Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 05.06.1992)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Juni 1992 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung von vorgezogenem Altersruhegeld (Arg) wegen Arbeitslosigkeit. Umstritten ist insbesondere, ob sich dieser Anspruch noch nach der bis zum 31. Dezember 1981 geltenden Fassung des § 1248 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) richtet. Vorrangig ist zu prüfen, ob die Vorinstanz dem Kläger hinreichend rechtliches Gehör gewährt hat.

Der am 23. Juli 1930 geborene Kläger war zuletzt im Februar 1975 rentenversicherungspflichtig beschäftigt. Vom 14. Juli bis 31. Dezember 1975 bezog er von der Beklagten Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) auf Zeit. Er erhält seit Januar 1976 Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und ist seit dem 5. Oktober 1982 beim zuständigen Arbeitsamt (AA) arbeitslos gemeldet.

Den im Januar 1990 gestellten Antrag des Klägers auf Bewilligung von vorgezogenem Arg wegen Arbeitslosigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 5. April 1990 ab, weil er innerhalb der letzten zehn Jahre vor Vollendung des 60 Lebensjahres nicht mindestens acht Jahre eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt habe. Dem Widerspruch des Klägers half die Beklagte nicht ab und leitete ihn mit dessen Einverständnis dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf als Klage zu, das diese durch Urteil vom 5. Dezember 1991 abwies.

Seine dagegen beim Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen eingelegte Berufung begründete der Kläger zunächst damit, daß er durch Krankheit gehindert gewesen sei, zur Verhandlung zu kommen. Mit Schreiben vom 9. Mai 1992 trug er vor, er könne nicht verstehen, daß “wir in einem Bundesland leben und nicht in einem Reich, aber noch nach der alten RVO abgestempelt werden”. Das Gericht könne “ruhig nach Akten urteilen”, denn er “bekomme Sozialhilfe und habe somit kein Geld, um nach Essen zu kommen”. Daraufhin lud das LSG die Beteiligten auf den 5. Juni 1992 zur mündlichen Verhandlung und ordnete das persönliche Erscheinen des Klägers an, der dem Termin dann wegen eines Krankenhausaufenthaltes fernblieb. Durch Urteil vom 5. Juni 1993 wies das LSG die Berufung des Klägers im wesentlichen mit folgenden Erwägungen zurück:

Der Senat habe trotz Nichterscheinens des Klägers aufgrund einseitiger mündlicher Verhandlung entschieden (vgl § 124 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Der Kläger sei in der Ladung auf diese Möglichkeit ausdrücklich hingewiesen worden. Anlaß zu einer Vertagung habe nicht bestanden. In der mündlichen Verhandlung seien keine neuen Tatsachen vorgetragen worden. Der Kläger habe eine Verlegung des Termins nicht beantragt, sondern am 4. Juni 1992 lediglich telefonisch mitteilen lassen, daß er am selben Tage in ein Krankenhaus eingeliefert werde. Bereits mit Schreiben vom 9. Mai 1992 habe er sein Einverständnis mit einer Entscheidung nach Lage der Akten zum Ausdruck gebracht gehabt.

Die Berufung des Klägers sei nicht begründet. Er habe keinen Anspruch auf vorgezogenes Arg wegen Arbeitslosigkeit gemäß § 1248 Abs 2 RVO. In den letzten zehn Jahren vor Vollendung des 60. Lebensjahres (23. Juli 1990) habe er nicht mindestens acht Jahre eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit iS der Sätze 2 und 3 dieser Vorschrift ausgeübt. Seine seit Oktober 1982 bestehende Arbeitslosigkeit habe den Zehnjahreszeitraum nicht verlängert, weil durch diese Arbeitslosigkeit nicht eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unterbrochen worden sei. Selbst bei einer Verlängerung des Zehnjahreszeitraums um die Zeit, während welcher der Kläger beim AA gemeldet gewesen sei, dh von Oktober 1982 bis Juli 1990, läge eine mindestens achtjährige rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit des Klägers nicht vor, weil er seine letzte Beschäftigung bereits Ende Februar 1975 aufgegeben und nach Beendigung des Rentenbezuges mehr als sechs Jahre keine versicherungspflichtige Beschäftigung mehr ausgeübt habe.

Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend:

Das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Zunächst hätte ihm das LSG einen besonderen Vertreter iS von § 72 Abs 3 Satz 2 SGG bestellen müssen; denn er habe in seinem Schreiben vom 9. Mai 1992 darauf hingewiesen, daß er für die Fahrt zu einem Termin vor dem LSG in Essen kein Geld habe. Außerdem sei er – wie seine Berufungsbegründung zeige – nicht in der Lage, sich über rechtserhebliche Tatsachen allgemeinverständlich auszudrücken.

Zudem habe das LSG nicht aufgrund einseitiger mündlicher Verhandlung entscheiden dürfen. Es hätte ihm Gelegenheit geben müssen, sich in der mündlichen Verhandlung zur Sach- und Rechtslage zu äußern. Auf eine mündliche Verhandlung habe er insbesondere mit seinem Schreiben vom 9. Mai 1992 nicht verzichtet. Daß er an der mündlichen Verhandlung habe teilnehmen wollen, zeige sich auch daran, daß er sich am Tage vor dem Termin von seiner Ehefrau beim Gericht telefonisch habe entschuldigen lassen. Gleichzeitig habe er damit seinen Wunsch nach Vertagung genügend deutlich gemacht.

Das angefochtene Urteil beruhe auch auf dem geltend gemachten Verfahrensfehler. Da das Gericht entschieden habe, ohne ihn zu hören, habe er keine Gelegenheit gehabt, seine Sachdarstellung und seine Rechtsauffassung vorzubringen. Da es um seine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gehe, brauche er an sich nicht darzulegen, was er bei dieser Gelegenheit in tatsächlicher Hinsicht vorgetragen hätte. Vorsorglich mache er geltend, er hätte sich auf Art 2 § 7 Abs 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) berufen, der die Anwendung des § 1248 Abs 2 RVO in der bis zum 31. Dezember 1981 geltenden Fassung ermögliche. Diese Bestimmung habe noch nicht die einschränkenden Voraussetzungen enthalten, die § 1248 Abs 2 Satz 2 RVO aufstelle (mindestens acht Jahre versicherungspflichtige Beschäftigung in den letzten zehn Jahren). Art 2 § 7 Abs 1 ArVNG greife hier ein, da er, der Kläger, bereits seit Januar 1976 arbeitslos gewesen sei. Eine Meldung beim AA sei insofern nicht unbedingt erforderlich. Er könne den lückenlosen Nachweis führen, daß er sich ernsthaft und fortlaufend um Arbeit bemüht habe. Jedenfalls müsse er wegen eines Beratungsfehlers der Beklagten so gestellt werden, als ob er die Voraussetzungen des Art 2 § 7 Abs 1 ArVNG erfülle. Da bis in das Jahr 1982 hinein ein Rentenstreitverfahren gelaufen sei, habe ihn die Beklagte in Kenntnis seiner langjährigen Erwerbslosigkeit und seines Sozialhilfebezuges rechtzeitig auf die zum 1. Januar 1982 in Kraft getretene Änderung des Gesetzes hinweisen müssen. Er hätte sich dann schon vor dem 31. Dezember 1981 arbeitslos gemeldet, um seine Anwartschaft auf vorgezogenes Arg zu erhalten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 5. Juni 1992 aufzuheben, das Urteil des SG Düsseldorf vom 5. Dezember 1991 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 5. April 1990 zu verurteilen, ihm vorgezogenes Arg nach § 1248 Abs 2 RVO zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist zulässig. Er hat insbesondere den geltend gemachten Verfahrensmangel (Verletzung des rechtlichen Gehörs) iS von § 164 Abs 2 Satz 3 SGG hinreichend bezeichnet. Da sich der Kläger nicht darauf beschränkt hat zu rügen, daß ihm die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor dem LSG zu Unrecht versagt worden sei, sondern vorsorglich auch dargelegt hat, was er im Termin vorgetragen hätte, kommt es auf die von ihm aufgeworfene Frage, ob seine Bezeichnungspflicht tatsächlich so weit reicht (vgl dazu BVerwG, NJW 1992, 3185), hier nicht an.

