Leitsatz (amtlich)

1. Ein bei Anwendung von RVO § 627 zu beachtender Wandel der Rechtsprechung liegt nicht vor, wenn die einseitige Linsenlosigkeit früher mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 15 % eingeschätzt wurde und sie heute mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % bewertet wird.

2. Zur Frage des Vorliegens mehrerer prozessual selbständiger Ansprüche.

 

Normenkette

RVO § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 627 Fassung: 1963-04-30; SGG § 145 Nr. 4 Fassung: 1958-06-25, § 150 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 521

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Juli 1972 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der am 13. Mai 1913 geborene Kläger erlitt am 16. August 1937 einen Arbeitsunfall, der zu einem Verlust der Linse des rechten Auges und zu leichten Verwachsungen zwischen Regenbogenhaut und Hornhauthinterwand führte. Mit Bescheid vom 26. Februar 1938 gewährte die Beklagte dem Kläger mit Wirkung vom 23. November 1937 eine vorläufige Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H.. Aufgrund von Nachuntersuchungen im Januar 1942 und im Februar 1948 entzog die Beklagte durch Bescheid vom 23. Juni 1948 dem Kläger die vorläufige Verletztenrente mit Ablauf des Monats Juli 1948. Zur Begründung gab sie an, die MdE betrage nur noch 15 v. H.. Die vom Kläger gegen diesen Bescheid eingelegte Berufung wurde vom Oberversicherungsamt Schleswig wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen.

Am 28. Januar 1970 beantragte der Kläger die Wiedergewährung seiner Verletztenrente. In seinem Gesundheitszustand sei eine Verschlimmerung eingetreten, da er an ständigen Kopfschmerzen leide. Nach Einholung von Sachverständigengutachten, in denen die MdE zunächst mit 20 v. H. und dann einheitlich mit 25 v. H. eingeschätzt worden war, lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 19. Januar 1971 mit der Begründung ab, daß eine wesentliche Verschlimmerung nicht eingetreten sei.

Diesen Bescheid hat der Kläger mit der Klage angefochten. Im Verlauf des Verfahrens hat er beantragt, die Rente nach § 627 der Reichsversicherungsordnung (RVO) neu festzustellen, da sie ihm 1948 zu Unrecht entzogen worden sei. Diesen Antrag hat die Beklagte mit Bescheid vom 8. April 1971 und Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1971 abgelehnt. In der Begründung des Widerspruchsbescheids ist ausgeführt, die Verletztenrente sei dem Kläger nicht zu Unrecht entzogen worden, weil 1948 die einseitige Linsenlosigkeit als Dauerzustand in ständiger Rechtsprechung nach einer MdE von 15 v. H. zu bewerten gewesen sei. Erst seit der Empfehlung des Hauptgeschäftsführers der gewerblichen Berufsgenossenschaften von 1954 sei bei unkomplizierter einseitiger Linsenlosigkeit eine Erwerbsminderung von 20 v. H. angenommen worden.

Der Kläger hat behauptet, die Unfallfolgen hätten sich durch die starken Kopfschmerzen verschlimmert. Ohne den Augenschaden wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu den geklagten Beschwerden gekommen. Er hat ferner die Auffassung vertreten, die Rentenentziehung im Jahre 1948 sei nicht gerechtfertigt gewesen. Seitdem habe sich die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hinsichtlich der Einschätzung der MdE gewandelt. Diese Einschätzung müsse auch für das Jahr 1948 gelten.

Der Kläger hat im Verfahren 1. Instanz beantragt,

1.

den Bescheid der Beklagten vom 8. April 1971 und den Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1971 aufzuheben,

2.

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab August 1948 weiterhin die 20%ige Rente zu gewähren,

hilfsweise,

den Bescheid vom 19. Januar 1971 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Januar 1966 eine Rente nach einer MdE von 25 v. H. zu gewähren.

Durch Urteil vom 2. Februar 1972 hat das Sozialgericht (SG) Kiel die Bescheide der Beklagten vom 8. April und 24. Mai 1971 dahin abgeändert, daß dem Kläger ab 1. Januar 1966 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. wieder zu gewähren ist. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, daß eine Änderung der Verhältnisse, die für den Entzug der Rente maßgebend gewesen seien, sich nicht nachweisen lasse. Die beim Kläger auftretenden Kopfschmerzen beruhten auf einer altersbedingten herabgesetzten Kompensationsfähigkeit und seien ein unfallunabhängiger Schaden. Hingegen sei die Beklagte verpflichtet, die Rente nach § 627 RVO neu festzustellen. Der Tatbestand dieser Vorschrift sei auch dann verwirklicht, wenn sich die höchstrichterliche Rechtsprechung gewandelt habe und der früheren Verwaltungsentscheidung widerspreche. Ein solcher Fall sei hier gegeben. Wegen der Verjährungsvorschrift des § 29 Abs. 3 RVO könne die Rente erst im Januar 1966 beginnen.

