Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Kausalität. ungeklärte Todesursache. Auffinden des Versicherten auf Betriebsstätte. keine Rechtsvermutung. Grundsatz der objektiven Beweislast

 

Orientierungssatz

Es besteht keine "Rechtsvermutung" des Inhalts, dass ein Versicherter, wenn er auf der Betriebsstätte tot aufgefunden wird und die Todesursache nicht einwandfrei zu ermitteln ist, jedoch eine Betriebseinrichtung als mitwirkende Todesursache in Betracht kommt, einem Arbeitsunfall erlegen ist.

 

Normenkette

RVO § 548

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 16. August 1962 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der im Jahre 1893 geborene Ehemann der Klägerin, der Hafenarbeiter August Sch, war am 4. Oktober 1956 im Hafen von Emden beim Löschen des Getreideschiffes "W." beschäftigt. Ein Getreideheber saugte das Getreide aus dem Laderaum ab; das in dem darüber liegenden Zwischendeck befindliche Getreide lief dann in den Laderaum des Schiffes nach. Sch. hatte gegen 14.30 Uhr den Auftrag erhalten, im Zwischendeck das nicht abgelaufene Getreide zum Trimmloch zu kehren. Gegen 17.30 Uhr wurde Sch. unter dem Zwischendeck auf dem abgelaufenen Getreide liegend tot aufgefunden.

Die Beklagte verneinte mit Bescheid vom 28. Dezember 1956 ihre Entschädigungspflicht aus folgenden Gründen: Der Verstorbene sei in den letzten Jahren vor seinem Tod wiederholt arbeitsunfähig krank gewesen, u. a. vom 9. bis 18. April 1956 wegen Herzmuskelschwäche und Herzbräune. Nach dem Leichenöffnungsbefund sei kein Anhalt dafür gegeben, daß er einem Erstickungstod erlegen sei. Das Gutachten des Pathologischen Instituts der Städtischen Krankenanstalten Bremen vom 15. Dezember 1956 (Prof. Dr. S Oberarzt Dr. Sch) sei zu dem Ergebnis gelangt, daß der Tod auf akutem Herzversagen bei Herzkranzschlagaderverkalkung mit alten Gefäßverschlüssen, Einengungen und Verschwielungen beruhe. Da die von Sch. geleistete Tätigkeit leichtester Art gewesen und er bereits 63 Jahre alt gewesen sei, sei es wahrscheinlich, daß der Tod auf natürlicher Ursache beruhe, zumal da die eingehenden Ermittlungen keine Anzeichen für einen Unfall oder Unfalltod ergeben hätten.

Auf Klage hat das Sozialgericht (SG) Aurich durch Urteil vom 20. Juni 1958 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verpflichtet, Hinterbliebenenrente und Sterbegeld aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat sein Urteil vom 16. August 1962 im wesentlichen wie folgt begründet: Die zur Sache gehörten ärztlichen Sachverständigen seien sich darüber einig, daß Sch. an einem Herzleiden erkrankt gewesen sei und ein akuter Stillstand des Herzens seinen Tod herbeigeführt habe. Streitig sei allein, ob das Herzversagen durch mit der betrieblichen Tätigkeit zusammenhängende Umstände allein oder wenigstens mit verursacht worden sei.

Die Ärzte des Pathologischen Instituts der Städtischen Krankenanstalten Bremen seien davon ausgegangen, daß das Herz während der Tätigkeit des Verstorbenen im Zwischendeck versagt habe und dieser mit dem ablaufenden Getreide tot oder sterbend in den darunter befindlichen Laderaum gelangt sei. Der vom SG gutachtlich gehörte Oberassistent des Pathologischen Instituts der Universität Göttingen, Prof. Dr. E, habe in seinem Gutachten vom 19. Mai 1958 als wesentlich mitwirkende Ursache des akuten Herzstillstandes eine ungewöhnliche körperliche Anstrengung infolge eines unfallartigen Ereignisses angenommen. Dr. L und Dr. K von der inneren Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses Celle seien in ihrem dem Berufungsgericht am 4. Januar 1962 erstatteten Gutachten auf Grund des Leichenöffnungsbefundes zu der Schlußfolgerung gelangt, daß der Stillstand des in seiner Leistungsfähigkeit bereits geminderten Herzens durch eine ungewöhnliche körperliche oder seelische Belastung während der Arbeit eingetreten sei. Sch. sei wahrscheinlich durch das Trimmloch gefallen; der Schreck und die Angst, von den Getreidemassen erstickt zu werden, seien eine solche Belastung gewesen. Der Angstzustand sei wahrscheinlich durch eingeatmete Getreidekörner, die bei der Leichenöffnung in der Mundhöhle und in der Lunge gefunden worden seien, gesteigert worden.

