Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.07.1981)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Juli 1981 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt, einen Unfall aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen, den sie während einer mit ihrem Ehemann gebildeten Fahrgemeinschaft erlitten hat.

Sie ist bei der Firma V., ihr Ehemann bei der Firma S. beschäftigt. Die Entfernung des Weges von der gemeinsamen Wohnung zur Firma S. beträgt etwa 8,7 km, von dort zur Firma V. ca 8,9 km und von hier zurück zur Wohnung 2,7 km. Diesen Weg legte die Klägerin – wie seit einem 3/4-Jahr üblich – tagtäglich mit dem Pkw zurück. Sie setzte ihren Ehemann bei der Firma S. ab und fuhr von dort aus zur Firma V. Nach Arbeitsende nahm sie den direkten Weg zur ehelichen Wohnung, während ihr Ehemann auf dem Nachhauseweg öffentliche Verkehrsmittel benutzte. Auf diese Weise wollten die Eheleute auch am Unfalltag verfahren. Auf der gemeinsamen Fahr. von der Wohnung zur Firma S. ereignete sich ein Verkehrsunfall. Die Klägerin erlitt dabei verschiedene Gesundheitsstörungen – ua einen Oberarmschaftbruch sowie eine Schädelprellung –. Sie war deswegen vom 11. August 1978 bis 29. März 1979 und wiederum vom 17. bis 30. Oktober 1979 arbeitsunfähig.

Die Beklagte lehnte eine Unfallentschädigung ab, da der eingeschlagene Weg um das 5,5-fache länger als der übliche Weg der Klägerin zum Ort der Arbeit gewesen sei und somit nicht mehr in einem inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gestanden habe (Bescheid vom 25. Oktober 1979). Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und dies ua wie folgt begründet: Der Versicherungsschutz sei bei Fahrgemeinschaften nicht entfernungsmäßig begrenzt. Entscheidend sei, daß das Zurücklegen des Weges von und zur Arbeitsstätte in einem inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit stehe. Diese Voraussetzungen seien im Falle der Klägerin gegeben. Die Länge des am Unfalltag beabsichtigten Weges unterscheide sich nicht von den an Arbeitstagen üblicherweise zurückgelegten Fahrtstrecken. Die Verlängerung des Arbeitsweges gegenüber der direkten Wegstrecke zwischen Wohnung und Betrieb um etwa das 5- bis 6-fache, die die Klägerin am Unfalltag beabsichtigt habe, sei rechtsunerheblich.

Die Beklagte rügt mit der – vom LSG zugelassenen – Revision die Verletzung materiellen Rechts (§ 550 Abs. 2 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung –RVO–). Versicherungsschutz sei – meint die Beklagte – nicht mehr gegeben, wenn der bei Fahrgemeinschaften eingeschlagene Umweg nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zum normalen Arbeitsweg stehe. So sei es bei der hier um das 6,5-fache verlängerten Wegstrecke. Infolge der Beförderung des Ehemannes hätte die Klägerin am Unfalltag ihren Arbeitsplatz erst nach 17,6 km auf dem direkten Weg aber schon nach 2,7 km erreicht.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben zu Recht den anläßlich des Verkehrsunfalls erlittenen gesundheitlichen Schaden als Folge eines Arbeitsunfalles angesehen und die Beklagte verurteilt, Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Nach § 550 Abs. 2 Nr. 2 RVO ist die Versicherung nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit abweicht, weil er mit anderen berufstätigen oder versicherten Personen gemeinsam ein Fahrzeug für den Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit benutzt. Diese Ausweitung des Versicherungsschutzes erfaßt auch eine zwischen Eheleuten gebildete Fahrgemeinschaft (BT-Drucks 7/1642 S 4).

