Leitsatz (amtlich)

Für Zeiten, für die ein infolge der Auflösung der neuen Ehe erworbener Unterhaltsanspruch nicht verwirklicht werden kann, ist er nicht auf die wiederaufgelebte Witwen- oder Witwerrente anzurechnen (Anschluß an BSG 1964-11-04 11/1 RA 127/63 = BSGE 22, 78 zu AVG § 68). Daß der Anspruch nicht zu verwirklichen ist, kann sich zB auch aus erfolglosen Vollstreckungsversuchen anderer Gläubiger ergeben.

 

Normenkette

RVO § 1291 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Dezember 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Streitig ist es, ob auf die nach § 1291 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wiederaufgelebte Witwenrente der Klägerin ein Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen - zweiten - Ehemann anzurechnen ist.

Die Klägerin bezog von 1945 an Witwenrente aus der Invalidenversicherung ihres im zweiten Weltkrieg gefallenen ersten Ehemannes. Am 1. September 1948 heiratete sie den Kellner H P (P.). Diese Ehe, aus der vier Kinder hervorgegangen sind, wurde am 18. September 1959 aus alleinigem Verschulden des Ehemannes rechtskräftig geschieden. Mit Bescheid vom 8. Dezember 1960 erkannte die beklagte Landesversicherungsanstalt das Wiederaufleben der Witwenrente an, lehnte jedoch entsprechende Leistungen ab, weil die Klägerin gegen ihren geschiedenen Ehemann einen auf die Rente anzurechnenden Unterhaltsanspruch von monatlich 130 DM habe.

Mit der Klage hat die Klägerin vorgebracht, ihr geschiedener Ehemann habe ihr praktisch keinen Unterhalt gezahlt, sie sei auf Fürsorgeunterstützung angewiesen. Sie hat deshalb beantragt, unter Änderung des Rentenbescheides vom 8. Dezember 1960 die Beklagte zu verpflichten, ihr die Witwenrente nach ihrem ersten Ehemann ungekürzt zu gewähren. Demgegenüber hat die Beklagte die Auffassung vertreten, nach § 1291 Abs. 2 RVO sei die Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs auf die wiederaufgelebte Witwenrente nicht von der Realisierbarkeit, vielmehr nur von dem Bestehen jenes Anspruchs abhängig.

Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat zur Klärung des Sachverhalts die Akten 402-03/1 des Kreiswohlfahrtsamts O (Holstein) beigezogen und den Kreisinspektor L als Zeugen vernommen. Durch Urteil vom 12. Juli 1962 hat es die Beklagte entsprechend dem Klageantrag verurteilt, jedoch eine Kürzung der Rente um 20 DM für April 1960 zugelassen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt: Es sei schon zweifelhaft, ob die Klägerin durch die Ehescheidung einen Unterhaltsanspruch erworben habe; P. habe nämlich auch seine vier minderjährigen, noch schulpflichtigen Kinder zu unterhalten. Selbst wenn aber der Klägerin ein Anspruch zustehe, so sei dieser nicht realisierbar. Die Fürsorgebehörde habe ständig versucht, den Aufenthalt des P. zu ermitteln, um wegen ihrer beträchtlichen Unterhaltsaufwendungen zu vollstrecken. Die Zwangsvollstreckungsversuche seien jedoch - abgesehen von zwei Beträgen von je 30 DM, die im April 1960 beigetrieben worden seien - ergebnislos verlaufen, so daß der Schuldner schließlich wegen Verletzung der Unterhaltspflicht habe bestraft werden müssen. Ein Unterhaltsanspruch stehe der Klägerin also allenfalls formal zu; es sei nicht damit zu rechnen, daß er jemals realisiert werden könne. Auf die Realisierbarkeit komme es aber bei der Anwendung des § 1291 Abs. 2 RVO an. Somit sei auf die wiederaufgelebte Witwenrente nur ein anteiliger Betrag der bisher beigetriebenen 60 DM - 20 DM für die Mutter, 10 DM für jedes der vier Kinder - anzurechnen.