Diese unterschiedlichen Ergebnisse der Sachverständigen würden durch den Umstand erklärt, daß der äußere Geschehensablauf der zum Tod führenden Ereignisse nicht mehr ermittelt werden könne. Nach der Unfallrechtsprechung spreche aber, wenn ein Versicherter auf der Arbeitsstätte tot aufgefunden werde und die Todesursache sich nicht einwandfrei ermitteln lasse, eine nur durch strengen Gegenbeweis zu widerlegende Vermutung dafür, daß der Tote einem Arbeitsunfall erlegen sei. Sonach sei vorliegendenfalls ein Arbeitsunfall als Todesursache zu vermuten. Der von der Rechtsprechung geforderte strenge Gegenbeweis sei nicht erbracht, denn es könne keiner der verschiedenen hier möglichen Todesursachen eine größere Wahrscheinlichkeit zuerkannt werden. Deshalb müsse auf Grund jener Vermutung davon ausgegangen werden, daß ein Arbeitsunfall vorgelegen habe. Dies habe jedoch zur Folge, daß die Beklagte entschädigungspflichtig sei. Unter diesen Umständen komme es nicht mehr darauf an, ob der Arbeitsunfall den Eintritt des Todes wenigstens um ein Jahr beschleunigt habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das Urteil des LSG hat die Beklagte mit Telegramm vom 27. November 1962 Revision eingelegt. Ihr Rechtsmittel hat sie mit den Schriftsätzen vom 28. November 1962 und 28. Dezember 1962 im wesentlichen wie folgt begründet:

Das Vordergericht hätte bei rechtsirrtumsfreier Anwendung der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm abwägen müssen, ob die Betriebstätigkeit oder das außerhalb jeglichen Zusammenhangs mit dieser stehende Herzleiden die wesentliche Todesursache gewesen sei. Es hätte somit die Stärke des Herzleidens und dessen Auswirkungen durch sachgerechte Würdigung der in den Akten befindlichen ärztlichen Befundberichte, durch Heranziehung von Befundberichten der Ärzte, die den Verstorbenen früher behandelt hätten, und durch Erholung von Gutachten ermitteln müssen. Ferner wäre es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) veranlaßt gewesen zu klären, ob der Tod bei Sch. auch ohne das angeschuldigte Unfallereignis binnen Jahresfrist eingetreten wäre. Das Berufungsgericht habe die Prüfung dieser Frage zu Unrecht unterlassen. Seine dem Urteil zugrunde gelegte Vermutung, daß der Tote angesichts der Umstände, unter denen er aufgefunden worden sei, einem Arbeitsunfall erlegen sei, widerspreche dem für das Verfahren der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast. Die Tatsache, daß Sch. an einer gefährlichen Herzerkrankung gelitten habe, widerlege die Vermutung des LSG, daß der Tod Unfallfolge sei. Die von Sch. am letzten Tage seines Lebens ausgeübte Tätigkeit sei zudem wenig anstrengend gewesen; das Berufungsgericht habe es unterlassen, dies zu ermitteln. Es habe zwar ursprünglich erwogen gehabt, ein Getreideschiff zu besichtigen; angesichts der Schwierigkeiten, rechtzeitig von der Ankunft eines solchen Schiffes im Hafen Kenntnis zu erlangen, habe es davon Abstand genommen. Eine solche Besichtigung hätte dem Berufungsgericht indessen ein plastisches Bild von den Einzelheiten der Tätigkeit des Verstorbenen vermitteln können. Sie hätte ergeben, daß die Arbeit des Verstorbenen angesichts ihrer Ungefährlichkeit und Mühelosigkeit eine bloße Gelegenheitsursache für den eingetretenen Tod gewesen sei. Selbst wenn man annehme, daß der Verstorbene durch das Trimmloch gefallen sei und er sich bemüht habe, sich aus dem auf ihn hernieder rieselnden Getreide zu befreien, hätte eine Schiffsbesichtigung bewiesen, daß die für Sch. dabei gegeben gewesenen Anstrengungen nicht im entferntesten als eine für den Tod wesentliche Mitursache betriebsbedingter Art anzusehen seien. Die Ergebnisse der Leichenöffnung hätten das LSG in dieser Ansicht bestärken müssen.

