Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegeunfall. dritter Ort. wechselnder Aufenthaltsort. Familienverhältnisse. erweiterter häuslicher Bereich

 

Leitsatz (amtlich)

Werden die Wege nach dem Ort der Tätigkeit bedingt durch die familiären Verhältnisse gewöhnlich von unterschiedlichen Aufenthaltsorten aus angetreten, so sind diese Wege den üblichen Wegen von der Wohnung zur Arbeitsstätte gleichzusetzen.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Kassel (Entscheidung vom 04.06.1991; Aktenzeichen S 3 U 718/93)

Hessisches LSG (Entscheidung vom 30.06.1993; Aktenzeichen L 3 U 781/91)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin wegen der Folgen des am 6. Juli 1958 erlittenen Unfalls Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Zu jener Zeit war die Klägerin 16 Jahre alt. Sie war als Angestellte beim Fernmeldeamt W am Rhein beschäftigt. Privat war sie in der Wandervogelbewegung aktiv und hatte für das Wochenende vom 5. auf den 6. Juli 1958 ein Treffen der Wandervogelbewegung in der ca 11 km von W entfernt liegenden Jugendherberge in H organisiert. Dort verbrachte sie das Wochenende. Am Sonntag, dem 6. Juli 1958, hatte sie ihren Dienst in W um 13.00 Uhr anzutreten. Um ihre Arbeitsstelle pünktlich zu erreichen, verließ sie die Jugendherberge gegen 11.30 Uhr mit dem Fahrrad. Auf diesem Weg wurde sie kurze Zeit später in einen Verkehrsunfall verwickelt und zog sich hierbei eine Brustwirbelfraktur mit nachfolgender Querschnittslähmung zu.

Die Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 7. Januar 1959 ab, den Unfall vom 6. Juli 1958 als Arbeitsunfall zu entschädigen, und zwar im wesentlichen mit der Begründung, der Unfall habe sich auf einer von dem üblichen Weg - zwischen der Wohnung der Klägerin und ihrer Dienststelle - abweichenden Wegstrecke ereignet, wofür rein eigenwirtschaftliche Gründe ausschlaggebend gewesen seien.

Im Jahre 1981 stellte die Klägerin einen Antrag auf Rücknahme des ablehnenden Bescheides und Anerkennung ihres Begehrens. Dieses Verfahren blieb ohne Erfolg (Bescheide der Beklagten vom 15. Oktober 1981 und 19. Januar 1983; Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 1. Juli 1982 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 19. Januar 1983; Beschluß des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 28. Oktober 1983).

Am 5. Juli 1988 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Rücknahme der früheren Bescheide gemäß § 44 des Sozialgesetzbuches/Verwaltungsverfahren (SGB X). Zur Begründung brachte sie im wesentlichen vor, sie habe zur damaligen Zeit keine elterliche Wohnung mehr gehabt, von der aus sie regelmäßig zum Dienst gegangen sei. Ihre Mutter habe nicht mehr gelebt, ihr Vater sei als Handelsvertreter die meiste Zeit außer Haus gewesen und habe im übrigen dem Alkohol zugesprochen. In der früheren elterlichen Wohnung habe man weder gekocht noch gewaschen oder geheizt. Wegen dieser deprimierenden Atmosphäre habe sie diese Wohnung deshalb nur ausnahmsweise als Übernachtungsstätte genutzt. Rückhalt habe sie bei den Familien ihrer Freundinnen gefunden, wo sie gegessen und übernachtet habe, vor allem auch bei der Wandervogelgruppe, mit der sie in jeder freien Minute unterwegs gewesen sei. Ihren Weg zur Arbeit habe sie deshalb in den seltensten Fällen von der Familienwohnung aus angetreten. Normal sei es gewesen, im Jugendheim oder auch im freien Wald zu übernachten und von dort aus den Dienstweg zu beginnen.