Die Revision ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Nach Auffassung des erkennenden Senats liegt der gerügte Verfahrensmangel vor. Der Anspruch auf rechtliches Gehör iS des § 62 SGG (vgl auch Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes) gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 1 SGG), muß den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 4 S 5 mwN). Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel dadurch genügt, daß das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt (§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), der Beteiligte bzw sein Prozeßbevollmächtigter ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzen Termin eröffnet wird (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 27. Januar 1993 – 6 RKa 19/92).

Diese Anforderungen hat das LSG erfüllt. Es war auch grundsätzlich befugt, die mündliche Verhandlung in Abwesenheit des Klägers durchzuführen und daraufhin durch Urteil zu entscheiden. Denn der Kläger ist auf diese Möglichkeit in der Ladung zum Termin ausdrücklich hingewiesen worden (vgl § 110 Abs 1 Satz 2 SGG). Ein Hinweis auf § 126 SGG (Entscheidung nach Aktenlage) ermöglicht insofern erst recht den Erlaß eines Urteils aufgrund (einseitiger) mündlicher Verhandlung.

Ein Termin zur mündlichen Verhandlung kann – und ggf muß – jedoch gemäß § 202 SGG iVm dem entsprechend anwendbaren § 227 Abs 1 Satz 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) bei Vorliegen erheblicher Gründe aufgehoben werden (vgl BSG, Urteil vom 27. Januar 1993, aaO). Allein der Umstand, daß die Senatsvorsitzende des LSG das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet hatte (vgl § 111 Abs 1 SGG), stand allerdings der Durchführung des Termins in Abwesenheit des Klägers und der anschließenden Entscheidung nicht entgegen (vgl BSG SozEntsch l/4 § 111 Nr 4). Dies gilt insbesondere dann, wenn der Kläger unentschuldigt ferngeblieben wäre. Es haben hier jedoch sonstige erhebliche Gründe für eine Verlegung oder Vertagung des Termins bestanden. Der Kläger hatte sich am Tage vor dem Termin durch seine Ehefrau ordnungsgemäß entschuldigen lassen. Durch seinen plötzlich erforderlich gewordenen Krankenhausaufenthalt war er gehindert, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Entgegen der Auffassung des LSG hat er auch nicht zum Ausdruck gebracht, daß ihm an einer persönlichen Anhörung nichts liege. Zwar hatte er sich mit Schreiben vom 9. Mai 1992 dahin geäußert, das Gericht könne ruhig nach Aktenlage urteilen, weil er Sozialhilfe bekomme und damit kein Geld habe, nach Essen zu kommen. Darin ist jedoch weder ein wirksames Einverständnis iS von § 124 Abs 2 SGG zu sehen, noch ist dadurch sonstwie ein Desinteresse an einer Gerichtsverhandlung zum Ausdruck gekommen. Dies ergibt sich bereits aus der angegebenen Begründung. Da allein Geldmangel den Kläger daran hinderte, auf eigene Kosten zu einer Gerichtsverhandlung anzureisen, durfte das LSG aus dieser Erklärung keine weitergehenden, nachteiligen Schlüsse für den Kläger ziehen. Dies hat es zunächst auch nicht getan, sondern durch die Anordnung des persönlichen Erscheinens sogar die finanziellen Hindernisse für eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung beseitigt. Denn der Kläger hätte gemäß § 191 SGG die ihm durch die Wahrnehmung des Termins entstandenen Kosten erstattet erhalten. Da auch der Vermerk der Geschäftsstelle über den Telefonanruf der Ehefrau am Vortage der Sitzung keine Anhaltspunkte dafür enthält, daß der Kläger auf die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verzichten wollte, hätte das LSG nicht ohne weiteres in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden dürfen. Vielmehr wäre nach dem Eingang der Entschuldigung zumindest eine vorherige Unterrichtung des Klägers erforderlich gewesen, daß so verfahren werden solle. Ohne einen derartigen Hinweis hätte das LSG den Termin aufheben oder vertagen müssen. Unbeachtlich ist dabei, daß der Kläger keinen ausdrücklichen Antrag auf Terminsverlegung gestellt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es auf einen solchen nämlich nicht an, wenn der Beteiligte, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war, sich zu dem Termin begründet entschuldigt hat. Der Beteiligte darf dann darauf vertrauen, daß er noch Gelegenheit zur persönlichen Äußerung erhält (vgl BSGE 47, 35, 37; BSG, Urteil vom 27. Januar 1993, aaO).