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt mit der Begründung, die Anrechnung eines durch die Auflösung der Ehe erworbenen Unterhaltsanspruchs auf die Rente nach § 1291 Abs. 2 RVO setze die Realisierbarkeit jenes Anspruchs nicht voraus.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 12. Dezember 1963 zurückgewiesen. Es hat die Rechtsauffassung des SG, daß auf die Realisierbarkeit des Unterhaltsanspruchs abzustellen sei, gebilligt.

Das LSG hat die Revision zugelassen, die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt.

Zur Begründung hat die Beklagte zunächst ihre Rechtsauffassung wiederholt, daß es bei der Anwendung des § 1291 Abs. 2 RVO auf den Unterhaltsanspruch als solchen, nicht aber auf seine Realisierbarkeit und erst recht nicht - wie das LSG meine - auf den tatsächlich geleisteten Unterhalt ankomme. Außerdem hat sie gerügt, das LSG habe insofern seine Aufklärungspflicht verletzt, als es nicht selbst durch Beweiserhebung geprüft habe, ob und in welcher Höhe bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung tatsächlich Unterhalt gewährt worden sei. Nachdem der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch Urteil vom 4. November 1964 (BSG 22, 78) entschieden hatte, nach § 68 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (= § 1291 Abs. 2 RVO) sei ein Unterhaltsanspruch auf die wiederaufgelebte Witwenrente nicht anzurechnen, wenn er nicht zu verwirklichen sei, hat die Beklagte ausgeführt: Sie halte diese Rechtsauffassung für zutreffend und verfahre in der Praxis auch bereits danach. Gleichwohl müsse der vorliegende Rechtsstreit weitergeführt werden, weil das LSG es unter Verletzung seiner Pflicht zur Sachaufklärung unterlassen habe, zu prüfen, ob der Unterhaltsanspruch gegen P. nicht doch realisierbar sei. Dies sei anzunehmen, weil sich aus dem gegen P. ergangenen Strafurteil ergebe, daß er ständig ein zum Unterhalt von Frau und Kindern ausreichendes Einkommen erzielt habe. Die Klägerin habe gegen P. nicht einmal Klage erhoben. Sie habe sich allein auf das Fürsorgeamt verlassen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, das LSG habe im Ergebnis zutreffend entschieden und auch seine Pflicht zur ausreichenden Erforschung des Sachverhalts nicht verletzt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Daß die Witwenrente der Klägerin aus der Rentenversicherung ihres ersten Ehemannes vom 1. Oktober 1959 an gemäß § 1291 Abs. 2 RVO wiederaufgelebt ist, hat die Beklagte durch Bescheid vom 8. Dezember 1960 bindend festgestellt. Auf diese Rente ist nach Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 der angeführten Vorschrift u. a. ein "von der Witwe infolge Auflösung der Ehe erworbener neuer Unterhaltsanspruch anzurechnen". Daß die Klägerin einen solchen Anspruch erworben hat, hat weder das LSG festgestellt noch die Beklagte näher dargelegt. Trotz der alleinigen Schuld des geschiedenen Ehemannes könnte ein Unterhaltsanspruch der Klägerin vor allem wegen - zumindest zeitweiliger - Leistungsunfähigkeit des Verpflichteten - Arbeitsunfähigkeit, Inhaftierung, anderweitige Unterhaltsverpflichtungen usw. - in Frage gestellt sein (§§ 58 ff des Ehegesetzes - EheG -). Auf dahingehende Feststellungen kommt es jedoch für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht an, weil sich die Klägerin nach Lage des Falles einen ihr etwa zustehenden Unterhaltsanspruch jedenfalls für die Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nicht auf ihre Witwenrente anrechnen lassen muß. Voraussetzung für die Anrechnung ist nämlich, daß der Anspruch, wie bereits der 11. Senat des BSG aaO entschieden hat und die Beklagte auch nicht mehr in Zweifel zieht, sich verwirklichen läßt. Dies hat der 11. Senat vor allem aus dem der auszulegenden Vorschrift innewohnenden Gedanken der "Mindestversorgungsgarantie" in Höhe der Witwenrente und aus den vergleichsweise berücksichtigungsfähigen Regelungen auf den Gebieten der gesetzlichen Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung (§ 615 Abs. 2 RVO, § 44 Abs. 5 des Bundesversorgungsgesetzes) gefolgert. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der erkennende Senat an (vgl. auch das Urteil 4 RJ 417/64 vom 9. März 1966).