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat sich im Schriftsatz vom 24. Juni 1963 im wesentlichen die Ausführungen des angefochtenen Urteils zu eigen gemacht. Nach der Art des Herzleidens, das der Verstorbene gehabt habe, könne Ursache des Herztodes allein eine ungewöhnliche Anstrengung anläßlich seiner Arbeitstätigkeit gewesen sein. Die andere mögliche denkbare Ursache, nämlich Herztod nur aus innerer Ursache, trete demgegenüber in den Hintergrund; dieser Umstand könne nicht dazu führen, den bei Sch. vorhanden gewesenen typischen Geschehensablauf als unwahrscheinlich erscheinen zu lassen. Die von der Revision für notwendig gehaltene Besichtigung eines Getreideschiffes durch das Berufungsgericht sei unnötig gewesen, denn durch eine solche Beweisaufnahme hätte nicht genügend geklärt werden können, welche Anstrengungen Sch. bei einem Sturz durch das Trimmloch hätte auf sich nehmen müssen.

Die - vom SG beigeladene - Allgemeine Ortskrankenkasse Emden hat im Schriftsatz vom 19. August 1963 die Revision der Beklagten für unbegründet gehalten. Sie hat darauf verwiesen, daß der Verstorbene wegen einer infolge eines Arbeitsunfalls erlittenen Brustkorbprellung vom 9. bis 30. September 1956 arbeitsunfähig krank gewesen sei. Es sei nicht unwahrscheinlich, daß sich dieser Arbeitsunfall bei der von Sch. am 4. Oktober 1956 geleisteten Arbeit noch nachteilig ausgewirkt habe. Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Beklagte beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Der Senat hat gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entschieden.

Die - durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) - Revision ist begründet.

Wie die Beklagte mit Recht dargetan hat, gilt für die gesetzliche Unfallversicherung (UV) der Grundsatz der sogenannten objektiven Beweislast (vgl. BSG 6, 70; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I S. 244 1, m mit weiteren Nachweisen; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 103 Anm. 4). Ist trotz Ausschöpfung aller dem Gericht gegebenen Möglichkeiten der Sachverhalt nicht in ausreichendem Maße zu ermitteln (§ 103 SGG), so sind die Folgen der objektiven Beweislosigkeit von dem zu tragen, der aus den feststellungsbedürftigen, indessen nicht bewiesenen Tatsachen für sich Rechte herleiten will. Kann sonach in der vorliegenden Streitsache das Bestehen eines Arbeitsunfalls und dessen ursächlicher Zusammenhang mit dem Tod des Ehemannes der Klägerin nicht bewiesen werden, ist der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nicht begründet.

Das LSG ist von jenem Grundsatz der objektiven Beweislosigkeit abgewichen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 19, 52) besteht aber keine "Rechtsvermutung" des Inhalts, daß ein Versicherter, wenn er auf der Betriebsstätte tot aufgefunden wird und die Todesursache nicht einwandfrei zu ermitteln ist, jedoch eine Betriebseinrichtung als mitwirkende Todesursache in Betracht kommt, einem Arbeitsunfall erlegen ist. Das Berufungsgericht hätte somit in freier richterlicher Beweiswürdigung entscheiden müssen, ob eine der versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin zuzurechnende oder eine innere betriebsfremde Ursache dessen Tod zur Folge gehabt hat.

Der Senat hat nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG verfahren. Zwar hat das Vordergericht im angefochtenen Urteil ausgeführt, daß es von allen möglichen und denkbaren Todesursachen keiner eine größere Wahrscheinlichkeit zuerkennen könne. Das Berufungsgericht ist in seinem Urteil aber nicht etwa davon ausgegangen, daß eine betriebliche Todesursache nicht hinreichend wahrscheinlich sei; seine Entscheidung gründet sich vielmehr auf jene zu Unrecht angewandte Rechtsvermutung in Verbindung mit der Feststellung, daß diese durch das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht widerlegt sei. Bei der vom Berufungsgericht erneut vorzunehmenden Prüfung des Streitstoffes wird dieses auch das Revisionsvorbringen der Beteiligten zu würdigen haben. Wie der Senat in Fällen ähnlicher Art bereits entschieden hat (BSG 19, 52, 56), ist es dem LSG nicht verwehrt, angesichts der besonderen Sachlage des Einzelfalles an den Beweis der anspruchsbegründenden Tatsachen des behaupteten Unfalltodes keine übermäßig hohen Anforderungen zu stellen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2180147

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