Mit Beschluß vom 12. Oktober 1988 – 3 BK 7/88 – hat der 3. Senat des BSG allerdings die Auffassung vertreten, daß das Vertrauen des Klägers nicht in dieser Weise geschützt sei, wenn das Gericht in der Terminsmitteilung, mit der es das persönliche Erscheinen angeordnet habe, zugleich auf § 126 SGG hingewiesen habe. Aufgrund dieses Hinweises habe der Kläger trotz der Anordnung des persönlichen Erscheinens mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung und einer Entscheidung auch bei Nichterscheinen rechnen müssen. Diese Entscheidung dürfte in Widerspruch zu den Urteilen des BSG vom 1. August 1978 – 7 RAr 42/77 – (BSGE 47, 35) und vom 27. Januar 1993 – 6 RKa 19/92 – stehen. Da ein Hinweis auf § 126 SGG in den bundeseinheitlich verwendeten Ladungsformularen – jedenfalls in jüngerer Zeit – regelmäßig enthalten ist, muß davon ausgegangen werden, daß auch in den vom 7. und 6. Senat entschiedenen Fällen ein derartiger Hinweis erfolgt war, ohne daß dies allerdings in den Urteilen zum Ausdruck kommt. Jedenfalls sollten die von diesen Senaten vertretenen Grundsätze zur Wahrung des rechtlichen Gehörs auch bei Vorliegen eines Ladungshinweises auf § 126 SGG Anwendung finden. Denn dieser Hinweis bezieht sich bei verständiger Würdigung in erster Linie auf die Fälle des unentschuldigten Fernbleibens des Beteiligten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war. Durch eine solche Anordnung bringt das Gericht nämlich zum Ausdruck, daß es auf die Anwesenheit des betreffenden Beteiligten Wert legt, sie sogar für erforderlich hält. Daran ändert auch der Hinweis auf § 126 SGG nichts. Er öffnet nur die Möglichkeit einer Entscheidung in Abwesenheit des Beteiligten, erlaubt jedoch keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das Gericht muß in jedem Falle prüfen, ob es ohne Anhörung des Beteiligten entscheiden kann. Hat sich der Beteiligte vor dem Termin ordnungsgemäß entschuldigt, hat das Gericht diesen – jedenfalls wenn er nicht rechtskundig vertreten ist – auch ohne Vorliegen eines förmlichen Terminsverlegungsantrags umgehend zu verständigen, sofern die mündliche Verhandlung gleichwohl stattfinden und der Rechtsstreit durch Urteil entschieden werden soll. Das Gericht ändert damit nämlich seine erkennbare Einstellung zur Gebotenheit einer persönlichen Anhörung des Beteiligten und hat ihm dies im Rahmen einer fairen Verfahrensführung zur Vermeidung von Überraschungen rechtzeitig vor dem Termin bekannt zu geben. Der Rechtsauffassung des 3. Senats vermag der erkennende Senat daher nicht zu folgen. Gleichwohl kann hier von einer Anfrage beim 3. Senat des BSG, ob er an seiner Ansicht festhält (vgl § 41 Abs 3 Satz 1 SGG), abgesehen werden, weil es für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits auf diese Abweichung nicht ankommt.

Allerdings ist nicht schon aus anderen Gründen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu bejahen. Der Kläger rügt zwar noch, daß das LSG ihm keinen besonderen Vertreter beigeordnet habe. Dabei bezieht er sich jedoch auf die Regelung des § 72 Abs 3 Satz 2 SGG, die bereits mit Wirkung vom 1. Januar 1981 durch das Gesetz über die Prozeßkostenhilfe vom 13. Juni 1980 (BGBl I, 677) aufgehoben worden ist. Nach der hier maßgebenden Fassung des § 72 SGG kommt die Bestellung eines besonderen Vertreters nicht in Betracht. Weder war der Kläger nicht geschäftsfähig, noch war sein Aufenthaltsort vom Sitz des Gerichts weit entfernt. Ebensowenig ist ein Verfahrensfehler darin zu sehen, daß das LSG den Kläger nicht auf die Möglichkeit eines Antrages auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts hingewiesen hat. Ausgehend von der materiellen Rechtsauffassung des LSG fehlte es nämlich insofern an einer hinreichenden Erfolgsaussicht der Berufung (vgl § 114 ZPO). Das Berufungsurteil ist aber jedenfalls aus Gründen des materiellen Rechts aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob die Gewährung von Arg wegen Arbeitslosigkeit zu Recht abgelehnt worden ist.

