Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Dezember 1965 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin, geboren am 7. Mai 1908, ist die Witwe des Versicherten Philipp O. (O.). O. wohnte früher in Heiligenstadt in der heutigen sowjetisch besetzten Zone (SBZ), von 1945 bis zu seinem Tode am 13. September 1956 war er jedoch in Reiffenhausen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) ansässig. Die Klägerin wohnt seit der Zeit vor dem letzten Weltkrieg in Heiligenstadt, seit August 1955 ist sie mit zweitem Wohnsitz in Reiffenhausen (Landkreis Göttingen) gemeldet; seit August 1960 ist sie nicht mehr in der BRD gewesen.

Die Beklagte gewährte der Klägerin seit Oktober 1956 die Witwenrente aus der Angestelltenversicherung ihres Ehemannes. Sie stellte die Zahlung dieser Rente jedoch mit Ablauf des Monats September 1960 ein, am 9. Mai 1961 erteilte sie darüber noch einen besonderen Bescheid, in dem sie erklärte, die Rente ruhe nach § 96 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), solange die Klägerin sich in der SBZ aufhalte.

Eine Klage, mit der die Klägerin die Weiterzahlung der Rente begehrte, führte zunächst zu dem rechtskräftig gewordenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen vom 15. Mai 1964; durch dieses Urteil wurde die Beklagte zur Erteilung eines Widerspruchsbescheides verurteilt. In dem Widerspruchsbescheid vom 5. Oktober 1964 verblieb die Beklagte bei der Ablehnung der Weiterzahlung der Rente. Die Klage hiergegen blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts –SG– Hildesheim vom 26.5.1965). Mit der Berufung machte die Klägerin geltend, die Beklagte habe zu Unrecht die Weiterzahlung der Rente abgelehnt; sie – die Klägerin – habe sich bis zum Tode ihres Ehemannes im Jahre 1956 mehr in Reiffenhausen als in Heiligenstadt aufgehalten, seit August 1960 habe sie nicht mehr nach Reiffenhausen kommen können, weil sie durch die Maßnahmen in der SBZ daran gehindert worden sei. Ihr Aufenthalt in der SBZ sei daher unfreiwillig gewesen und deshalb nur als vorübergehend anzusehen; die Beklagte habe ihren länger als 1 Jahr dauernden Aufenthalt in der SBZ jedenfalls nach § 99 Satz 2 des AVG als einen vorübergehenden behandeln müssen.

Das LSG Niedersachsen wies die Berufung der Klägerin mit Urteil von 17. Dezember 1965 zurück: Die Beklagte habe zu Recht die Weiterzahlung der Witwenrente abgelehnt; diese Rente ruhe, weil sich die Klägerin in der SBZ aufhalte. Die Klägerin habe in der ganzen Zeit seit ihrer Eheschließung (1934) bis zum Tode ihres Ehemannes (1956) ihren nicht nur vorübergehenden, sondern dauernden Aufenthalt an ihrem Familienwohnort in Heiligenstadt gehabt. Dieser Aufenthalt sei durch ihre wiederholten Besuche in der BRD und durch ihre zusätzliche Anmeldung in Reiffenhausen nicht zu einem nur vorübergehenden geworden. Die Beklagte habe ihr Ermessen nicht überschritten, wenn sie die Voraussetzungen des § 99 Satz 2 AVG verneint habe. Das LSG ließ die Revision zu.

Die Klägerin legte fristgemäß und formgerecht Revision ein.

Sie beantragte,

das Urteil des SG Hildesheim vom 26. Mai 1965 und das Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. Dezember 1965, sowie die Bescheide der Beklagten vom 9. Mai 1961 und vom 5. Oktober 1964 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Witwenrente über den 1. Oktober 1960 hinaus zu zahlen.

Die Klägerin rügte, das LSG habe Art. 3 des Grundgesetzes (GG) sowie die §§ 96 ff AVG verletzt. § 96 sei nicht anwendbar, weil die Klägerin auch in der BRD ihren ständigen Aufenthalt gehabt habe. An diesem ständigen Aufenthalt habe sich nichts geändert, weil die Klägerin durch Maßnahmen in der SBZ an der Rückkehr in die BRD verhindert gewesen sei. Die Beklagte habe auch einen begründeten Ausnahmefall i. S. des § 99 Satz 2 AVG annehmen müssen, weil sich die Klägerin unfreiwillig in der SBZ aufgehalten habe. Im übrigen sei § 96 AVG nicht anzuwenden, weil er insofern gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG verstoße, als er Deutsche mit Aufenthalt in der BRD und Deutsche mit Aufenthalt in der SBZ unterschiedlich behandele.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Klägerin ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–); sie ist jedoch unbegründet.