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt und geltend gemacht, daß das SG zu Unrecht einen Wandel der Rechtsprechung angenommen habe. Es lasse sich hier nur ein Wandel der Rechtsprechung der Tatsacheninstanzen feststellen. Die Höherschätzung der MdE beruhe darauf, daß sich in den letzten Jahren das Arbeitstempo wesentlich erhöht und die Zunahme des Verkehrs zu einer stärkeren Beanspruchung der Augen und damit zu einer stärkeren Beeinträchtigung durch den Verlust des räumlichen Sehens geführt habe.

Die Beklagte hat vor dem LSG beantragt,

das Urteil des SG Kiel vom 2. Februar 1972 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat - unselbständige - Anschlußberufung eingelegt und beantragt,

1.

das angefochtene Urteil insoweit zu ändern, als es die Klage gegen den Bescheid vom 19. Januar 1971 abgewiesen hat, und diesen Bescheid aufzuheben,

2.

das angefochtene Urteil auch insoweit zu ändern, als es die Klage für Ansprüche aus der Zeit vor dem 1. Januar 1966 abgewiesen hat,

3.

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, mit dem ihm

a)

wegen Änderung der Verhältnisse ab 1. Januar 1966 eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 v. H. gewährt wird,

b)

einen Bescheid nach § 627 RVO zu erteilen, mit dem ihm Rente nach einer MdE von 20 v. H. über den Juli 1948 hinaus bis zum 31. Dezember 1965 gewährt wird.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten unter Abänderung des SG-Urteils die Klage im vollen Umfang abgewiesen und die Anschlußberufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen. Das Berufungsurteil ist im wesentlichen auf folgende Überlegungen gestützt:

Die Voraussetzungen des § 627 RVO seien nicht erfüllt, weil dem Kläger die Rente s. Zt. nicht zu Unrecht entzogen worden sei. Die Beklagte habe damals davon ausgehen können, daß die durch die Augenverletzung bedingte MdE 15 v. H. betrug. Der Umstand, daß die MdE bei einseitiger Linsenlosigkeit heute anders bewertet werde, ändere hieran nichts. Zwar könne auch ein Wandel der Rechtsprechung dazu führen, daß der Versicherungsträger als von der Rechtmäßigkeit einer früheren Entscheidung überzeugt anzusehen sei. Dies könne jedoch nur für solche Fälle gelten, in denen die höchstrichterliche Rechtsprechung in grundlegenden Fragen erkannt habe, daß die früher vertretene Auffassung mit dem Gerechtigkeitsgedanken nicht im Einklang stand und daß daher eigentlich schon früher anders hätte entschieden werden müssen. Hier sei jedoch eine Neubewertung der einseitigen Linsenlosigkeit deswegen für angebracht erachtet worden, weil die äußeren Umstände andere geworden seien. Die Lebensverhältnisse hätten sich im Zuge der fortschreitenden Technisierung und zunehmenden Beschleunigung vieler Arbeitsvorgänge in einer Weise geändert, die den in seiner Sehkraft geschädigten Verletzten besonders beeinträchtige und gefährde. Sowohl die Verhältnisse in den Betrieben als auch die starke Zunahme des Straßenverkehrs stellten heute größere Anforderungen an die Sehkraft eines einzelnen, als das früher der Fall gewesen sei. Durch die heutige gewandelte Praxis werde auch der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) nicht verletzt. Es sei auch nicht zu beanstanden, daß die Beklagte seinerzeit eine Besserung um lediglich 5 v. H. der Erwerbsfähigkeit zum Anlaß für eine Rentenentziehung gemacht habe. Dies stehe zwar im Gegensatz zu einer neueren Entscheidung des BSG, doch sei auch hier kein grundlegender Wandel der Rechtsprechung gegeben; auch gelte sie nur für die Zukunft. Die Anschlußberufung des Klägers sei unzulässig, soweit sie sich gegen den auf § 622 RVO gestützten Bescheid richte. Die Beklagte habe nur hinsichtlich der Bescheide vom 8. April und 24. Mai 1971 Berufung eingelegt; denn ihre Verurteilung habe nur diese Bescheide betroffen. Der Bescheid der Beklagten vom 19. Januar 1971, der nicht gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden sei, sei nicht mehr Streitgegenstand im zweiten Rechtszug gewesen und damit bindend geworden. Die Anschlußberufung betreffe mithin einen anderen prozessual selbständigen Anspruch als die Berufung.

