Entscheidungsstichwort (Thema)

Erkrankung eines approbierten Arztes während seiner Tätigkeit als Volontärarzt zur Anerkennung als Facharzt für Frauenkrankheiten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Marburger Bund - Verband der angestellten Ärzte Deutschlands - ist eine selbständige Vereinigung von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung iS des SGG § 166 Abs 2.

2. Ein approbierter Arzt befindet sich während der vor Erteilung der Facharztanerkennung abzuleistenden ärztlichen Tätigkeit auch dann nicht in Berufsausbildung iS des RVO § 565, wenn es sich hierbei um eine unbezahlte Volontärarzttätigkeit handelt (Fortführung BSG 1960-04-27 2 RU 191/56 = BSGE 12, 109-116).

3. Zur Auslegung des RVO § 564 Abs 1 Nr 5.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Ist ein Arzt in der Klinik, in der er erkrankte, nur vorübergehend und ohne Entgelt - nur mit Verpflegung - tätig gewesen (RVO § 564 Abs 1 Nr 5), so ist der Jahresarbeitsverdienst (JAV) nach billigem Ermessen festzustellen (RVO § 566), falls der nach RVO § 564 berechnete JAV unbillig erscheint.

2. Eine Unbilligkeit ist zweifellos darin zu erblicken, daß der Arzt für seine bei ärztlicher Tätigkeit erworbene Berufskrankheit sich mit einer Rente begnügen soll, die auf dem ortsüblichen Tagesentgelt gewöhnlicher Tagarbeiter beruht.

 

Normenkette

SGG § 166 Abs. 2; RVO § 564 Abs. 1 Nr. 5 Fassung: 1942-03-09, § 565 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Bescheide des Beklagten vom 24. Februar 1955 und 27. März 1957 sowie das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 21. November 1957 - soweit es diese Bescheide betrifft - werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die zuerkannte Rente vom 1. April 1955 an nach einem Jahresarbeitsverdienst zu gewähren, der nach billigem Ermessen (§ 566 RVO) festzustellen ist.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger bestand im Mai 1949 die medizinische Staatsprüfung und leistete anschließend die vorgeschriebene Pflichtassistentenzeit ab. Nachdem er hierauf im April 1951 die zur ärztlichen Berufsausübung in eigener Praxis berechtigende Vollapprobation erhalten hatte, war der Kläger, der die Anerkennung als Facharzt für Frauenkrankheiten anstrebte, als Volontärarzt in folgenden Instituten und Krankenhäusern tätig: Von Juli 1951 bis zum 30. September 1952 am Pathologischen Universitätsinstitut in K, vom 1. November 1952 bis zum 28. Februar 1953 am F-Hospital in F und vom 4. bis zum 26. Mai 1953 an der Universitäts-Hautklinik in K; während der Beschäftigung im Pathologischen Institut erhielt er eine Beihilfe von monatlich 100,- DM, in den beiden Krankenhäusern hingegen nur freie Verpflegung. Im Oktober 1952 war der Kläger drei Wochen als Praxisvertreter eines praktischen Arztes für eine Tagesvergütung von 20,- DM sowie freie Unterkunft und Verpflegung tätig, im März und April 1953 beschäftigte er sich mit einer wissenschaftlichen Arbeit. Am 26. Mai 1953 wurde beim Kläger eine Lungen-Tbc festgestellt. Der Beklagte erkannte diese Erkrankung, die wahrscheinlich auf eine Infektion im Pathologischen Institut zurückzuführen war, als Berufskrankheit (BK) an und gewährte dem Kläger eine vorläufige Rente von zunächst 100 v. H., anschließend 70 v. H. (Bescheid vom 26. Juni 1954). Durch Bescheid vom 24. Februar 1955 stellte der Beklagte für die Zeit vom 1. April 1955 an die Dauerrente auf 50 v. H. fest, die er später durch Bescheid vom 27. März 1957 auf 40 v. H. herabsetzte. Als Jahresarbeitsverdienst (JAV) legte der Beklagte gemäß § 563 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) das Dreihundertfache des Ortslohns zugrunde, was den Betrag von 2.400,- DM ergab.

