Leitsatz (amtlich)

Der auf Grund von Arbeitseinkommen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Heimat berechnete Jahresarbeitsverdienst eines türkischen Gastarbeiters, der nach 8 1/2-monatiger Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitsunfall erlitten hat, kann im Einzelfall nicht in erheblichem Maße unbillig sein, selbst wenn der Tagessatz des ausländischen Arbeitseinkommens niedriger ist als der für den deutschen Beschäftigungsort maßgebliche Ortslohn (Ergänzung zu BSG 1973-10-11 8/2 RU 42/69 = SozR Nr 3 zu RVO § 571).

 

Normenkette

RVO § 571 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 575 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 577 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. August 1973 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger ist in der Ost-Türkei als selbständiger Landwirt tätig. Am 30. August 1969 nahm er eine Beschäftigung bei den R. Eisen- und Stahlwerken in Völklingen/Saar auf. Dort erlitt er am 16. Mai 1970 durch einen Arbeitsunfall schwere Verletzungen am rechten Fuß, so daß der Unterschenkel im körpernahen Drittel amputiert werden mußte. Nach Abschluß der ärztlichen Behandlung kehrte der Kläger im November 1970 in seine Heimat zurück.

Durch Bescheid vom 14. Januar 1971 bewilligte ihm die Beklagte vorläufige Rente von 50 v. H. der Vollrente. Den Jahresarbeitsverdienst (JAV) setzte sie auf 12.088,05 DM fest. Diesen Betrag ermittelte sie in der Weise, daß sie den vom Kläger in der Zeit vom 30. August 1969 bis 15. Mai 1970 in Höhe von 9.954,51 DM erzielten Arbeitsverdienst sowie dazwischen liegende Ausfallzeiten im Dezember 1969 und Januar 1970 nach § 571 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Höhe von 393,54 DM berücksichtigte und für die restliche Zeit des Jahres vor dem Arbeitsunfall (16.5. bis 29.8.1969) der Tätigkeit als selbständiger Landwirt in der Türkei das 87-fache des zur Zeit des Arbeitsunfalls für den Beschäftigungsort festgesetzten Ortslohns eines männlichen Versicherten von über 21 Jahren - 20,- DM pro Tag - zugrunde legte (1.740,- DM).

Durch Bescheid vom 7. Oktober 1971 stellte die Beklagte die erste Dauerrente in Höhe von 40 v. H. der Vollrente unter Zugrundelegung eines JAV von 11.023,05 DM fest. Dabei ging sie von einem niedrigeren Arbeitseinkommen des Klägers als selbständiger Landwirt in der Türkei vom 16. Mai bis 29. August 1969 aus als im Bescheid vom 14. Januar 1971, nämlich von 675,- DM. Der Kläger hatte auf das an die Deutsche Botschaft in Ankara gerichtete und von dieser an die zuständige Polizeibehörde weitergeleitete Ersuchen der Beklagten erklärt, daß er in dieser Zeit aus seiner Landwirtschaft von etwa 0,5 ha ein Einkommen von 1.500 Türkische Lira (TL) erzielt habe; die Deutsche Botschaft hatte dazu ausgeführt, daß diese Angabe etwa statistischen Erfahrungswerten entspreche. Die Gebr. R Bank in S hatte die Beklagte am 20. September 1971 darauf hingewiesen, daß das Türkische Pfund in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) amtlich nicht notiert werde, der offizielle Umrechnungskurs Türkisches Pfund/DM in dem Zeitraum vom 16. Mai bis 29. August 1969 etwa 0,45 DM für eine TL gewesen sei, so daß sich für den Gegenwert von 1.500 TL ein Betrag von 675,- DM ergebe. Die von der Beklagten außerdem gestellte Frage, ob in diesem Zeitraum ein erheblicher Unterschied zwischen der offiziellen Parität und der Kaufkraftparität bestanden habe, konnte die Bank nicht beantworten.

Das Sozialgericht (SG) Speyer, Zweigstelle Mainz, hat auf die hierauf erhobene Klage, mit der sich der Kläger gegen die Herabsetzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und des JAV gewendet hat, durch Urteil vom 17. Oktober 1972 die Beklagte unter Änderung ihres Bescheids vom 7. Oktober 1971 verurteilt, die Dauerrente unter Berücksichtigung eines nach § 577 RVO höher festzusetzenden JAV zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Das SG ist der Auffassung, daß der im Bescheid vom 7. Oktober 1971 festgesetzte Grad der MdE der Sach- und Rechtslage entspreche. Dagegen sei der angefochtene Bescheid rechtswidrig, soweit bei der Feststellung des JAV das im Vergleich zu dem in der BRD erzielten Lohn verhältnismäßig niedrige Einkommen aus eigener Landwirtschaft zugrunde gelegt worden sei; damit werde nicht ausreichend berücksichtigt, daß der Kläger im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall durch seine Tätigkeit in der BRD einen ungewöhnlichen wirtschaftlichen Aufstieg erreicht habe.

Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 29. August 1973 aus denselben Erwägungen die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Arbeitsaufnahme in der BRD und der hierdurch erzielte erheblich höhere Verdienst habe zu einer weitaus besseren Lebenshaltung des Klägers geführt. Da dieser im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls bereits 8 1/2 Monate in der BRD tätig gewesen sei, habe der Kläger sich bereits auf die neuen Verhältnisse umgestellt gehabt, so daß diese für ihn eine normale Lebenshaltung dargestellt hätten. Die uneingeschränkte Anrechnung des zuvor in der Heimat erworbenen erheblich niedrigeren Arbeitseinkommens bei der Feststellung des JAV stelle somit eine erhebliche Unbilligkeit im Sinne des § 577 Satz 1 RVO dar. Die Beklagte müsse deshalb den JAV höher festsetzen. Hierbei dürfe sie allerdings berücksichtigen, daß die in die Türkei überwiesene Rente möglicherweise eine höhere Kaufkraft als in der BRD habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es insbesondere damit begründet, daß die Festsetzung des JAV im angefochtenen Bescheid mit den Grundsätzen vereinbar sei, die das Bundessozialgericht (BSG) in mehreren am 11. Oktober 1973 gefällten Entscheidungen zum JAV von Gastarbeitern aufgestellt habe, die im Zeitpunkt ihres Arbeitsunfalls noch nicht ein volles Jahr in der BRD beschäftigt gewesen seien.

Die Beklagte beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der - nicht vertretene - Kläger hat keinen Sachantrag gestellt und auf die Revision nicht erwidert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Streitig ist in der Revision - wie auch schon im Verfahren des zweiten Rechtszuges - allein die Höhe des J V. Diesen konnte die Beklagte nach § 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO bei der ersten Feststellung der Dauerrente unabhängig von dem im Bescheid über die vorläufige Rente ermittelten Betrag und somit auch niedriger festsetzen (BSG 5, 96, 100; SozR Nr. 1 zu § 570 RVO; Urteil des erkennenden Senats vom 11.10.1973, SozR Nr. 3 zu § 571 RVO).

Wie die Vorinstanzen mit Recht angenommen haben, hat die Beklagte ferner zutreffend als Arbeitseinkommen im Jahr vor dem Arbeitsunfall nach § 571 Abs. 1 RVO nicht nur den vom Kläger in der BRD erzielten Arbeitsverdienst (nebst Ausfallzeiten innerhalb dieses Zeitraums - § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO), sondern auch, da der Kläger vor seinem Arbeitsunfall nicht ein volles Jahr in der BRD gearbeitet hatte, für die restliche Zeit vorher (16.5. bis 29.8.1969) das in seiner Heimat aus selbständiger Tätigkeit erworbene Einkommen bei der Feststellung des JAV zugrunde gelegt (SozR Nr. 3 zu § 571 RVO). Den insoweit auf Angaben des Klägers beruhenden Betrag von 1.500 TL hat die Beklagte entsprechend der Mitteilung der von ihr zu Rate gezogenen Gebr. R Bank in einen Betrag von 675,- DM umgerechnet und in dieser Höhe bei der Feststellung des JAV berücksichtigt. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (SozR Nr. 3 zu § 571 RVO) ist jedoch in einem solchen Fall bei der Umrechnung ausländischer Arbeitseinkommen in erster Linie von der Verbrauchergeldparität (deutsches Schema) auszugehen. Insoweit haben indessen weder die Beklagte noch die Vorinstanzen Ermittlungen angestellt; die Beklagte hat sich damit zufrieden gegeben, daß das von ihr befragte Bankinstitut hierüber nicht Bescheid wußte. Es ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen, daß für die Ermittlung der Verbrauchergeldparität kein amtliches Tatsachenmaterial zur Verfügung steht (vgl. die Urteile des erkennenden Senats vom 11.10.1973, die u. a. auch einen türkischen Gastarbeiter betrafen - 8/2 RU 101/71). Da somit nicht alle für die Berechnung des JAV nach § 571 Abs. 1 RVO möglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft worden sind, war schon aus diesem Grund die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Sollten die vom Berufungsgericht noch anzustellenden Ermittlungen allerdings zu keinem Ergebnis führen, so ist die von der Beklagten vorgenommene Umrechnung nach dem Devisenkurs, wobei sie zu Recht einen Mittelkurs gewählt hat, nach der o. a. Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen liegt dann auch kein Verstoß gegen § 577 Satz 1 RVO vor.

Nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 11. Oktober 1973 (SozR Nr. 3 zu § 571 RVO) kann zwar ein nach § 571 Abs. 1 RVO ermittelter JAV in erheblichem Maß unbillig sein (§ 577 S. 1 Halbsatz 1 RVO), wenn ein Gastarbeiter im Zeitpunkt des Unfalls schon länger als 3 Monate, aber noch nicht etwa 9 Monate in der BRD beschäftigt gewesen ist. Der Kläger hat den Arbeitsunfall nach 8 1/2-monatiger Tätigkeit in V erlitten. Ob damit schon die zeitliche Grenze einer "ungefähr 9-monatigen Tätigkeit" erreicht ist, bei der nach der Rechtsprechung des Senats eine erhebliche Unbilligkeit im Sinne von § 577 Satz 1 RVO im allgemeinen zu verneinen ist, kann vorliegendenfalls dahingestellt bleiben. Für die Anwendbarkeit dieser Vorschrift spricht hier auch nicht schon der vom erkennenden Senat im übrigen als rechtserheblich angesehene Gesichtspunkt, daß der Verdienst in der BRD mehr als doppelt so hoch gewesen ist wie das durchschnittliche in DM umgerechnete, zuvor außerhalb der BRD erworbene Arbeitseinkommen und dieses nicht einmal den für den deutschen Beschäftigungsort maßgeblichen Ortslohn erreicht. Dies würde beim Kläger zwar, falls der nach einem mittleren Devisenkurs umgerechnete - im Vergleich zu seinem Arbeitslohn in der BRD äußerst niedrige - Betrag seines in der Türkei erzielten Arbeitseinkommens maßgeblich bliebe, zutreffen, zumal er unter dem für das Saarland im Jahre 1969 maßgeblichen Ortslohn von täglich 20,- DM (s. BABl 1969, 321, 322) liegt. Entscheidend ist jedoch, daß der von der Beklagten im Bescheid vom 7. Oktober 1971 festgestellte JAV nur unwesentlich unter dem Betrag liegt, der bei einem anderen Verletzten mit denselben Einkommenssätzen als JAV nach insgesamt 9-monatiger - also lediglich um 2 Wochen längerer - Tätigkeit in der BRD zu berechnen gewesen wäre. Bei einem solchen Verletzten würde sich bei einem dementsprechend höheren Lohn in der BRD und gleichzeitiger Minderung des Arbeitseinkommens in der Türkei ein Gesamtbetrag von etwa 11.530,- DM und somit ein um etwa 4,5 v. H. höherer JAV ergeben. Nach 9-monatiger Beschäftigung in der BRD müßte dieser Verletzte nach der o. a. Rechtsprechung des erkennenden Senats aber in Kauf nehmen, daß dieser nach § 571 Abs. 1 RVO ermittelte JAV keine Anwendung des § 577 Satz 1 RVO rechtfertigen würde, obwohl in ihm ein vierteljährliches im Vergleich zum deutschen Verdienst niedriges Arbeitseinkommen enthalten ist. Der nach 8 1/2-monatiger Tätigkeit des Klägers in der BRD als JAV ermittelte Betrag von 11.023,05 DM ist demgegenüber nicht um so vieles niedriger, daß die Anwendung dieser Vorschrift als geboten angesehen werden müßte. Die Festsetzung eines entsprechend höheren JAV nach § 577 RVO - zum Ausgleich einer Unbilligkeit in erheblichem Maße - würde vielmehr bei Grenzwerten dieser Art dazu führen, daß der Kläger nach nur 8 1/2-monatiger Beschäftigung in der BRD sich besser stellen würde als ein Landsmann mit ebenso hohem deutschen Stundenlohn und gleichermaßen niedrigerem Arbeitseinkommen aus eigener Landwirtschaft, der erst nach 9-monatiger Tätigkeit in der BRD einen Arbeitsunfall erleiden würde und dem deshalb § 577 RVO nicht zugute käme. Gegen die Anwendung dieser Vorschrift zugunsten des Klägers spricht auch, daß der von der Beklagten bei der vorläufigen Rente berücksichtigte JAV bei dem sie für den im Jahr vor dem Arbeitsunfall liegenden Zeitraum der Tätigkeit als selbständiger Landwirt in der Türkei als Arbeitseinkommen den für den deutschen Beschäftigungsort des Klägers maßgeblichen Ortslohn (Tagessatz 20,- DM) zugrunde gelegt hatte, insgesamt 12.088,05 DM betragen hatte, dieser Betrag somit über dem liegt, der sich bei einer 9-monatigen Beschäftigung in der BRD mit insgesamt etwa 11.530,- DM ergeben würde.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647312

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