Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 10.02.1993; Aktenzeichen L 5 Ka 138/92)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Februar 1993 wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat der Beklagten deren Aufwendungen für das Revisionsverfahren und den Beigeladenen zu 6) und 12) bis 16) deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung zur Teilnahme an einem gebietsärztlichen Notfalldienst (NFD).

Der Vorstand der Abrechnungsstelle Mannheim der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) beschloß am 26. Februar 1985, bestätigt und ergänzt durch die Beschlüsse vom 9. Juli und 20. August 1985, die Einrichtung eines gynäkologischen NFD ua im Rhein-Neckar-Kreis Nord zum 1. Oktober 1985, um die ambulante ärztliche Versorgung an Wochenenden zu gewährleisten und die Klinikambulanzen zu entlasten. Der NFD sollte als Hintergrunddienst eingeführt werden. Die betroffenen Gebietsärzte sollten vom allgemeinen NFD befreit werden. Mit Rundschreiben vom 3. Juni 1985 teilte die Abrechnungsstelle Mannheim der Beklagten den betroffenen Gebietsärzten die Einrichtung des gynäkologischen NFD mit. Mit weiterem Rundschreiben vom 1. Oktober 1985 übermittelte sie den Ärzten einen für Oktober 1985 bis Januar 1986 bestimmten Dienstplan.

Der Kläger, ein zur kassenärztlichen Versorgung zugelassener Frauenarzt, erhob mit anderen betroffenen Frauenärzten gegen die Schreiben vom 3. Juni und 1. Oktober 1985 Widerspruch, den der Vorstand der Beklagten mit Bescheid vom 25. November 1985 zurückwies. Die Beklagte verpflichtete sich jedoch, den Kläger einstweilen nicht zur Ableistung des NFD heranzuziehen.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ Karlsruhe vom 27. März 1991 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 10. Februar 1993). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, Gegenstand der Anfechtungsklage seien die als Verwaltungsakte in der Form des Organisationsaktes zu qualifizierenden Beschlüsse der Abrechnungsstelle Mannheim der Beklagten, mit denen die Einrichtung eines frauenärztlichen NFD verfügt worden sei. Ihre Rechtsgrundlage bilde § 2 Abs 1 der „Notfalldienstordnung der Bezirksärztekammer Nordbaden und der Kassenärztlichen Vereinigung Nordbaden” (NFDO) vom 24. November 1982. Diese wiederum beruhe auf einer ausreichenden formellgesetzlichen Grundlage (für den kassenärztlichen Bereich bis 31. Dezember 1988: § 368 Abs 2, 3, § 368n Abs 1 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫; ab 1. Januar 1989: § 75 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB V≫; für den Ersatzkassenbereich: § 525c RVO iVm § 1 Abs 7, § 3 Abs 1 des Arzt/Ersatzkassenvertrages ≪EKV-Ärzte≫, seit 1. Oktober 1990: § 4 EKV-Ärzte). Die Einrichtung des frauenärztlichen NFD im Rhein-Neckar-Kreis Nord sei durch den Sicherstellungsauftrag für die kassen- bzw vertragsärztliche Versorgung gerechtfertigt. Der Beklagten stehe bei der Entscheidung, ob zur Gewährleistung einer bedarfsgerechten Versorgung die Einrichtung eines fachärztlichen NFD gehöre, ein weitreichender Beurteilungsspielraum zu, der von ihr nicht überschritten worden sei. Die ihr durch Art 12 des Grundgesetzes (GG) gezogenen Grenzen habe sie dabei nicht verletzt. Die Einrichtung eines fachärztlichen NFD liege im Interesse des Gemeinwohls, nämlich der fachgerechten kassenärztlichen Versorgung der Bevölkerung. Es sei nicht zu beanstanden, daß die Beklagte einen diesbezüglichen Bedarf bejaht habe. Die Heranziehung zum frauenärztlichen NFD stelle für den Kläger auch keine übermäßige und unzumutbare Belastung dar.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen Art 2 und 12 GG. Im Gegensatz zur Verpflichtung zur Teilnahme am allgemeinen NFD, die sich als zulässige Regelung der Berufungsausübung darstelle, verletze die Verpflichtung zur Teilnahme am fachspezifischen NFD bei ihm seine sich aus Art 2, 12 GG ergebenden Rechte; denn für den frauenärztlichen NFD im Rhein-Neckar-Kreis Nord bestehe, wie im einzelnen dargelegt wird, nur ein geringfügiger Bedarf, so daß die Einführung dieses NFD für ihn als betroffenen Frauenarzt unzumutbar sei.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Februar 1993 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. März 1991 sowie die Bescheide der Beklagten vom 3. Juni 1985 und 1. Oktober 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 1985 aufzuheben.

