Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 02.10.1990)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2. Oktober 1990 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Sozialgericht (≪SG≫; Urteil vom 5. Juli 1989), Landessozialgericht (≪LSG≫; Urteil vom 2. Oktober 1990) sowie die Verfahrensbeteiligten sind darüber einig, daß bei dem Kläger der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit (BU) im April 1987 eingetreten ist. Mit ihrer Revision wendet die Beklagte sich insoweit gegen das Urteil des LSG, als sie zur Gewährung einer zeitlich unbefristeten Rente wegen BU verurteilt worden ist.

Der 50jährige Kläger war von 1970 bis 1984 mit einer kürzeren Unterbrechung im Ruhrbergbau knappschaftlich versichert, zuletzt langjährig als Hauer. Seitdem war er mit einer kurzzeitigen eingeschobenen Zeit der Beschäftigung entweder arbeitsunfähig oder arbeitslos.

Von Januar 1985 bis Juli 1986 gewährte die Beklagte ihm eine Zeitrente wegen BU und danach die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit.

Der Antrag des Klägers, ihm Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zu gewähren, blieb erfolglos (Bescheid vom 17. September 1987, Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 1988). Das SG hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, bei dem Kläger von dem Eintritt des Versicherungsfalles der BU im April 1987 auszugehen und ihm die begehrte Rente zu zahlen. Die Berufung der Beklagten war erfolglos. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das LSG hat festgestellt, der Kläger könne noch vollschichtig leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen verrichten, wobei er nicht auf Leitern und Gerüsten arbeiten und nicht mehr als 10 kg heben dürfe. Dieses Leistungsvermögen reiche für eine Fortsetzung der Berufstätigkeit in seinem Hauptberuf als Hauer nicht aus. Andere sozial zumutbare Arbeiten könne er aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr verrichten. Die Tätigkeiten als Magazinarbeiter oder Maschinenwärter könne er nicht mehr erledigen, ohne seine Gesundheit zu gefährden. Als Lampenwärter und Verwieger 1 habe er jetzt und in aller Zukunft keine auch nur geringe Chance, sein noch vorhandenes Leistungsvermögen einzusetzen. Dies ergebe sich aus der vom Gericht durchgeführten Beweisaufnahme, ua aus den Auskünften aller knappschaftlich versicherten Unternehmungen im Bundesgebiet. Die Zahl der Lampenwärter- und Verwiegerstellen sei infolge fortschreitender Rationalisierung, Automatisierung und Mechanisierung im Bergbau einem Schrumpfungsprozeß zum Opfer gefallen. Infolge dieser Änderung der Berufsstrukturen durch technischen Fortschritt bestehe bezüglich dieser Tätigkeiten auch in Zukunft keine Möglichkeit einer günstigen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die BU des Klägers beruhe daher ausschließlich auf seinem Gesundheitszustand, so daß eine Zeitrentengewährung nach § 72 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) nicht in Betracht komme.

Die Beklagte vertritt im Revisionsverfahren die Auffassung, das LSG habe die Vorschrift des § 72 Abs 1 Satz 2 RKG unrichtig angewendet. Zwar habe es zutreffend festgestellt, daß die Arbeitsplätze der Lampenwärter und Verwieger 1 in den letzten 10 Jahren nur durch leistungsgeminderte Betriebsangehörige besetzt worden seien. Diese Tatsache und die Veränderung der Berufsstruktur bei den Lampenwärtern und Verwiegern 1 könne jedoch die Annahme des LSG nicht rechtfertigen, der Arbeitsmarkt sei dem Kläger insoweit nicht aus arbeitsmarktlichen bzw konjunkturellen Gründen verschlossen. Das LSG verkenne die Bedeutung des Begriffes Arbeitsmarkt. Beide Tätigkeiten seien in Tarifverträgen erfaßt, so daß nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich davon auszugehen sei, daß sie noch in hinreichender Zahl vorhanden seien. Entgegen der Auffassung des LSG fordere § 72 Abs 1 Satz 2 RKG nicht die Möglichkeit einer Änderung der Arbeitsmarktlage. Die Arbeitsmarktentwicklung in den vergangenen Jahren habe gezeigt, daß konjunkturabhängige Faktoren bedeutsam, ihrerseits aber ständigen Schwankungen unterworfen seien. Die Situation im westdeutschen Steinkohlebergbau sei zB von der energiewirtschaftlichen Entwicklung des Weltmarktes, insbesondere des Zugangs zu anderen Energiequellen, abhängig.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 2. Oktober 1990 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 5. Juli 1989 insoweit abzuändern, als die Beklagte zur Gewährung einer zeitlich unbefristeten Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt worden ist und in diesem Umfange die Klage des Klägers abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er weist daraufhin, daß er nach den Feststellungen des LSG nicht einmal mehr eine theoretische Chance besitze, als Verwieger 1 oder Lampenwärter zu arbeiten. Es fänden allenfalls Umsetzungen innerhalb der Betriebe statt. Auch die Entwicklung der Energiegewinnung und -versorgung führe in Zukunft nicht dazu, daß im Bergbau der fortschreitende Schrumpfungsprozeß gestoppt werden könne. Die Tätigkeiten als Lampenwärter und Verwieger 1 seien dem Arbeitsmarkt auf Dauer entzogen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Der Kläger hat seit April 1987 einen Anspruch auf Rente wegen BU, und zwar ohne zeitliche Begrenzung.

Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger in seinem Facharbeiterberuf oder in einer ihm sozial zumutbaren Position seit dem genannten Zeitpunkt das ihm noch verbliebene Leistungsvermögen nicht mehr nutzen. Hiervon geht auch die Beklagte aus; sie hat demgemäß die dieser Auffassung zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angefochten, so daß sie für den erkennenden Senat verbindlich sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

Die Voraussetzungen für eine zeitliche Begrenzung des Rentenanspruchs des Klägers sind nicht gegeben. Nach dem angefochtenen Urteil wird das körperliche Leistungsvermögen des Klägers sich voraussichtlich nicht bessern. Die voraussichtliche Abänderbarkeit der gesundheitlichen Verhältnisse ist Grundvoraussetzung für die Gewährung der Zeitrente nach § 72 Abs 1 Satz 1 RKG. Die Zeitrentengewährung nach § 72 Abs 1 S 2 RKG erfordert einen grundsätzlich zugänglichen Arbeitsmarkt, der zwar nicht im Zeitpunkt der Entscheidung über den Rentenantrag, wohl aber in absehbarer Zeit eine Vermittlung in Arbeit ermöglicht, ohne daß die Bedingungen des Arbeitsmarktes allerdings vom Versicherungsträger zu prognostizieren sind. Auch dies ist zu verneinen. Infolgedessen beruht die BU beim Kläger ausschließlich auf seinem Gesundheitszustand, dagegen nicht auf den Verhältnissen des Arbeitsmarktes.

Demgegenüber meint die Beklagte, die Arbeitsmarktsituation rechtfertige im zugrunde liegenden Fall nur die Gewährung einer Zeitrente. Nach § 72 Abs 1 Satz 2 RKG ist eine Rente auf Zeit zu leisten, wenn die BU nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Klägers beruht (angesichts des Alters des Klägers spielt die weitere Voraussetzung dieser Vorschrift keine Rolle). Es kommt demgemäß im vorliegenden Rechtsstreit darauf an, ob die beim Kläger gegebene BU außer durch seinen Gesundheitszustand auch durch die besonderen Verhältnisse des Arbeitsmarktes iS der geltenden Ursachenlehre wesentlich mitverursacht ist (GS BSGE 30, 167, 178/179; SozR 2200 § 1247 Nr 57). Dabei ist für die Leistungsgewährung der Zeitpunkt der Entscheidung über den Rentenantrag maßgebend.

Die Zeitrente ist – wie bereits angedeutet – zu gewähren, wenn wegen des eingeschränkten Leistungsvermögens und der aktuellen Lage auf dem Arbeitsmarkt zum Zeitpunkt der Entscheidung eine zumutbare Verweisung nicht realisierbar ist. Obwohl also derzeit praktisch keine Chance besteht, in einem zumutbaren Verweisungsberuf unterzukommen (vgl ua BSG SozR 2200 § 1246 Nr 110), wird von Gesetzes wegen die zukünftige Veränderbarkeit des Arbeitsmarktes fingiert. Ein auf Dauer unveränderbarer Arbeitsmarkt könnte die Zeitrentengewährung nicht rechtfertigen. Der Umstand, daß Zeitrente über einen größeren Zeitraum und letztendlich bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres zuerkannt werden kann, spricht ebenfalls dafür, daß der Gesetzgeber von einem variablen Arbeitsmarkt ausgeht. Er wollte durch die Gewährung von Zeitrente den Verhältnissen der Arbeitswelt, die ständigen Veränderungen unterliegt und deren Entwicklung nicht vorhersehbar ist, entsprechend Rechnung tragen. Dies folgt aus der Entwicklung der Vorschrift des § 72 Abs 1 Satz 2 RKG:

Durch Art 2 § 3 Nr 19 des 20. Rentenanpassungsgesetzes (20. RAG) vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1040) erhielten mit Wirkung ab 1. Juli 1977 erstmalig die Umstände des Arbeitsmarktes Bedeutung für die Frage, ob einem Versicherten eine Zeitrente oder eine Rente auf Dauer zusteht. Nach § 72 Abs 1 Halbs 1 RKG (§ 1276 Abs 1 Halbs 1 RVO) sollte Zeitrente gewährt werden, wenn begründete Aussicht besteht, daß die BU bzw EU in absehbarer Zeit behoben sein kann; nach dem 2. Halbs „gilt dies insbesondere dann, wenn die BU bzw EU nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Berechtigten beruht”. Diese Neufassung des Gesetzes wurde aufgrund der Beschlußempfehlung und des Berichtes des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Bundestages vom 26. April 1977 zum 20. RAG verabschiedet. In der Beschlußempfehlung ist ausgeführt, daß die Möglichkeit von zeitlich begrenzten Renten wegen BU oder EU erweitert werden sollte (vgl BT-Drucks 8/337 S 3). Zeitlich begrenzte Renten sollten vor allem dann – ggf mehrmals – gewährt werden, wenn andere Gründe als der Gesundheitszustand des Versicherten für die Bewilligung der BU- oder EU-Rente ausschlaggebend sind, insbesondere die Situation auf dem Arbeitsmarkt (vgl BT-Drucks 8/337, S 5, 6, 91). Dies konnte in der Vorstellung des Ausschusses aufgrund der Rechtsprechung des BSG in starkem Maße der Fall sein. In solchen Fällen solle die Gewährung der Zeitrente beliebig oft wiederholt werden (BT-Drucks 8/337 S 91).

Ergänzend wurde empfohlen, die Bundesregierung zu ersuchen, die Auswirkungen der Rechtsprechung des BSG zur BU und EU sorgfältig zu beobachten und ggf Vorschläge zu Rechtsänderungen zu machen, durch die unangemessene Auswirkungen vermieden würden (BT-Drucks 8/337 S 10, 91). Anlaß für diese Beschlußempfehlungen war die Rechtsprechung des BSG, insbesondere der Beschluß des Großen Senats vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75f = SozR 2200 § 1246 Nr 13), deren finanzielle Auswirkungen nicht abschätzbar schienen und der durch die Beschlußempfehlung Rechnung getragen werden sollte. Die Möglichkeit der Gewährung einer Zeitrente sollte gerade auf die Fälle ausgedehnt werden, in welchen nach der Rechtsprechung des BSG die Arbeitsmarktlage eine besondere Rolle spielte, zB bei einem Versicherten, der noch sechs Stunden täglich, also fast vollschichtig, arbeiten kann, aber als erwerbsunfähig anzusehen ist, weil ihm kein Arbeitsplatz nachgewiesen wird. Es wurde vom Ausschuß für wichtig erachtet, daß Versicherte, die zwar nicht im Augenblick, wohl aber in absehbarer Zeit vermittelt werden könnten, sich nicht endgültig auf die Rente einstellten. In solchen Fällen sollte auch über den Zeitraum von sechs Jahren hinaus eine Zeitrente gewährt werden (vgl Protokoll der 11. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Bundestages vom 26. April 1977).

§ 72 Abs 1 Halbs 2 RKG bzw die wortgleiche Vorschrift in § 1276 Abs 1 Halbs 2 RVO wurde durch die Rechtsprechung (BSG SozR 2200 § 1276 Nrn 4, 7) dahin ausgelegt, daß auch bei einem nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Versicherten beruhenden Versicherungsfall nur dann Zeit- statt Dauerrente zu gewähren sei, wenn „begründete Aussicht” bestehe, daß sich der Arbeitsmarkt ändern werde. Die den Versicherungsträgern durch diese Entscheidung aufgebürdete Prognosestellung bezüglich der Bedingungen des Arbeitsmarktes hat den Gesetzgeber zu der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung des Gesetzes veranlaßt. Die auf dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 (HBegleitG) beruhende Änderung des § 72 Abs 1 RKG (BGBl I S 1857) beabsichtigte, die Versicherungsträger von der Notwendigkeit zu entbinden, die Arbeitsmarktbedingungen über den Zeitpunkt der Entscheidung hinaus zu prognostizieren. Dies ist insbesondere dadurch zum Ausdruck gebracht worden, daß der jetzige Satz 2 der Vorschrift verselbständigt worden ist, während er vorher als Halbsatz der Vorgängernorm formuliert und damit in die Prognosenotwendigkeit der Vorschrift eingebunden worden war (s BSG SozR 2200 § 1276 Nr 8 und BT-Drucks 9/2140 S 103; aA Oberfeld SGb 1984, 507, 508;