Der Kläger verlangte mit seiner gegen den Bescheid vom 26. Juni 1954 erhobenen Klage, den JAV nach Vergütungsgruppe III der Tarifordnung für Angestellte im öffentlichen Dienst (TO A III) zu bemessen. Er hielt die Vorschriften der §§ 565, 566 RVO für anwendbar und machte geltend, seine Berufsausbildung (§ 565 RVO) sei frühestens mit der Facharztanerkennung als abgeschlossen zu betrachten. Das Sozialgericht (SG) hat am 17. Februar 1956 den Beklagten unter Änderung der Bescheide vom 26. Juni 1954 und 24. Februar 1955 verurteilt, dem Kläger die zuerkannte Rente nach einem JAV nach TO A III zu berechnen: Die Berechnung des JAV nach dem Arbeitsentgelt des Klägers für die Zeit vom 26. Mai 1952 bis zum 25. Mai 1953 lasse sich nicht durchführen; die Heranziehung des dem Wert der vom Kläger geleisteten Arbeit nicht entsprechenden Ortslohns führe zu einem widersinnigen Ergebnis. Deshalb sei der JAV gemäß § 566 RVO nach billigem Ermessen festzustellen. Als vergleichbar sei hierbei die Tätigkeit eines nach TO A III besoldeten Assistenzarztes zu berücksichtigen. Die in § 2 Abs. 3 des Tarifvertrags für angestellte Ärzte vom 22. September 1952 vorgesehene Vergütung für Hilfsärzte (Volontärassistenten), die 50 % von TO A III betrage, sei nicht angemessen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 21. November 1957 (Breithaupt 1959, 903) die nicht ausdrücklich zugelassene Berufung des Beklagten verworfen, soweit das Urteil des SG den Bescheid vom 26. Juni 1954 betrifft; soweit es dagegen den Bescheid vom 24. Februar 1955 betrifft, ist das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen worden; den von der Beklagten während des Berufungsverfahrens erteilten Bescheid vom 27. März 1957 hat das LSG dahin geändert, daß die Dauerrente von 40 v. H. nach einem JAV von 2.400,- DM zu berechnen ist. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Entgegen der Meinung der Vorinstanz lasse sich der JAV nach dem Arbeitsentgelt des Klägers berechnen. Die hiernach errechnete Summe sei allerdings zweifelsfrei niedriger als der Ortslohn, so daß letzterer gemäß § 563 Abs. 3 RVO dem JAV zugrunde zu legen sei. Auch wenn dieses Ergebnis unbillig erscheine, sei § 566 RVO nach seinem klaren Wortlaut nicht anwendbar. § 565 RVO komme ebenfalls nicht in Betracht; denn die Weiterbildung eines approbierten Arztes zum Facharzt sei keine Berufsausbildung im Sinne dieser Vorschrift. Auch wenn unterstellt werde, daß der Kläger im Jahre vor seiner Erkrankung nicht leistungsgerecht, also tarifwidrig bezahlt worden sei, bleibe für den JAV der tatsächlich bezogene Arbeitsentgelt maßgebend. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 18. Januar 1958 zugestellte Urteil hat der Kläger am 12. Februar 1958 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 18. April 1958 verlängerten Frist begründet. Er rügt - unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) -, das LSG habe den Begriff der Berufsausbildung im Sinne des § 565 RVO verkannt. Ferner habe das LSG die §§ 563, 566 RVO unrichtig ausgelegt; eine JAV-Berechnung nach § 563 Abs. 2 RVO lasse sich hier nicht durchführen, da die vom LSG berücksichtigten geringen Einkünfte des Klägers überhaupt nicht als Arbeitsentgelt angesehen werden dürften. Deshalb sei gemäß § 566 RVO der JAV nach billigem Ermessen festzustellen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, ihm die zuerkannte Rente nach einem JAV entsprechend TO A III zu gewähren.

Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision ist statthaft durch Zulassung nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist fristgerecht eingelegt und begründet worden und genügt auch den formellen Erfordernissen, insbesondere des § 166 SGG. Der Kläger wird im Revisionsverfahren durch die Justitiarin des M Bundes - Verband der angestellten Ärzte Deutschlands - vertreten.