Der Klägerin ist – wie die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 9. Mai 1961 zu Recht festgestellt hat – seit Oktober 1960 keine Witwenrente zu zahlen. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Anspruch der Klägerin auf die Rente nach § 96 AVG (= § 1317 der Reichsversicherungsordnung –RVO–) ruht, weil sie sich in der SBZ aufhält. Nach § 96 AVG ruht die Rente eines Deutschen, solange er sich außerhalb des Geltungsbereichs des AVG (BRD und West-Berlin) aufhält, soweit sich aus den nachfolgenden Vorschriften nichts anderes ergibt. Hiervon kommt allenfalls § 98 Abs. 1 (= § 1319 Abs. 1 RVO) in Betracht; danach wird für Zeiten des vorübergehenden Aufenthalts außerhalb des Geltungsbereichs des AVG die Rente gezahlt. Als vorübergehender Aufenthalt gilt nach § 99 Satz 1 AVG (= § 1320 Satz 1 RVO) ein Aufenthalt bis zur Dauer eines Jahres. In begründeten Fällen kann der Versicherungsträger nach § 99 Satz 2 AVG Ausnahmen zulassen.

Wenn die Klägerin niemals ihren ständigen Wohnsitz in der BRD gehabt hätte, sondern sich hier nur wiederholt auf einige Wochen besuchsweise aufgehalten hätte – wie das LSG in dem angefochtenen Urteil angenommen hat – so würde § 98 Abs. 1 AVG – und damit auch § 99 Satz 2 – schon deshalb nicht anwendbar sein, weil die Vorschrift nach ihrem Sinn und Zweck nur Fälle ergreift, in denen ein Berechtigter seinen Aufenthalt aus dem Geltungsbereich des AVG vorübergehend in Gebiete außerhalb davon verlegt. § 98 Abs. 1 AVG normiert eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß die gesetzliche Rentenversicherung in der Regel nur im Geltungsbereich der für sie maßgebenden Gesetze leistet; die Gewährung von Leistungen setzt grundsätzlich (vgl. die §§ 94, 96 AVG) den Aufenthalt in diesem Geltungsbereich voraus (Territorialprinzip). Der Umstand, daß sich ein Berechtigter vorübergehend außerhalb des Geltungsbereichs aufhält, vermag für sich allein noch keine Ausnahme von diesem Grundsatz zu rechtfertigen. Der vorübergehende Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs rechtfertigt die Ausnahme vielmehr nur dann, wenn der Berechtigte vor diesem Aufenthalt seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich das AVG gehabt hat, wenn er also das Bundesgebiet lediglich vorübergehend im Sinne des § 99 AVG verlassen hat (Urteil des erk. Senats vom 28.6.1966, SozR Nr. 5 zu § 1317 RVO).

Selbst wenn aber die Klägerin – nach Anmeldung „mit zweitem Wohnsitz” in Reiffenhausen im Jahre 1955 – ihren ständigen Aufenthalt auch in der BRD gehabt hätte und es deshalb darauf ankäme, ob sie sich seit der Zeit vom August 1960, in der sie nicht mehr in der BRD gewesen ist, nur vorübergehend in der SBZ aufgehalten hat oder nicht, so würde dies nichts daran ändern, daß ihr seit Oktober 1960 zu Recht keine Rente mehr gezahlt worden ist. Für die Frage, ob die Klägerin nach August 1960 ihren nur vorübergehenden oder im Gegensatz dazu ihren ständigen (oder gewöhnlichen) Aufenthalt in der SBZ gehabt hat, kommt es allein auf das tatsächliche Verweilen an; es ist nicht erheblich, ob die Klägerin – nach ihrer letzten Ausreise aus der BRD – die Absicht gehabt hat, bei sich bietender Gelegenheit wieder Aufenthalt in der BRD zu nehmen und ob und wodurch sie an der Verwirklichung dieser Absicht gehindert worden ist (BSG 21, 91, 93). Auch wenn der Aufenthalt der Klägerin in der SBZ unfreiwillig gewesen ist, so ist er deshalb kein nur vorübergehender gewesen (Urteil des Bundessozialgerichts –BSG– vom 28.6.1966 aaO).