Die in bezug auf die Fahrgemeinschaft getroffenen Feststellungen des LSG greift die Beklagte nicht an. Gleichwohl meint sie, der Normzweck gebiete es, den Versicherungsschutz zu versagen, weil der durch die Mitnahme eines anderen Beschäftigten bedingte Weg in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zum normalen Arbeitsweg stehe. Dem ist nicht beizupflichten.

§ 550 Abs. 2 Nr. 2 RVO sieht eine Begrenzung des Versicherungsschutzes nach dem Verhältnis des Abweges zum direkten Weg nicht vor. Darauf hat bereits der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 28. Juli 1982 – 2 RU 49/81 – (BSG SozR 2200 § 550 Nr. 51) abgehoben. Nach dieser Entscheidung schließt bei Fahrgemeinschaften auch ein Abweg, der wesentlich größer ist als der unmittelbare Weg, den Versicherungsschutz nicht aus. Der 2. Senat hat zur Begründung auf den Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschrift sowie der Gesetzesentwicklung in bezug auf die zunächst gleichartigen Bestimmungen im Beamten- und Soldatenversorgungsgesetz (§ 135 Abs. 2 Bundesbeamtengesetz und § 27 Abs. 3 Satz 3 Soldatenversorgungsgesetz –SVG– und der danach mit Wirkung vom 1. Januar 1977 bzw 1. Januar 1981 eingetretenen Rechtsänderung, wonach Versorgungsschutz nurmehr besteht, wenn der Beamte bzw Berufssoldat von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und der Dienststelle „in vertretbarem Umfang” abweicht: § 31 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Halbs 3 des Beamtenversorgungsgesetzes vom 24. August 1976 – BGBl I 2485 und 9. Oktober 1980 – BGBl I 1957 –), verwiesen. Er hat sich auch mit der Rechtsprechung und der Literatur eingehend auseinandergesetzt. Der vom 2. Senat gefundenen Lösung schließt sich der erkennende Senat im Grundsatz an.

Der Gesetzgeber hat mit der in § 550 Abs. 2 Nr. 2 RVO getroffenen Regelung, ähnlich wie bei sog Familienheimfahrten nach § 550 Abs. 3 RVO (vgl. BSG SozR 2200 § 550 Nr. 6), drei Punkte des Weges als rechtlich wesentlich festgelegt, nämlich die Wohnung des Versicherten, die Arbeitsstätten des versicherten oder berufstätigen Mitfahrers sowie das Unternehmen, in dem der Versicherte tätig ist. Diese Bezugspunkte geben der Fahrgemeinschaft das Gepräge. Von ihnen wird das Ziel der Hinfahrt sowie ggfs der Rückfahrt bestimmt. Daraus folgt, daß auch bei diesen spezifischen Wegen die gleichen Grundsätze über den Zusammenhang zwischen der Fahrt und der Beschäftigung im Betrieb zu gelten haben, wie sie von der Rechtsprechung zu den Wegen „nach und von dem Ort der Tätigkeit” iS des § 550 Abs. 1 RVO entwickelt worden sind (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, Stand 1982, Band II S 486q mwN). Darauf läßt auch die in § 550 Abs. 2 Nr. 2 RVO enthaltene Formulierung „ist die Versicherung nicht ausgeschlossen, wenn ….” schließen. Damit hat der Gesetzgeber klargestellt, daß es sich hierbei lediglich um einen Sonderfall des Regeltatbestandes handelt, mithin der rechtliche Bezug keine unterschiedliche Beurteilung zuläßt. Von daher gesehen verbietet es sich, den inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit bei Fahrgemeinschaften dann als gelöst zu werten und infolgedessen den Versicherungsschutz zu versagen, wenn der infolge der gemeinsamen Fahrzeugbenutzung zurückgelegte Weg gegenüber dem direkten Arbeitsweg von der Wohnung zum Betriebsort sich vervielfacht. Auch bei einem solch verlängerten Abweg, dem gerade § 550 Abs. 2 Nr. 2 RVO Versicherungsschutz angedeihen lassen will, bleibt der betriebliche Zusammenhang erhalten. Der Versicherte verfolgt mit dem Zurücklegen des Weges die Absicht, den Mitfahrenden an dessen Arbeitsstätte zu befördern und sondann unmittelbar zum eigenen Beschäftigungsort zu gelangen (BSG 2. Senat aaO). Eine Abkehr von der versicherten Tätigkeit hingegen, wie sie der Beklagten vorschwebt, würde voraussetzen, daß nach Art. und Dauer der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und dem durch die Fahrgemeinschaft bedingten Weg zu schließen wäre (vgl. Brackmann aaO S 487a mit zahlreichen Nachweisen). Eine derart modifizierte Unterbrechung ließe sich bei einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit der Klägerin annehmen. Daß in dieser Weise die Klägerin verfahren hätte, behauptet die Beklagte selbst nicht.