Dieser Verband ist, wie sich aus seiner dem Senat vorliegenden Satzung ergibt, eine selbständige Arbeitnehmervereinigung mit berufspolitischer Zwecksetzung; die Frage, ob er zugleich als Gewerkschaft anzusehen ist - wie der Satzungsvorschrift des § 2 Abs. 1 entnommen werden könnte (vgl. auch Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 6. Aufl., Bd. II S. 130) -, bedarf keiner Prüfung.

Die Revisionsrüge, das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß der Kläger zur Zeit seiner Erkrankung an der BK sich nicht in einer Berufsausbildung befunden habe, ist unbegründet. Hinsichtlich der Auslegung des § 565 RVO stimmt das angefochtene Urteil im Ergebnis überein mit der Entscheidung des erkennenden Senats vom 27. April 1960 (BSG 12, 109, 115). Wie dort unter Bezugnahme auf § 25 der Berufsordnung für die deutschen Ärzte (ÄM 1956, 943, 947) ausgeführt worden ist, muß die ärztliche Ausbildung mit der Bestallung (bzw. - für den zeitlichen Geltungsbereich der Bestallungs- und Prüfungsordnung vom 17.7.1939, RGBl I 1273 - mit der ergänzenden Bescheinigung nach §§ 76 Abs. 4, 79 Abs. 3), als beendet angesehen werden. Der vorliegende Fall bietet keinen Anlaß, von diesem Standpunkt abzuweichen, insbesondere nötigt hierzu auch nicht die von der Revision angeführte Rechtsprechung des BAG zum Volontärarztverhältnis. Zwar trifft es zu, daß in arbeitsrechtlicher Sicht Volontärärzte als noch in der Ausbildung begriffen angesehen wurden, wenn sie nach Erteilung der Vollapprobation zur Vertiefung der erworbenen allgemeinen Kenntnisse oder zur Ausbildung auf einem besonderen Fachgebiet für eine im voraus genau festgelegte Zeit in Krankenhäusern tätig waren (BAG 1, 217 = AP Nr. 1 zu § 611 BGB - Ärzte, Gehaltsansprüche -, hier mit ablehnender Anmerkung von Schnorr; vgl. ferner AP aaO Nrn. 3, 4, 7). Nach Auffassung des erkennenden Senats ergeben sich jedoch hieraus keine hinreichend brauchbaren Merkmale, nach denen im Recht der Unfallversicherung für den Einzelfall das Vorliegen einer Berufsausbildung bei Facharztanwärtern anzuerkennen wäre. Die Frage, ob es angebracht erscheint, für approbierte Ärzte, die sich zum Zwecke der Facharztanerkennung weiterbilden, versicherungsrechtlich einen erweiterten Begriff der Berufsausbildung zu schaffen, ist in dem zur Zeit vorliegenden Entwurf eines Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes bisher in verneinendem Sinne beantwortet (vgl. Bundestagsdrucksache 758, 3. Wahlperiode, § 571, Begründung S. 55, 56, Stellungnahme des Bundesrats Nr. 23 S. 82, Stellungnahme der Bundesregierung zu Nr. 23 S. 93).

