, sondern wird regelmäßig und unmittelbar durch den Wortlaut der zuständigen Rechtsmittelvorschrift selbst zwingend bestimmt.

Soweit die "grundsätzliche Bedeutung" in Frage steht, ist für die Berufung der § 150 Nr. 1 SGG, für die Revision der § 162 Abs. 1 Nr. 1 maßgebend. Der Gesetzeswortlaut zu beiden Bestimmungen ist aber nicht der gleiche, sondern enthält einen bemerkenswerten Unterschied. Die Berufung ist zuzulassen, "wenn die Rechts sache grundsätzliche Bedeutung hat." Die Revision aber ist zuzulassen, "wenn über Rechts fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden ist".

Eine Rechts sache kann unter Umständen grundsätzliche Bedeutung auch dadurch erhalten, daß ihr ein überdurchschnittliches wirtschaftliches Gewicht zukommt und dieses es dann rechtfertigt, den Weg der Berufung zu einer weiteren (Tatsachen- und zugleich Rechts-) Instanz frei zu geben. Dagegen kann die wirtschaftliche Lage des Einzelfalles, wenn die grundsätzliche Bedeutung von Rechts fragen in der Richtung zu prüfen und abzuwägen ist, ob der Zugang zur letzten (reinen Rechts-) Instanz eröffnet werden soll, keine Rolle spielen.

Im übrigen wird aber auch die Auffassung darüber, ob etwas "grundsätzliche Bedeutung" besitzt, subjektiv jeweils aus der Beurteilung und Bewertung der in der einzelnen Instanz vorliegenden Tatsachen gebildet. Die Entscheidung hierüber liegt also, da insoweit das Gesetz einen "Wertbegriff", nicht einen - wenn auch unbestimmten - "Rechtsbegriff" enthält (zu vgl. Bachof, "Beurteilungsspielraum, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht" in JZ, 1955 S. 97 ff), in der Sphäre des jeweiligen "Ermessens". Auch aus diesem Grunde kann die Anschauung des Vorderrichters nicht für die Entschließung des Berufungsgerichts maßgebend und bestimmend sein.

VII. Unabhängig von der erstinstanzlichen Zulassungsentscheidung des Sozialgerichts hat im vorliegenden Fall das Landessozialgericht nach eigener Prüfung, wie sich aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils erweist, für die Frage des materiellen Rechts den Charakter der Grundsätzlichkeit verneint. Die gesetzliche Folge dieser Entscheidung ist die Nichtzulassung der Revision, an die das Bundessozialgericht gebunden ist. Selbst wenn die Beurteilung der Grundsätzlichkeit jener Rechtsfrage durch den Vorderrichter unzutreffend gewesen sein sollte, ist deshalb nicht etwa das Verfahren mangelhaft durchgeführt worden; es läge allenfalls ein error in iudicando, nicht jedoch ein error in procedendo vor.

Verfahrensrechtliche Bedeutung hat der § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG nur insoweit, als durch seinen 1. Halbsatz dem Landessozialgericht die Prüfung und Entscheidung darüber auferlegt ist, ob die Revision zuzulassen ist. Diese prozessualen Aufgaben hat das Landessozialgericht tatsächlich wahrgenommen; eine Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung von Verfahrensnormen ist hierbei nicht festzustellen. Der Inhalt seiner Entscheidung indessen kann selbst dann nicht auf das Verfahren zurückwirken und es mit einem Mangel behaften, wenn er sachlich falsch wäre (zu vgl. auch LSGer. Schleswig, Urteil vom 15.10.1954, Breithaupt 1955 S. 432; LSGer. Baden-Württemberg, Urteil vom 15.10.1954, Breithaupt 1955 S. 556; Bayer. LSGer., Urteil vom 4.11.1954, Breithaupt 1955 S. 661 ff = jeweils zu den rechtsähnlichen Fällen des § 150 Nrn. 1 u. 2 SGG).

Verwiesen sei schließlich noch darauf, daß auch nach ständiger Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes keine Revisionsgründe daraus hergeleitet werden konnten, wenn unter der Geltung der Reichsversicherungsordnung ein Oberversicherungsamt der Abgabepflicht in grundsätzlichen Sachen (§§ 1693, 1799 RVO) nicht nachgekommen war (zu vgl. RVA in AN. 1913 S. 410, 415; 1914 S. 622, 773).

VIII. Nach alledem ist die Rüge des Klägers aus § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG unbegründet und damit die Revision unstatthaft. Sie mußte deshalb nach § 169 Satz 2 SGG verworfen werden, ohne daß eine Nachprüfung der materiellen Seite des streitigen Anspruchs möglich war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Festsetzung der Gebühr für den Rechtsanwalt des Klägers folgt aus § 196 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2373475

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