Daß ein Unterhaltsanspruch nicht zu verwirklichen ist, wird in der Regel erst angenommen werden können, wenn der Berechtigte alle Vollstreckungsmöglichkeiten gegen den Schuldner ausgenutzt hat, aber nicht zum Erfolg gekommen ist (vgl. BSG 22, 78, 80). Auf die fehlende Realisierbarkeit eines Anspruchs kann aber auch aus fruchtlosen Vollstreckungsmaßnahmen eines anderen Gläubigers geschlossen werden, zumal wenn es sich bei diesem anderen Gläubiger um eine Behörde handelt, die über die Möglichkeiten der Amtshilfe und deshalb über wirksamere Mittel zur Vorbereitung und Durchführung von Pfändungen verfügt als ein privater Gläubiger.

Entgegen der Meinung der Revision reichen die vom LSG getroffenen Feststellungen zum Nachweis der fehlenden Realisierbarkeit eines etwaigen Unterhaltsanspruchs der Klägerin aus. Wie das Berufungsgericht - von der Revision unangegriffen - ausdrücklich festgestellt hat, hat P. in den vier Jahren von der Scheidung der Ehe bis zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG - abgesehen von einem unbedeutenden, im erstinstanzlichen Urteilsausspruch berücksichtigten Betrag - keine Unterhaltszahlungen an die Klägerin geleistet und wegen Verletzung der Unterhaltspflicht eine Gefängnisstrafe hinnehmen müssen. Außerdem hat sich das LSG erkennbar die Feststellung des SG zu eigen gemacht, die Fürsorgebehörde habe ständig, aber ohne Erfolg versucht, den immer wieder gewechselten Aufenthalt des Schuldners zu ermitteln und wegen beträchtlicher Unterhaltsaufwendungen gegen ihn zu vollstrecken. Auch diese Feststellungen hat die Beklagte nicht mit zulässigen Revisionsrügen angegriffen, was sich wohl daraus erklärt, daß ihr die neuerliche Strafverfolgung des Schuldners wegen Verletzung der Unterhaltspflicht - sie hat am 26. Februar 1964 zu einer weiteren Bestrafung mit sechs Monaten Gefängnis geführt - bekannt geworden ist. Allein die Revisionsrüge, daß der Schuldner ein zum Unterhalt von Frau und Kindern ausreichendes Einkommen erzielt habe, reicht zum Nachweis eines Mangels im Verfahren des LSG - Verletzung der Aufklärungspflicht - nicht aus. Wenn zur Überzeugung des LSG festgestanden hat, daß der Schuldner es durch ständigen Wechsel seiner Arbeitsstelle und seines Aufenthalts verstanden hat, sich dem Zugriff seiner Gläubiger zu entziehen, dann bedurfte es keiner Beweiserhebung über die Höhe des von dem Schuldner in der Vergangenheit erzielten Einkommens. Die Feststellungen des LSG rechtfertigen die Annahme, daß ein etwaiger Unterhaltsanspruch der Klägerin jedenfalls bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht zu verwirklichen war.

Das Urteil des LSG ist daher im Ergebnis richtig. Die Revision der Beklagten muß als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1982502

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