Zudem bestätigt die in § 550 Abs. 2 Nr. 1 RVO idF des § 15 Nr. 1 des 17. RAG vom 1. April 1974 (BGBl I 821) für eine ähnliche Fallgestaltung getroffene Regelung, daß der Gesetzgeber Um- bzw Abwege, die noch in einem gewissen betrieblichen Zusammenhang stehen, den Schutz der Unfallversicherung zukommen lassen wollte, und zwar dies unabhängig von der Länge des eingeschlagenen Weges. Nach der vorgenannten Bestimmung ist die Versicherung nicht ausgeschlossen, wenn der Versicherte von dem unmittelbaren Weg zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit abweicht, weil das Kind, das mit ihm in einem Haushalt lebt, wegen seines oder seines Ehegatten beruflicher Tätigkeit fremder Obhut anvertraut wird. Diese durch § 2 Nr. 1 des Gesetzes über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) eingefügte Vorschrift erweitert nach der dazu gegebenen Begründung (BT-Drucks VI/1333 S 5 zu § 2 Nr. 1) den Versicherungsschutz für Berufstätige, die ein Kind während ihrer Arbeitszeit fremder Obhut anvertrauen und den hierzu notwendigen Weg mit dem Weg zu ihrer Arbeitsstätte verbinden. Der Gesetzgeber hat den Versicherungsschutz mithin auf den dazu notwendigen Weg erweitert, sofern dieser Weg mit demjenigen zwischen der Wohnung und dem Ort der Tätigkeit verknüpft ist. Allein der Umstand des Fortbringens oder Abholens des Kindes ist rechtlich von Bedeutung, dagegen nicht, in welchem entfernungsmäßigen Verhältnis dieser zusätzlich eingeschlagene Weg zu dem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit steht. Eine gegenteilige Rechtsauffassung zu § 550 Abs. 2 Nr. 2 RVO würde die mit der gesetzlichen Fiktion bewirkte Zielvorstellung des Gesetzgebers, den Versicherungsschutz umfassender zu gestalten, widerstreiten.

Dies bedeutet allerdings nicht, daß damit jedweder Abweg dem Versicherungsschutz unterfällt. Die Einschränkung, die in den vergleichbaren Vorschriften des Beamten- und Soldatenversorgungsrechts gemacht worden ist, daß „nur” in vertretbarem Umfang abgewichen werden darf, zwingt nicht zum Umkehrschluß. Vielmehr kommt in diesen Vorschriften ein Rechtsgedanke zum Ausdruck, der im Sozialversicherungsrecht nicht unbeachtet bleiben kann, nämlich, daß aus „Unvertretbarem” sich ein Anspruch nicht herleiten läßt. Die Klägerin hat mit ihrem Ehemann eine Fahrgemeinschaft aus einleuchtenden Gründen gebildet. Der Abweg kann nicht als mit Sinn und Zweck des § 550 Abs. 2 Nr. 2 RVO unvertretbar beurteilt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1983, 2959

Breith. 1984, 109

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