Die Beklagte hat es mangels neuer Tatsachen abgelehnt, die Entscheidung vom 7. Juni 1959 zurückzunehmen und einen Zugunstenbescheid zu erlassen (Bescheid vom 2. August 1988). Das SG hat die Beklagte dagegen verurteilt, den früheren Bescheid zurückzunehmen und die Klägerin wegen der Folgen des am 6. Juli 1958 erlittenen Arbeitsunfalls zu entschädigen. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe zur damaligen Zeit keinen eigentlichen Lebensmittelpunkt gehabt, so daß sich ihr Lebensmittelpunkt jeweils dort befunden habe, wo sie sich mit ihrer Wandervogelgruppe aufgehalten habe. Dies sei am 5. und 6. Juli 1958 die Jugendherberge in H gewesen, so daß ihr von dort aus angetretener Weg zur Arbeitsaufnahme nach § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden habe (Urteil vom 4. Juni 1991).

Das LSG hat dieses Urteil am 30. Juni 1993 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Entgegen der Ansicht der Beklagten sei nach dem glaubhaften Vorbringen der Klägerin zwar von einem anderen Sachverhalt auszugehen, den die Beklagte im Rahmen der beantragten Zugunstenentscheidung hätte aufgreifen müssen. Danach habe die Klägerin die Wohnung ihres Vaters nur gelegentlich genutzt und habe ihren Arbeitsweg von unterschiedlichen Orten aus angetreten; dies gelte insbesondere für ihre Übernachtungen bei Freundinnen und im Freien, für ihre Aufenthalte in dem ca 1 km von der Arbeitsstelle entfernten Jugendheim (Zitadelle) in W als auch für die 15 km von W entfernte Jugendherberge A . Jedoch könne nicht jeder beliebige Aufenthaltsort der Klägerin als (erweiterter) häuslicher Bereich angesehen werden. Auszunehmen sei hiervon der Aufenthalt in H am 5./6. Juli 1958. Denn in dem von der Arbeitsstelle 11 km entfernten H habe die Klägerin weniger häufig als in der Jugendherberge A übernachtet. Hinzu komme, daß die Klägerin das Wochenende nicht deshalb in H verbracht habe, um den unerfreulichen häuslichen Verhältnissen zu entfliehen, sondern um mit einer Wandervogelgruppe aus Duisburg zu einer Besprechung zusammenzutreffen. Dieses dem privaten Bereich zuzurechnende Ziel habe im Vordergrund gestanden, so daß der Rückweg von H nach W auch nicht als ein versicherter Weg von einem dritten Ort zur Arbeitsstätte angesehen werden könne. Die Klägerin hätte an dem Treffen in H auch teilgenommen, wenn sie ein intaktes Elternhaus gehabt hätte.

Mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 550 Abs 1 RVO. Diese Vorschrift verlange für den Versicherungsschutz nur, daß der Weg entweder zum Ort der Tätigkeit hin - oder vom Ort der Tätigkeit wegführe. Der jeweils andere Grenzpunkt des Weges sei nicht festgelegt. Zwar sei von der Rechtsprechung der Grundsatz entwickelt worden, daß es sich bei dem anderen Grenzpunkt in der Regel um den privaten häuslichen Bereich handele. Sei dieser - wie hier - aber gerade nicht zu fixieren, dann müßten die unterschiedlichen "normalen" Übernachtungsstätten als erweiterter häuslicher Bereich angesehen werden. Dies habe das LSG auch weitgehend erkannt. Dabei habe es aber nicht nachvollziehbar begründet, weshalb der Aufenthalt in H als häuslicher Bereich auszuscheiden habe. Hierfür reiche die Entfernung zur Arbeitsstätte ebensowenig aus wie der Umstand, daß sich die Klägerin dort weniger häufig aufgehalten habe. Auch die Tatsache, daß die Klägerin an jenem Wochenende ein Treffen mit der Wandervogelgruppe aus Duisburg organisiert habe, könne die Auffassung des LSG nicht stützen. Denn dafür wäre es erforderlich gewesen, im einzelnen festzustellen, weshalb sich ihre Wandervogelgruppe zu bestimmten Zeitpunkten gerade an den anderen, vom LSG als dem häuslichen Bereich zuzurechnenden Orten (Zitadelle, A usw) aufgehalten habe. Auch der Auffassung, es habe sich nicht wenigstens um einen versicherten Arbeitsweg von einem dritten Ort gehandelt, könne nicht gefolgt werden. Gerade der Umstand, daß die Zugehörigkeit zur Wandervogelgruppe für die Klägerin den Familienersatz dargestellt habe, spreche gegen die Annahme, daß sie an dem Treffen in H auch teilgenommen hätte, wenn sie ein intaktes Zuhause gehabt hätte.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Juni 1993 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 4. Juni 1991 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend und vertritt die Ansicht, die Revision könne schon deshalb keinen Erfolg haben, weil der Klägerin der gemäß § 44 SGB X grundsätzlich eröffnete Weg auf Zugunstenentscheidung im vorliegenden Fall verschlossen sei; über ihr Begehren sei nämlich bereits durch Urteil des LSG vom 19. Januar 1983 rechtskräftig entschieden worden. Auch sei zweifelhaft, ob die Klägerin überhaupt "neue" Tatsachen vorgebracht habe. Es könne nicht angehen, nun, 35 Jahre nach dem Unfallereignis nach bloßer persönlicher Anhörung der Klägerin einen ganz anderen Sachverhalt als zutreffend anzunehmen und dann von neuen Tatsachen iS des § 44 SGB X zu sprechen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte dem Grunde nach einen Anspruch auf Entschädigung wegen der Folgen des am 6. Juli 1958 erlittenen Unfalls, weil sie auf einem mit ihrem Beschäftigungsverhältnis zusammenhängenden Weg nach dem Ort der Tätigkeit verunglückt ist (§ 550 Abs 1 RVO).

Im Gegensatz zur Ansicht der Beklagten steht einer Zugunstenentscheidung gemäß § 44 Abs 1 SGB X nicht entgegen, daß über dasselbe Sachbegehren bereits ablehnend mit Rechtskraftwirkung entschieden worden ist (vgl BSGE 51, 139, 141 mwN). Nach den - nicht mit zulässigen oder begründeten Verfahrensrügen angegriffenen - bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat die Klägerin in dem erneuten, 1988 begonnenen Verwaltungsverfahren auch erstmals im einzelnen dargelegt und begründet, weshalb sie die ehemals elterliche Wohnung nur noch gelegentlich hat nutzen können; deshalb habe die Beklagte die Rücknahme des ablehnenden Bescheides vom 7. Januar 1959 nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, es seien keine ursprünglich nicht beachteten Tatsachen oder Erkenntnisse vorhanden.

Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 - 545 RVO zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO setzt nicht voraus, daß der Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit von der Wohnung des Versicherten aus angetreten oder wieder erreicht wird. In der genannten Vorschrift ist allein der Ort der Tätigkeit als Ende des Hinweges oder als Ausgangspunkt des Rückweges festgelegt. Infolgedessen muß der Hinweg weder von der Wohnung aus angetreten werden, noch der Rückweg in der Wohnung enden (s grundlegend BSGE 1, 171, 172; 22, 60, 61; 32, 38, 41; BSG SozR 2200 § 550 Nr 78; zuletzt BSG Urteil vom 25. Juni 1992 - 2 RU 33/91 - HV-Info 1992, 1977-1982 mwN). Entscheidend für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO ist, ob der Weg zur Arbeitsstätte rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Versicherten geprägt ist, seine versicherte Tätigkeit am Ort der Tätigkeit aufzunehmen.