wie hier Bürck DAngVers 1984, 191). In der Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist ausgeführt, daß nach dem 20. RAG Zeitrenten zu leisten seien, wenn die BU oder EU nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand des Versicherten, sondern auch auf der Situation auf dem (Teilzeit-)Arbeitsmarkt beruhe. Eine Prognose, inwieweit eine begründete Aussicht bestehe, daß der Teilzeitarbeitsmarkt eine Arbeitsvermittlung in absehbarer Zeit zulasse, sei für die Versicherungsträger kaum zu stellen. Durch die Änderung solle die vom Gesetzgeber mit dem 20. RAG verfolgte Zielsetzung verdeutlicht und die Anwendung in der Praxis erleichtert werden (BR-Drucks 143/82 S 6). Es werde klargestellt, daß Renten wegen BU oder EU immer nur als Zeitrenten zu leisten seien, wenn der Rentenanspruch auch auf der jeweiligen Teilzeitarbeitsmarktlage beruhe (BT-Drucks 9/2140 S 103). Der Gesetzgeber setzte mithin – wie ausgeführt – die Möglichkeit der Änderung der Lage auf dem Teilzeit-Arbeitsmarkt für die Gewährung einer Zeitrente als gegeben voraus.

Diese Rechtsentwicklung hat der erkennende Senat zu beachten. Nach seiner Überzeugung ist § 72 Abs 1 Satz 2 RKG demzufolge dahin auszulegen, daß eine Zeitrente dann zu gewähren ist, wenn für die Leistungsgewährung die im Entscheidungszeitpunkt herrschenden Bedingungen des für den Versicherten noch nicht verschlossenen Arbeitsmarkt eine Mitursache sind. Das ist hier mit den Vorinstanzen gerade zu verneinen.

Für die seit dem 1. Januar 1992 geltende Vorschrift des § 102 Abs 2 des Sozialgesetzbuches – Sechstes Buch – (SGB VI) gilt nichts anderes. Nach § 102 Abs 2 Nr 2 SGB VI wird die BU-Rente auf Zeit geleistet, wenn der Anspruch auch von der jeweiligen Arbeitsmarktlage abhängig ist. Mit dieser Formulierung hat der Gesetzgeber die Rechtslage nicht erneut verändert, sondern vielmehr den Inhalt von § 72 Abs 1 Satz 2 RKG übernommen (BR-Drucks 120/89 S 176). Nach dem oben Gesagten ist unter der „jeweiligen Arbeitsmarktlage” im Sinne von § 102 Abs 2 SGB VI diejenige Arbeitsmarktlage zu verstehen, wie sie sich im jeweiligen Zeitpunkt der Entscheidung über den Anspruch auf Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit darstellt.

Entgegen der Meinung der Beklagten ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß der für Lampenwärter und Verwieger 1 maßgebliche Arbeitsmarkt auf Dauer verschlossen ist. Mögliche energiewirtschaftliche Entwicklungen des Weltmarktes, die Auswirkungen auf den Zugang zu den Tätigkeiten als Lampenwärter oder Verwieger 1 haben könnten, sind prognostischer Natur und so fernliegend, daß sie unbeachtet bleiben müssen. Wenn das LSG wegen der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes Dauerrente zuerkannt hat, entspricht dies auch der Rechtsprechung des BSG (vgl ua SozR 2200 § 1246 Nr 137; für Verwieger 1 vgl SozR 1500 § 62 Nr 24).