Hiergegen hat der Kläger Revision eingelegt und ausgeführt:

Das Urteil des SG sei nicht zu billigen, soweit es seine Entscheidung auf § 627 RVO und nicht auf § 622 RVO gestützt habe. Daß die Voraussetzungen des § 627 RVO nicht erfüllt seien, habe das LSG richtig erkannt; es habe jedoch zu Unrecht nicht geprüft, ob die Voraussetzungen des § 622 RVO gegeben seien. Eine wesentliche Verschlimmerung liege in der Tat vor; demgemäß hätten die Gutachter auch die MdE ab 1. Januar 1966 auf 25 v. H. geschätzt. Davon entfielen zwar nur 5 v. H. auf eine tatsächliche Verschlimmerung, hier müsse aber die gesamte MdE-Differenz berücksichtigt werden. Eine Verschlimmerung in diesem Sinne könne auch durch zunehmendes Alter eintreten. Insoweit sei die Unfallfolge eine wesentliche Bedingung für die hinzugetretenen Kopfschmerzen.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil folgendermaßen abzuändern:

1)

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 2. Februar 1972 wird zurückgewiesen,

2)

das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 2. Februar 1972 wird insoweit geändert, als es die Klage gegen den Bescheid vom 19. Januar 1971 abgewiesen hat; dieser Bescheid wird aufgehoben,

3)

die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, mit dem ihm wegen Änderung der Verhältnisse ab 1. Januar 1966 eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 v. H. gewährt wird.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend; im übrigen bestreitet sie, daß es zu einer Verschlimmerung in den Unfallfolgen gekommen sei; es liege nur ein vom Unfall unabhängiger Nachschaden vor, der nicht berücksichtigt werden könne.

II

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Die Ansicht des LSG, daß die Voraussetzungen des § 627 RVO nicht erfüllt seien, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Als überzeugt von der Unrechtmäßigkeit seiner früheren Entscheidung i. S. von § 627 RVO hat der Versicherungsträger dann zu gelten, wenn die Unrechtmäßigkeit so offensichtlich ist, daß er dies bei erneuter Prüfung hätte erkennen müssen (BSG 19, 38 (44)). Ob der Entziehungsbescheid vom 23. Juni 1948 unrechtmäßig war, richtet sich nach dem damals geltenden Recht (vgl. BSG 26, 89 (91)). Eine Prüfung unter diesem Gesichtspunkt läßt jedenfalls eine offensichtliche Rechtswidrigkeit, wie sie § 627 RVO voraussetzt, nicht erkennen.

Durch den Bescheid vom 23. November 1937 war dem Kläger eine vorläufige Verletztenrente bewilligt worden. Zur Feststellung einer Dauerrente (§ 1585 Abs. 2 Satz 1 RVO) ist es nicht gekommen. Eine Regelung i. S. von § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO (nF), wonach die vorläufige Rente spätestens mit Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall zu einer Dauerrente wird, war dem bis zum Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) geltenden Recht fremd (vgl. BSG 2, 245 (247) mit weiteren Nachweisen). Das bedeutet, daß die dem Kläger gewährte Rente ihren Charakter als vorläufige Rente bis zuletzt bewahrt hat. Als vorläufige Rente konnte sie aber, wie sich aus § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO i. V. m. § 608 RVO aF - jetzt § 622 Abs. 1 RVO (nF) - ergibt, jederzeit mit der Begründung entzogen werden, es fehle an einer zur Zubilligung einer Verletztenrente ausreichenden MdE, ohne daß es dazu einer Änderung der Verhältnisse bedurfte; es kann daher schon aus diesem Grunde kein Gesetzesverstoß darin gefunden werden, daß die Beklagte die Rentenentziehung mit einem Herabsinken der MdE von 20 v. H. auf 15 v. H. begründet hat (vgl. RVA EuM 22, 220, 221).