Diese Frage stellt sich in der Regel allerdings nur, wenn nicht die eigene Wohnung oder die gewöhnliche Unterkunft, sondern ein anderer - sogenannter dritter Ort - Ausgangs- oder Endpunkt des nach oder von dem Ort der Tätigkeit angetretenen Weges ist (BSG SozR 2200 § 550 Nr 78 sowie Urteil vom 25. Juni 1992 - 2 RU 33/91 - HV-Info 1992, 1977-1982). Handelt es sich bei dem Ausgangs- bzw Endpunkt dagegen um die Wohnung des Versicherten, so wird grundsätzlich ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit angenommen (BSG SozR 2200 § 550 Nr 76; Kasseler Kommentar - Ricke, Stand 1. Mai 1994, § 550 RVO RdNr 39: ..."sozusagen der natürliche Bezugsort").

In Anwendung dieser von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze hat die Klägerin unter Versicherungsschutz gestanden, als sie am 6. Juli 1958 auf dem Weg von der Jugendherberge in H zu ihrer Arbeitsstätte in W verunglückte.

Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, daß die Klägerin ihren Arbeitsweg von häufig wechselnden Ausgangspunkten angetreten hat. Nach den bindenden Feststellungen des LSG hat sie sich wegen der deprimierenden familiären Verhältnisse nur gelegentlich in der Wohnung ihres Vaters, überwiegend aber bei den Familien ihrer Freundinnen und dort aufgehalten, wohin sie die Aktivitäten ihrer Wandervogelgruppe geführt haben. Die Wohnung ihres Vaters kann deshalb ebensowenig als ihre gewöhnliche Unterkunft angesehen werden, wie die unterschiedlichen Aufenthalts- und Übernachtungsorte bei ihren Freundinnen, im Freien oder in den Jugendherbergen (Zitadelle, A und H ) als ungewöhnliche, sogenannte dritte Orte bewertet werden können.

Dies hat das LSG insoweit zutreffend erkannt, als es die wechselnden Aufenthalte in der väterlichen Wohnung, bei den Freundinnen sowie in der Zitadelle und in der Jugendherberge A insgesamt dem "erweiterten häuslichen Bereich" zugeordnet hat. Nicht gefolgt werden kann dem LSG aber insofern, als es den Aufenthalt in H von dieser rechtlichen Einordnung ausgenommen hat. Die hierfür gegebene Begründung, die Klägerin habe in H weniger häufig als in der Jugendherberge A übernachtet, reicht für eine solche Differenzierung nicht aus. Sie verkennt nicht nur, daß auch die Jugendherberge in H zu den durch die familiären Probleme bedingten Ersatzaufenthalten zählte, sondern auch, daß sich der Weg von H zum Ort der Tätigkeit von den übrigen Wegen zur Arbeit nicht deutlich unterschied. So befand sich die Jugendherberge in A ca 15 km von der Arbeitsstätte entfernt, während die Entfernung von H aus nur ca 11 km betrug. Im übrigen hat auch das LSG bezüglich der anderen, dem erweiterten häuslichen Bereich zugeordneten Ausgangspunkte nicht nach deren jeweiliger Häufigkeit differenziert. Entscheidend ist im vorliegenden Fall, daß die genannten wechselnden Ausgangspunkte aus der familiären Situation und dadurch bedingt aus dem regelmäßigen Aufenthalt in der Wandervogelgruppe resultierten und deshalb als erweiterter häuslicher Bereich anzusehen sind. Die Wege aus diesem Bereich zum Ort der Tätigkeit sind daher den üblichen Wegen von der Wohnung zur Arbeitsstätte gleichzusetzen. Gesichtspunkte, die gegen das Vorhaben der Klägerin sprächen, den Weg am 6. Juli 1958 zum Zwecke der Arbeitsaufnahme unternommen zu haben, sind nicht ersichtlich.

Das Urteil des LSG war daher aufzuheben und das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 921718

BB 1995, 315

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