Die Beklagte und die Beigeladenen zu 1) bis 4) beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten die angefochtenen Urteile für zutreffend.

Die Beigeladenen zu 7) bis 11) beantragen,

die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Februar 1993 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. März 1991 sowie die Bescheide der Beklagten vom 3. Juni 1985 und 1. Oktober 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 1985 aufzuheben.

Die übrigen Beteiligten haben sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Entgegen der Auffassung des LSG sind allerdings nicht die Beschlüsse der Abrechnungsstelle Mannheim der Beklagten vom 26. Februar, 9. Juli und 20. August 1985 über die Einrichtung eines frauenärztlichen NFD Gegenstand der Anfechtungsklage. Vielmehr ist deren Umsetzung in den Schreiben der Beklagten vom 3. Juni und 1. Oktober 1985 angefochten. Mit diesen „Rundschreiben” ist gegenüber den betroffenen Gebietsärzten, mithin auch gegenüber dem Kläger, die verbindliche Verpflichtung zur Teilnahme am frauenärztlichen NFD ausgesprochen worden. Es handelt sich hierbei um Verwaltungsakte in der Form der Allgemeinverfügung (§ 31 Satz 2 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs ≪SGB X≫). Sie allein waren auch Gegenstand der Widerspruchsentscheidung der Beklagten vom 25. November 1985. Der Bescheid vom 1. Oktober 1985 hat sich zwar hinsichtlich der konkreten Terminsfestlegung durch Zeitablauf sowie durch die von der Beklagten eingegangene Verpflichtung, den Kläger nicht vor der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des NFD heranzuziehen, erledigt. Nicht erledigt hat sich dagegen die in dem Bescheid zum Ausdruck gekommene – nochmalige – Verpflichtung des Klägers zur Teilnahme an dem frauenärztlichen NFD ab 1. Oktober 1985.

In der Sache haben die Vorinstanzen jedoch zutreffend entschieden, daß die angefochtenen Bescheide der Beklagten rechtmäßig sind. Sie ergingen in Umsetzung der Beschlüsse der Beklagten über die Einrichtung eines frauenärztlichen NFD.

Rechtsgrundlage hierfür war nach den Feststellungen des LSG zum nichtrevisiblen Recht der Beklagten § 2 Abs 1 der gemeinsamen NFDO der Bezirksärztekammer Nordbaden und der Beklagten vom 24. November 1982 iVm der Protokollnotiz vom selben Tage. Danach ist die Beklagte nach Anhörung der Bezirksärztekammer Nordbaden berechtigt, zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung einen kassenärztlichen allgemeinen und/oder fachärztlichen NFD einzurichten. Die Ermächtigungsgrundlage für die Einrichtung eines NFD steht im Einklang mit Bundesrecht.

Zu der gemäß § 368n Abs 1 RVO von der KÄV sicherzustellenden kassenärztlichen (seit 1. Januar 1993 einheitlich: vertragsärztlichen) Versorgung gehört auch die Bereitstellung eines ausreichenden Not- und Bereitschaftsdienstes (§ 368 Abs 3 Satz 1 RVO; nunmehr: § 75 Abs 1 Satz 2 SGB V). Dieser Notdienst ist nicht auf einen allgemein-internistischen Notdienst beschränkt. Aus der Verpflichtung zur Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung kann auch die Einrichtung spezieller gebietsärztlicher NFD erforderlich werden (vgl Narr, Ärztliches Berufsrecht, 2. Aufl, RdNr 1162). Entsprechendes gilt, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, für den vertragsärztlichen Bereich. Ob und in welchen Fachgebieten gebietsärztliche NFD einzurichten sind, obliegt in Anwendung des § 2 Abs 1 NFDO der Beurteilung und Entscheidung der Beklagten.