Wie das LSG ferner im Ergebnis zutreffend ausgeführt hat, rechtfertigt sich eine Berechnung des JAV nach TO A III auch nicht unter dem Gesichtspunkt, daß der Kläger im Jahr vor seiner Erkrankung etwa eine nicht leistungsgerechte untertarifliche Vergütung erhalten haben sollte. Dabei bedarf die Frage, ob grundsätzlich im Falle einer offensichtlich gegen bindende Tarifregelungen verstoßenden Entlohnung der JAV unter Zugrundelegung des Tariflohns zu berechnen ist (vgl. EuM 42, 169), keiner abschließenden Stellungnahme. Aus dem vom SG beigezogenen Tarifvertrag für angestellte Ärzte, den am 22. September 1952 die arbeitsrechtliche Vereinigung der Gemeinden und gemeinwirtschaftlichen Unternehmen in Schleswig-Holstein sowie die Gewerkschaft ÖTV, Bezirksverwaltung Nordwest, abgeschlossen haben, dürfte zwar zu folgern sein, daß der Kläger sich nicht - wie tatsächlich geschehen - lediglich mit freier Verpflegung bzw. einer monatlichen Beihilfe von 100,- DM als Gegenleistung für seine in den Krankenhäusern geleisteten Dienste abfinden zu lassen brauchte; denn damit wurde keiner der in § 2 dieses Vertrags aufgeführten Vergütungsgruppen entsprochen, von denen allerdings diejenigen des Abs. 1 (Oberärzte, Assistenzärzte) und des Abs. 4 (Pflichtassistenten) wohl kaum der damaligen Berufsqualifikation des Klägers entsprochen haben würden; dagegen hätte es nahegelegen, ihm die für Hilfsärzte in § 2 Abs. 3 des Tarifvertrags vorgesehene Vergütung von 50 % der TO A III zuzubilligen. Für die Entscheidung des Rechtsstreits ist jedoch aus dieser Erwägung allein nichts herzuleiten. Denn einmal erscheint es zweifelhaft, ob der Kläger seinerzeit zu dem tarifgebundenen Arbeitnehmerkreis - nach § 5 Abs. 3 nur Mitglieder der Gewerkschaft ÖTV - dieses nicht für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags gehört hat. Zum anderen aber geht aus dem eigenen Vorbringen des Klägers eindeutig hervor, daß er damals nichts unternommen hat, um eine tarifgerechte Vergütung zu erlangen; deshalb sind wegen Versäumung der in § 7 des Vertrags vorgesehenen Ausschlußfrist seine etwaigen Ansprüche auf höhere Vergütung als erloschen zu betrachten, hiernach auch bei der Feststellung des JAV nicht zu berücksichtigen.

Mit Recht wendet sich die Revision jedoch dagegen, daß das LSG auch die Anwendbarkeit des § 566 RVO verneint hat. Allerdings ist diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht - wie die Revision meint - mit der Begründung anzuwenden, die Berechnung des JAV nach § 563 RVO sei undurchführbar. Insoweit ist der Senat vielmehr geneigt, dem angefochtenen Urteil darin beizupflichten, daß bei einer JAV-Berechnung nach § 563 RVO deren Undurchführbarkeit im Sinne des § 566 RVO nur dann gegeben ist, wenn sich rechnerisch nichts ermitteln läßt. Die vom SG vertretene Auffassung, auch bei einem "widersinnigen, vom Gesetzgeber nicht gewollten Ergebnis" der nach § 563 Abs. 2 oder 3 RVO durchgeführten Berechnung sei § 566 heranzuziehen (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, Stand August 1960, § 563 Anm. 5, S. 125, 126), erscheint unvereinbar mit dem klaren Gesetzeswortlaut. Einer vertieften Erörterung dieser Frage bedarf es hier indessen nicht; denn § 566 RVO ist für den Kläger auf jeden Fall deshalb anwendbar, weil der nach § 564 RVO zu berechnende JAV unbillig erscheint. Die vom LSG getroffenen Feststellungen rechtfertigen nach Ansicht des Senats den Schluß, daß der Kläger jedenfalls in der Universitäts-Hautklinik in Kiel, wo er an der BK erkrankte, nur vorübergehend und ohne Entgelt zu erhalten beschäftigt war (§ 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO). Daß seine dreiwöchige Beschäftigung dort nur als vorübergehend zu bezeichnen ist, bedarf keiner näheren Darlegung. Auch erscheint es selbstverständlich, daß der in § 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO enthaltene Zusatz "insbesondere um einem Betriebsangehörigen einen bezahlten Urlaub zu verschaffen", nur ein Beispiel darstellt und den Anwendungsbereich dieser Vorschrift nicht einschränkt (vgl. EuM 51, 12). Nicht ganz so eindeutig ergibt sich freilich die Beantwortung der Frage, ob der Kläger die weitere Voraussetzung erfüllt, daß er in diesen drei Wochen, ohne Entgelt zu erhalten, beschäftigt war. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß unter den allgemeinen Entgeltbegriff auch Sachbezüge fallen (§ 160 RVO) und daß der Kläger nach den tatsächlichen Feststellungen in der Universitäts-Hautklinik freie Verpflegung erhielt. Die Folgerung, hiernach habe der Kläger also Entgelt erhalten, daher sei die Anwendung des § 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO ausgeschlossen, erscheint dem Senat jedoch nicht zwingend. Sie mag gerechtfertigt sein, wenn Entgelt und Arbeitsleistung sich einigermaßen entsprechend, also in Fällen, in denen freie Verpflegung den einzigen "Entgelt" für entsprechend geringwertige Tätigkeiten bildet. Eine echte Gegenleistung für verrichtete Tätigkeit kann jedoch in bloßer Verpflegung nicht erblickt werden, wenn sie einem approbierten Arzt gewährt worden ist, der seine Arbeitskraft einer Krankenanstalt zur Verfügung gestellt hat. Hier ist vielmehr nach Ansicht des Senats § 564 Abs. 1 Nr. 5 RVO jedenfalls entsprechend anzuwenden.