Die Beklagte brauchte den Entziehungsbescheid vom 23. Juni 1948 auch nicht deswegen als rechtswidrig anzusehen, weil in ihm die durch einseitige Linsenlosigkeit bedingte MdE entgegen einer heute bestehenden Übung nicht mit 20 v. H., sondern lediglich mit 15 v. H. bewertet worden ist. Die durch die Folgen eines Unfalls verursachte MdE ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Fähigkeiten und Kenntnisse des Verletzten und etwaiger Besonderheiten festzustellen, es kann daher insoweit weder allgemein gültige Erfahrungssätze noch ein durch Rechtsübung entstandenes Gewohnheitsrecht geben, wonach bestimmte Schädigungen mit einem bestimmten Grad der MdE eingeschätzt werden müßten (BSG 4, 147 (149)). Das schließt nicht aus, daß sich Versicherungsträger und Gerichte bei der Feststellung des Grades der MdE an Leitlinien orientieren, von denen sie nicht leichthin abweichen werden. Dadurch wird jedoch weder Recht gesetzt noch auch - über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus - Recht gefunden. Soweit sich hier im Laufe der Entwicklung Akzentverschiebungen abzeichnen, sind sie grundsätzlich nicht einem Wandel der Rechtsprechung, der bei Anwendung von § 627 RVO zu berücksichtigen ist, gleichzusetzen (vgl. BSG 26, 89 (92 f)). Es handelt sich hier nicht darum, daß Sinn, Tragweite und systematischer Zusammenhang der Rechtsnormen genauer erfaßt werden, sondern allein darum, daß im Bereich der Tatsachenfeststellung neu gewonnene Erfahrungen und Einsichten beachtet werden. Ein Wandel der Rechtsprechung kann sich - jedenfalls in dem hier in Betracht kommenden Sinn - nur bei der Anwendung des Gesetzes, nicht aber bei der der Rechtsanwendung voraufgehenden Feststellung des Sachverhalts im Einzelfall oder auch nur einer Vielzahl von Einzelfällen vollziehen. Neu gewonnene Erfahrungen und Einsichten rechtfertigen zwar eine Abweichung von einer ständigen tatsächlichen Übung, ohne daß ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) vorläge (vgl. auch BSG 7, 75 (77)); sie bringen aber nicht zum Ausdruck, was schon vor ihrer Anwendung als Recht gegolten haben sollte (vgl. BSG 26, 89 (91)). Anders wäre der Fall dann zu beurteilen, wenn eine höhere Bewertung der MdE deshalb erfolgen müßte, weil sich die früheren Tatsachenfeststellungen im Hinblick auf neuere Erkenntnisse der medizinischen Forschung als unhaltbar erwiesen haben; dann wären die früheren Entscheidungen zwar nicht wegen eines Wandels der Rechtsprechung, wohl aber deswegen als unrichtig anzusehen, weil der Tatbestand, in dem sie ihre Stütze zu finden schienen, im Zeitpunkt der Rentenentziehung in Wahrheit nicht vorgelegen hatte. Ein solcher Fall ist hier jedoch nach den unangegriffenen Darlegungen des LSG nicht gegeben; die höhere MdE-Bewertung der einseitigen Linsenlosigkeit ist vielmehr durch eine Änderung der allgemeinen Lebensverhältnisse bedingt. Bei dieser Sachlage kann die Beklagte zur Wiedergewährung der Rente nach § 627 RVO durch die Gerichte nicht verpflichtet werden, weil es an der Voraussetzung dieser Vorschrift, daß die Rente damals zu Unrecht entzogen worden ist, fehlt.

Das LSG hat aber zu Unrecht eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt des § 622 RVO mit der Begründung unterlassen, daß - was freilich nur in den Urteilsgründen, nicht jedoch im Entscheidungssatz zum Ausdruck kommt - die Anschlußberufung des Klägers unzulässig sei.