Im übrigen hat sich für den Zeitpunkt ab dem Rentenbeginn (April 1987) die Lage auf dem Arbeitsmarkt bezüglich der hier allein interessierenden Tätigkeiten des Verwiegers 1 und des Lampenwärters bis zur Entscheidung des LSG nicht verändert. Dies ergibt sich aus den Feststellungen des LSG. Dieses Gericht hatte daher für den gesamten Zeitraum bis zu seiner Entscheidung von einheitlichen tatsächlichen Voraussetzungen auszugehen. Danach bestand für den Kläger während mehr als 10 Jahren keinerlei Chance, Zugang zu diesen Tätigkeiten zu bekommen. Dies hatte seine Ursache vor allen Dingen darin, daß die Tätigkeiten nur noch betriebsintern vergeben werden. Zu diesem begünstigten Personenkreis der im Unternehmen Beschäftigten zählt der Kläger seit seiner Abkehr vom Bergbau nicht. Er hatte daher, wie das LSG verbindlich festgestellt hat (§ 163 SGG), schon seit vielen Jahren keine auch noch so geringe Chance, als Verwieger 1 oder Lampenwärter eingesetzt zu werden (vgl ua BSG SozR Nr 22 zu § 46 RKG, SozR Nr 103 zu § 1246, SozR 2600 § 46 Nr 1 – SozR 2200 § 1246 Nr 110 und SozR 1500 § 62 Nr 24). Demzufolge ist hier unerheblich, daß beide Tätigkeiten nach wie vor in Tarifverträgen erfaßt sind; denn die grundsätzlich zutreffende Annahme, es seien entsprechende Arbeitsplätze auch für den einzelnen Versicherten vorhanden, ist hier widerlegt (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 19 = BSGE 44, 39 ≪40≫, SozR 2200 § 1246 Nrn 90 und 102 und SozR 2600 § 46 Nr 20).

Unter diesen Umständen des vorliegenden Falles gibt es keinen „Arbeitsmarkt” für den Kläger. Die Verwendung des Begriffes „Arbeitsmarkt” verlangt eine Auslegung durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit. Sie kann und muß entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch und Wortsinn vorgenommen werden, zumal die Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes ≪AFG≫ (vgl ua § 2 Nrn 5, 6 und 8; § 6; § 33 Abs 1; § 54 Abs 1 und § 55 Abs 1) keine auch nur annähernde Legaldefinition enthalten. Danach kann von einer „Marktlage” nur gesprochen werden, wenn einer Nachfrage ein auch noch so geringes Angebot gegenübersteht. Eben hieran fehlt es im vorliegenden Falle für den Personenkreis, welcher nicht zu den im Bergbau beschäftigten Versicherten gehört. Für sie besteht seit vielen Jahren keinerlei Angebot an Arbeitsplätzen für Verwieger 1 und Lampenwärter. Demgemäß ist es nicht möglich, diese Arbeitsplätze zu berücksichtigen, wenn es um die Beurteilung der Frage geht, ob ein Arbeitsmarkt vorhanden und mitursächlich für die BU eines Versicherten ist.

Infolgedessen ist im vorliegenden Rechtsstreit davon auszugehen, daß der Kläger nicht auch infolge einer Arbeitsmarktlage, sondern ausschließlich durch die Einschränkungen seines Leistungsvermögens außerstande ist, im Rahmen der zumutbaren Verweisungsberufe die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen.

Nach alledem liegen bei dem Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung einer Zeitrente nach § 72 Abs 1 Satz 2 RKG bzw § 102 Abs 2 SGB VI nicht vor (ebenso im Ergebnis für die Verweisung eines nicht mehr im Bergbau Beschäftigten auf die Tätigkeit eines Verwiegers 1: BSG SozR 1500 § 62 Nr 24).

Der Senat brauchte nicht allgemein auf die Frage einzugehen, unter welchen Umständen Zeitrente nach der Vorschrift des § 72 Abs 1 Satz 2 RKG (bzw § 102 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI) zu gewähren ist (etwa bei zeitlich eingeschränkter Einsatzfähigkeit: BSG SozR 2200 § 1276 Nr 8 oder bei Verlust eines behindertengerecht ausgestalteten Arbeitsplatzes: BSG SozR 2200 § 1247 Nr 57). Ferner kann unentschieden bleiben, ob bei der Zeitrentengewährung zwischen einem nicht bestehenden und einem verschlossenen Arbeitsmarkt (BSG SozR 2600 § 46 Nr 20) zu differenzieren ist. Schließlich hatte der Senat nicht darauf einzugehen, ob die Gewährung einer Zeitrente, die auch auf der Arbeitsmarktlage beruht, nur auf den Teilzeitarbeitsmarkt abstellt, worauf die Rechtsprechung des Großen Senats sowie die Gesetzesentwicklung hinzudeuten scheint, oder gleichwohl es auf den Umfang des Arbeitsmarktes nicht ankommt und demgemäß auch bei vollschichtiger Einsatzfähigkeit möglich ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 230

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