Da das nach § 564 RVO zu berücksichtigende Erwerbseinkommen des Klägers im Jahre 1952 die Höhe des Ortslohns nicht erreicht hat, kommt zunächst dieser als Mindestgrenze für den JAV in Betracht (§ 563 Abs. 3 RVO). Weil indessen nunmehr die Berechnung des JAV von § 564 RVO ausgeht, ist gemäß § 566 RVO der JAV nach billigem Ermessen festzustellen, falls der nach § 564 RVO berechnete JAV unbillig erscheint. Eine Unbilligkeit ist - entgegen dem vom LSG vertretenen Standpunkt - zweifellos darin zu erblicken, daß der Kläger für seine bei ärztlicher Tätigkeit erworbene BK sich mit einer Rente begnügen soll, die auf dem "ortsüblichen Tagesentgelt gewöhnlicher Tagarbeiter" (§ 149 Abs. 1 RVO) beruht. Der vom LSG angedeutete Zweifel, ob es überhaupt unbillig erscheine, daß der Kläger eine Unfallrente nur in den Grenzen dessen erhalten könne, was den für ihn entrichteten Beiträgen wenigstens annähernd äquivalent sei, geht deshalb fehl, weil es in der Unfallversicherung auf das Verhältnis der Rentenleistungen zu den vorher entrichteten Beiträgen grundsätzlich nicht ankommt. Das angefochtene Urteil sowie die Bescheide vom 24. Februar 1955 und 27. März 1957 beruhen hiernach auf einer Verletzung des § 566 RVO, da sie die in der JAV-Bemessung nach § 564 Abs. 1 Nr. 5 in Verbindung mit § 563 Abs. 3 RVO enthaltene offenbare Unbilligkeit nicht berücksichtigt haben. Sie waren deshalb aufzuheben.

Zugleich war die Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger zuerkannte Rente vom 1. April 1955 an nach einem JAV zu gewähren, der nach billigem Ermessen festzustellen ist. Auf diesen Ausspruch hat sich der Senat beschränkt, um nicht in die durch § 566 RVO dem Beklagten eingeräumte Ermächtigung einzugreifen, eine Ermessensentscheidung in eigener Verantwortung zu treffen (vgl. BSG 7, 269, 273). Das Ergebnis einer solchen Ermessensausübung läßt sich bisher noch nicht übersehen. Es bedarf hierzu einer eingehenden Würdigung der in § 566 Satz 2 RVO aufgeführten Gesichtspunkte. Die bereits vorliegenden, unter Umständen noch zu ergänzenden Auskünfte über die Art der vom Kläger vor Ausbruch der BK verrichteten Berufstätigkeit dürften hierfür die wichtigsten Grundlagen abgeben. Bedeutsam könnte aber auch sein, innerhalb welcher Zeit es dem Kläger - ohne den Eintritt der BK - wahrscheinlich gelungen wäre, erstmalig eine Anstellung als vollbezahlter Assistenzarzt zu finden. Schließlich sind dem bereits angeführten Tarifvertrag vom 22. September 1952 Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, welche Vergütung in damaliger Zeit als der Billigkeit entsprechende Gegenleistung für die vom Kläger geleistete Arbeit in Betracht gekommen wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324747

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