Gegenstand des Rechtsstreits ist das Begehren des Klägers, wegen des Unfalls vom 16. August 1937 eine Verletztenrente zu erhalten, und die von der Beklagten mit Bescheiden vom 19. Januar, 8. April und 24. Mai 1971 ausgesprochene Weigerung, diesem Begehren zu entsprechen. Der Kläger begehrt nicht mehrere Leistungen, sondern nur die Wiedergewährung von Unfallrente, die er mit verschiedenen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten begründet. Der Prozeßverlauf zeigt eindeutig, daß der Kläger die Wiedergewährung der Rente zunächst wegen eingetretener Verschlimmerung (§ 622 RVO) begehrte und daß er - als dieses Begehren nicht hinreichend aussichtsreich erschien - die Wiedergewährung der Rente nach § 627 RVO erstrebte. Anders als in dem in SozR Nr. 12 zu § 521 ZPO vom 9. Senat des BSG entschiedenen Fall, behandelt das SGG diesen Anspruch auf Wiedergewährung von Unfallrente in § 145 SGG nicht unterschiedlich danach, ob er auf § 622 oder § 627 RVO gestützt wird. Vielmehr ist die Berufung nach § 145 Nr. 4 SGG unabhängig davon, mit welcher Vorschrift der Anspruch begründet wird, zulässig, weil die Berufung zwar den Grad der MdE betrifft, jedoch die Gewährung der Rente davon abhängt. Deshalb kann hier nicht von mehreren prozessual selbständigen Ansprüchen - wie in SozR Nr. 12 zu § 521 ZPO - gesprochen werden. Jedenfalls gilt dies, soweit für die gleiche Zeit dieselbe Rente nur mit verschiedener Begründung begehrt wird (vgl. dazu auch SozR Nr. 48 zu § 150 SGG). Die früheren, insoweit z. T. verschiedenen Anträge werden nun vom Kläger ohnedies nicht mehr gestellt. Bei dieser Sachlage gelten hier auch die in der genannten BSG-Entscheidung erwähnten zivilprozessualen Grundsätze, wonach die Anschlußberufung nicht den Anspruch zu betreffen braucht, bezüglich dessen Berufung eingelegt ist oder einzulegen war. Vielmehr genügt es, daß sie sich gegen dasselbe Urteil richtet (vgl. RGZ 46, 373, 375; Wieczorek ZPO Band III 1957 Anm. A III b 1 zu § 522 ZPO). Der 9. Senat hat in der genannten Entscheidung zutreffend ausgesprochen, daß in solchen Fällen die Rechtsprechung zur ZPO auch im sozialgerichtlichen Verfahren von Bedeutung sei. Der Kläger konnte sonach im Wege der Anschlußberufung geltend machen, daß der Anspruch wenn nicht nach § 627, so doch nach § 622 RVO begründet sei. Zumindest soweit der Anspruch nicht nur dieselbe Leistung, sondern auch dieselbe Bezugszeit betraf, lag somit nur ein prozessualer Anspruch vor, dieser konnte deshalb auch nicht teilweise in Rechtskraft erwachsen. Selbst wenn man eine "eindeutige Rechtsmittelbegrenzung" der Beklagten auf den vom SG nach § 627 RVO bejahten Anspruch annehmen wollte, so würde die Hemmungswirkung des Rechtsmittels auch den nicht angefochtenen Teil der Entscheidung erfassen, solange ein Beteiligter auch den nicht angefochtenen Rest durch Erweiterung des Rechtsmittels oder Anschließung der Nachprüfung des höheren Gerichts unterwerfen kann (BGH 7, 143, 144 ; Baumbach-Lauterbach ZPO, 31. Aufl. Grundzüge 1 B vor § 511 ZPO, Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 10. Aufl., S. 697). Ein teilweiser Rechtsmittelverzicht (vgl. BGH aaO 144/145) kommt hier nicht in Betracht, da die Beklagte auf nichts "verzichtet" hat oder verzichten mußte. Im übrigen hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG (ähnlich wie im Schriftsatz vom 14. März 1972) auch nicht etwa ausdrücklich erklärt, daß ... sich die Berufung nur gegen die Verurteilung nach § 627 RVO richte, sondern nur beantragt, das SG-Urteil abzuändern" und die Klage abzuweisen". Dieser Antrag betraf sonach den ganzen Umfang des Klagebegehrens, d. h. sein Ziel ging aus den obengenannten Gründen zu Recht dahin, den Anspruch sowohl nach § 627 als auch nach § 622 RVO für unbegründet zu erklären. Das LSG hätte somit auch prüfen müssen, ob eine Verschlimmerung i. S. von § 622 RVO vorliegt (Bescheid vom 19. Januar 1971). Es ist nicht auszuschließen, daß es ohne diese Unterlassung anders entschieden hätte. Um dem LSG Gelegenheit zu geben, die unterbliebenen Feststellungen nachzuholen, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten, an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird zu prüfen haben, ob eine Wiedergewährung der Rente beim Vorliegen einer wesentlichen Änderung jedenfalls dann in Betracht kommt, wenn die jetzige MdE (mit 25 v. H.) um 10 v. H. über der 1948 angenommenen MdE liegt.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668816

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