Der Anspruch des Klägers auf Arg wegen Arbeitslosigkeit richtet sich noch nach dem durch Art 6 Nr 24 des Gesetzes zur Reform der Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 ≪RRG 1992≫) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I, 2261) gestrichenen Vierten Buch der RVO, da er seinen Rentenantrag bereits im Januar 1990 gestellt hat und sich dieser auch auf Leistungen vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches ≪SGB VI≫; dazu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).

Nach § 1248 Abs 2 RVO in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung erhält Arg auf Antrag auch der Versicherte, der das 60. Lebensjahr vollendet, die Wartezeit nach Abs 7 Satz 2 dieser Vorschrift erfüllt hat und nach einer Arbeitslosigkeit von mindestens 52 Wochen innerhalb der letzten eineinhalb Jahre arbeitslos ist. Dies gilt nur, wenn der Versicherte in den letzten zehn Jahren mindestens acht Jahre eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat. Bei der Ermittlung der zehn Jahre nach Satz 2 werden die in den §§ 1251 und 1259 Abs 1 Nrn 1 bis 4 RVO genannten Zeiten sowie die Rentenbezugszeiten nicht mitgerechnet, auch wenn sie bei der Ermittlung der Versicherungsjahre nach § 1258 RVO nicht anrechenbar sind

Das LSG hat keine Ausführungen dazu gemacht, ob der Kläger die Voraussetzungen des Satzes 1 dieser Vorschrift erfüllt. Aus den berufungsgerichtlichen Feststellungen läßt sich jedoch entnehmen, daß der Kläger am 22. Juli 1990 (einen Tag vor seinem 60. Geburtstag; vgl dazu KassKomm/Niesel § 1248 RVO RdNr 3) das 60. Lebensjahr vollendet hat und innerhalb der letzten eineinhalb Jahre davor mindestens 52 Wochen lang arbeitslos gewesen ist. Denn er war seit dem 5. Oktober 1982 beim AA arbeitslos gemeldet. Ob darüber hinaus auch die Wartezeit von 180 Kalendermonaten erfüllt ist, ergibt sich aus den Ausführungen des LSG allerdings nicht. Dazu müssen die erforderlichen Feststellungen nachgeholt werden, wenn das begehrte Arg nicht schon aus anderen Gründen zu versagen ist.

Nach der zutreffenden Auffassung des LSG scheitert der Anspruch des Klägers bei Zugrundelegung der letzten Fassung des § 1248 Abs 2 RVO an den besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für das Arbeitslosen-Arg, die in den Sätzen 2 und 3 dieser Vorschrift geregelt sind. Auch unter Berücksichtigung aller denkbaren, bei der Bemessung des maßgeblichen Zehnjahreszeitraumes nicht mitzuzählenden Ausfallzeiten kann er in dem so festgelegten zeitlichen Rahmen nicht die erforderlichen acht Jahre mit versicherungspflichtiger Beschäftigung oder Tätigkeit nachzuweisen. Gegen diese Beurteilung wendet sich der Kläger auch nicht. Er macht vielmehr geltend, auf ihn finde noch die bis zum 31. Dezember 1981 geltende Fassung dieser Vorschrift Anwendung, welche keine besonderen versicherungsrechtlichen Anforderungen für die letzten zehn Jahre vor Eintritt des Versicherungsfalles enthielt. Die Sätze 2 und 3 des § 1248 Abs 2 RVO sind nämlich erst durch Art 4 § 1 Nr 27 des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz ≪AFKG≫) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I, 1497) angefügt worden. Ohne das darin geregelte Belegungserfordernis könnte dem Kläger Arbeitslosen-Arg zustehen.