Der Aufenthalt der Klägerin in der SBZ hat länger als ein Jahr gedauert, er gilt deshalb nach § 99 Satz 1 nicht als ein vorübergehender Aufenthalt, der nach § 98 Abs. 1 AVG die Weiterzahlung der Rente rechtfertigt. Nach § 99 Satz 2 AVG kann allerdings der Versicherungsträger in begründeten Fällen Ausnahmen zulassen, d. h. er kann auch einen länger als ein Jahr dauernden auswärtigen Aufenthalt als einen vorübergehenden behandeln; insoweit handelt es sich um eine Entscheidung, die der Versicherungsträger nach pflichtgemäßem Verwaltungsermessen zu treffen hat; diese Entscheidung ist von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nur im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 zu überprüfen (Urt. des 1. Senats des BSG vom 1.2.1967 – 1 RA 45/66 –). Die Beklagte ist im vorliegenden Fall – nachdem sie verurteilt worden ist, einen Widerspruchsbescheid zu erteilen – bei der Ablehnung der Weiterzahlung der Rente verblieben; sie hat auch zu erkennen gegeben, daß sie die Voraussetzungen für einen begründeten Ausnahmefall nach § 99 Satz 2 AVG nicht als gegeben erachte, und dargelegt, warum ihrer Ansicht nach der Klägerin „die in § 99 Satz 2 AVG normierte Rechtswohltat” nicht zuteil werden könne. Die Beklagte hat nicht anders entscheiden müssen, wenn die Klägerin durch die Freizügigkeitsbeschränkung in der SBZ daran gehindert worden ist, wieder in der BRD Aufenthalt zu nehmen. Sie hat jedenfalls im vorliegenden Fall annehmen dürfen, daß ein Aufenthalt außerhalb der BRD von der Dauer, wie er hier vorgelegen hat (zur Zeit des Widerspruchs bereits seit 4 Jahren), dessen weitere Dauer zudem noch unabsehbar gewesen ist, auch nicht mehr ausnahmsweise nach § 99 Satz 2 AVG als ein nur vorübergehender Aufenthalt behandelt werden könne. Die Beklagte hat hierbei auch berücksichtigen dürfen, daß die Klägerin, selbst wenn sie im Jahre 1955 unter „Anmeldung eines zweiten Wohnsitzes” – verhältnismäßig kurze Zeit – „auch einen ständigen Aufenthalt in der BRD” gehabt hat, ihren Aufenthalt in der SBZ, „an ihrem Familienwohnort” auch vor 1960 stets beibehalten hat, so daß keine zwingende Veranlassung bestanden hat, ihren Aufenthalt in der SBZ nach 1960 als einen nur vorübergehenden zu behandeln. Die Auffassung des LSG, die Beklagte habe sich mit ihrer Entscheidung nach § 99 Satz 2 AVG im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens gehalten, ist daher nicht zu beanstanden.

Auch soweit die Klägerin die Ruhensvorschrift des § 96 AVG wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3. Abs. 1 GG für unanwendbar hält, vermag der Senat ihr nicht zu folgen. Es trifft zwar zu, daß nach § 96 AVG Deutsche mit Aufenthalt in der BRD und Deutsche mit Aufenthalt in der SBZ unterschiedlich behandelt werden; es ist auch richtig, daß nach § 100 Abs. 1 AVG Deutschen mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem auswärtigen Staat mit „amtlicher Vertretung” – nicht aber Deutschen mit Aufenthalt in der SBZ – die Rente unter bestimmten Voraussetzungen weitergezahlt werden kann; hieraus ergibt sich jedoch nicht, daß die Regelung des § 96 AVG grundgesetzwidrig ist. Diese Regelung beruht auf dem Grundgedanken, daß die Zerreißung Deutschlands nach den Zusammenbruch im Jahre 1945 auch zu einer Aufteilung der früheren gesamtstaatlichen Sozialversicherung geführt hat und die dadurch bedingten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse es nicht zulassen, die Sozialversicherung im Bundesgebiet uneingeschränkt mit sämtlichen Verpflichtungen der ehemaligen gesamtstaatlichen deutschen Sozialversicherung zu belasten, die gegenüber Berechtigten außerhalb des Gebietes der BRD und Westberlins bestehen. Die sozialversicherungsrechtliche Spaltung Deutschlands gab Veranlassung, die Berechtigten einem System zuzuordnen; hierbei diente der Wohnsitz – womit der ständige Aufenthalt gemeint war – als Abgrenzungsmerkmal. Diese Regelung differenziert nicht sachfremd oder gar willkürlich; sie hält sich jedenfalls im Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt daher nicht vor (vgl. hierzu auch Urteil des erk. Senats vom 28.6.1966 aaO). Ebensowenig kann die Klägerin auf Grund anderer Vorschriften des GG die Nichtanwendung des § 96 AVG verlangen. Diese Vorschrift berührt das Recht der Freizügigkeit „im Bundesgebiet” (Art. 11 GG) nicht. Sie verstößt auch nicht gegen die „Eigentumsgarantie” (Art. 14 GG). Die gesetzliche Regelung der Rentenversicherung beruht auf dem Grundgedanken, daß Leistungen der Rentenversicherung regelmäßig nur im Rechtsanwendungsgebiet der BRD und in West-Berlin zu erbringen sind (vgl. auch BSG 24 S. 227); diese generelle Leistungsbegrenzung betrifft nicht den Kern, sondern nur die Grenzen des öffentlich-rechtlichen Rentenanspruchs (Art. 14 Abs. 1 Satz 2) und stellt deshalb keine Enteignung dar.

Das LSG hat danach im Ergebnis zutreffend entschieden. Die Revision ist zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Haueisen, Dr. Buss, Sonnenberg

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 23.05.1967 durch Hoppe RegObersekretär Schriftführer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI707663

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