Das Grundrecht des Klägers aus Art 12 Abs 1 GG wird durch seine Verpflichtung zur Teilnahme am frauenärztlichen NFD nicht verletzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind Eingriffe in die berufliche Betätigungsfreiheit am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen (st Rspr seit BVerfGE 7, 377, 403 ff; s zB BVerfGE 78, 155, 162 = SozR 2200 § 368 Nr 11). Berufsausübungsregelungen, wie sie in der Einrichtung eines gebietsärztlichen NFD liegen, stehen danach im Einklang mit Art 12 Abs 1 GG, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls sie zweckmäßig erscheinen lassen. Derartige Gemeinwohlbelange sind, wie bereits das LSG ausgeführt hat, hier gegeben. Die Einrichtung eines gebietsärztlichen NFD dient der Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung der Versicherten, insbesondere an Sonn- und Feiertagen, durch einen Arzt, der über die auf dem jeweiligen Fachgebiet für die Erkennung von Erkrankungen und deren Auswirkungen erforderlichen Fachkenntnisse verfügt. Zugleich soll die Einrichtung eines gebietsärztlichen NFD die ansonsten erforderliche Inanspruchnahme der für die ambulante Versorgung der Versicherten regelmäßig nicht zuständigen Kliniken und ihrer Ambulanzen verringern helfen. Daß es sich bei den genannten Gesichtspunkten um vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls handelt, bedarf keiner weiteren Begründung.

Die Heranziehung des Klägers zum frauenärztlichen NFD im Rhein-Neckar-Kreis Nord der Beklagten entspricht auch im übrigen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Die Maßnahme war geeignet, erforderlich und für die Betroffenen zumutbar. Während sich die Geeignetheit des Mittels bereits aus den vorgenannten Erwägungen ergibt, verneint der Kläger insbesondere die Erforderlichkeit der Maßnahmen. Es ist jedoch nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht die Erforderlichkeit der Einrichtung des umstrittenen NFD unter Hinweis darauf bejaht hat, daß bei den im Bereich der Beklagten in Mannheim und Heidelberg bestehenden frauenärztlichen NFD die Inanspruchnahme an den Wochenenden nicht ganz gering sei und daß bei ordnungsgemäßer Einrichtung und Bekanntmachung eines frauenärztlichen NFD im Rhein-Neckar-Kreis Nord ebenfalls ein hinreichender Bedarf bestehen werde. Soweit die Revision die vom LSG festgestellten Tatsachen anders würdigt und auf dieser Grundlage den Bedarf aufgrund anderer tatsächlicher Angaben verneint, kann der Senat dem nicht nähertreten. Insbesondere kann er neues tatsächliches Vorbringen nicht berücksichtigen.

Schließlich erweisen sich die angegriffenen Maßnahmen für den Kläger als zumutbar. Bei der Prüfung, ob die Regelung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne entspricht, ist zu berücksichtigen, daß sich der Kassen-/Vertragsarzt mit seinem Antrag auf Zulassung zur kassen-/vertragsärztlichen Tätigkeit freiwillig einer Reihe von Einschränkungen seiner ärztlichen Tätigkeit unterwirft, die mit der Einbeziehung in ein öffentlich-rechtliches Versorgungssystem notwendig verbunden sind. Zu diesen der kassen-/vertragsärztlichen Berufsausübung immanenten Einschränkungen zählt auch die Pflicht zur Teilnahme am NFD (s bereits BSGE 44, 252, 256 = SozR 2200 § 368n Nr 12). Auf dieser Grundlage begegnet es keinen Bedenken, daß das LSG angesichts der Ausgestaltung des gynäkologischen NFD als Hintergrunddienst, einer Heranziehungshäufigkeit von bis zu sechs mal pro Jahr, der Befreiung der teilnehmenden Ärzte vom allgemeinen NFD und des Umstandes, daß der NFD zunächst mit einer Erprobungszeit von zwei Jahren geplant war, die Verpflichtung zur Teilnahme am frauenärztlichen NFD im Rhein-Neckar-Kreis Nord für den Kläger als zumutbar angesehen hat.

Die Revision des Klägers war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174423

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