Nach Art 2 § 7 Abs 1 Satz 1 ArVNG ist § 1248 Abs 2 RVO in der am 31. Dezember 1981 geltenden Fassung ua für die Versicherten weiter anwendbar, die spätestens am 1. Januar 1982 arbeitslos geworden sind. Das Vorliegen von Arbeitslosigkeit beurteilt sich grundsätzlich nach den zur Zeit der Entstehung des Rentenanspruchs geltenden Regelungen des Arbeitsförderungsgesetzes (≪AFG≫; vgl BSG SozR 2200 § 1248 Nr 28). Gemäß § 101 AFG ist ein Arbeitnehmer arbeitslos, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nur eine kurzzeitige Beschäftigung ausübt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG gehört zur Arbeitslosigkeit iS der Rentenversicherung auch die Verfügbarkeit nach § 103 AFG (vgl zB BSG SozR 2200 § 1248 Nrn 15, 17). Ob diese Voraussetzungen beim Kläger in der Zeit vor dem 5. Oktober 1982 vorlagen, läßt sich anhand der bisherigen Feststellungen des LSG noch nicht abschließend beurteilen. Da die Meldung beim AA nicht zu den notwendigen Merkmalen der Arbeitslosigkeit gehört (vgl BSGE 21, 21; 29, 120; 35, 85), ist ihr Fehlen nicht von vornherein schädlich. Ebensowenig steht die wiederholte Beantragung von EU-Rente (vgl BSG SozR 2200 § 1248 Nrn 15, 28) oder der Umstand, daß der Kläger über längere Zeit keine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt hatte (vgl BSG SozR Nrn 10, 15, 21 zu § 1248 RVO), im vorliegenden Falle der Annahme von Arbeitslosigkeit entgegen. Allerdings sind unter diesen Umständen höhere Anforderungen an den Nachweis der Arbeitsbereitschaft zu stellen. Ob danach hier eine Arbeitslosigkeit des Klägers spätestens ab 1. Januar 1982 bejaht werden kann, bedarf noch weiterer tatsächlicher Klärung. Da der Senat die erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst nachholen kann (vgl § 163 SGG), ist eine Zurückverweisung der Sache an das LSG geboten.

Sollte sich eine durchgehende Arbeitslosigkeit des Klägers vom 1. Januar 1982 bis zum 22. Juli 1990 nachweisen lassen, würde er dadurch iS von Art 2 § 7 Abs 1 Satz 2 ArVNG auch die Voraussetzungen des § 1248 Abs 2 RVO in der bis zum 31. Dezember 1981 geltenden Fassung erfüllen können. Denn in die Übergangsvorschrift sollten alle diejenigen Versicherten einbezogen werden, die sich auf die neue Regelung des § 1248 Abs 2 Sätze 2 und 3 RVO nicht einstellen konnten, weil sie spätestens am 1. Januar 1982 arbeitslos waren und trotz Arbeitswilligkeit bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres keinen Arbeitsplatz finden konnten (vgl Begr zum Entw des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 ≪HBegleitG 1983≫, BT-Drucks 9/2074, S 106; hierzu auch BSG SozR 5750 Art 2 § 7 S 3; BSG, Urteil vom 13. Oktober 1992 – 4 RA 30/91 –, Umdr S 6 f).

Sofern sich allerdings eine Arbeitslosigkeit des Klägers in der Zeit vor dem 5. Oktober 1982 nicht feststellen läßt, wird ihm auch das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht zu einer Bewilligung von Arg verhelfen können. Denn zum einen konnte die Beklagte den Kläger zum Jahreswechsel 1981/82 noch nicht auf eine bestehende Möglichkeit hinweisen, durch rechtzeitige Arbeitslosmeldung die Anwartschaft auf vorgezogenes Arg zu erhalten. Die ursprüngliche Übergangsregelung des Art 2 § 7 Abs 5 ArVNG idF des Art 5 Nr 1 AFKG erfaßte nämlich den Kläger nicht, sondern bezog sich nur auf ältere Arbeitnehmer, die bereits am 2. September 1981 das 59. Lebensjahr vollendet hatten. Erst Art 22 Nr 2 des HBegleitG 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I, 1857) brachte rückwirkend zum 1. Januar 1982 die hier maßgebende Erweiterung des begünstigten Personenkreises. Zum anderen könnte die in der Vergangenheit fehlende Verfügbarkeit des Klägers – auch wenn sie auf einem Beratungsfehler der Beklagten beruhen sollte – nicht durch eine rechtmäßige Amtshandlung ersetzt werden (vgl BSG SozR 2200 § 1248 Nr 49 S 131 f).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI780361

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