Entscheidungsstichwort (Thema)

Unterlassen der Beweiserhebung ohne hinreichenden Grund. Mindestanforderung an Sachverständigengutachten

 

Orientierungssatz

1. Das Gericht kommt seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG) nicht nach und überschreitet außerdem die Grenzen seiner Überzeugungsbildung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), wenn es eine beantragte und für die Entscheidung wesentliche Beweiserhebung ohne hinreichende Begründung unterläßt.

2. Eine ärztliche Stellungnahme, die nur allgemeine Aussagen, aber keine gutachtlichen Äußerungen zu den streitigen Gesundheitsstörungen enthält, entspricht nicht den Mindestanforderungen, um als Entscheidungsgrundlage zu dienen.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs 1 S 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 28.10.1981; Aktenzeichen L 5 V 1194/77)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 13.10.1977; Aktenzeichen S 1 V 315/76)

 

Tatbestand

Die Klägerin, die nach dem Tode ihres Ehemannes - des ursprünglichen Klägers, nunmehr Beschädigter genannt - das Revisionsverfahren als Rechtsnachfolgerin fortsetzt, begehrt weitere Schädigungsfolgen (Harnröhrenstriktur, Herz- und Kreislaufschäden) nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzuerkennen und entsprechend höhere Versorgungsrente zu gewähren.

Der Beschädigte leistete vom Februar 1941 an Kriegsdienst und befand sich nachweisbar mehrfach in Lazarettbehandlung, außerdem nach seinen Angaben Anfang 1945 wegen einer Granatsplitterverletzung im Rücken. Die Versorgungsverwaltung erkannte verschiedene Schädigungsfolgen an; es entsprach damit dem Begehren des Beschädigten jedoch nur teilweise.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Beklagten entsprechend dessen Vergleichsvorschlag verpflichtet, als weitere Schädigungsfolgen ua eine Granatsplitterverletzung mit Beteiligung der rechten Niere anzuerkennen und höhere Versorgungsrente (nunmehr 40 vH) zu gewähren. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen, soweit noch die Anerkennung einer Harnröhrenstriktur sowie eines Herz- und Kreislaufschadens im Streit standen. Das Berufungsgericht hat dies ua wie folgt begründet: Die Harnröhrenstriktur sei entgegen dem nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehörten Sachverständigen Prof. Dr. S, Urologische Universitätsklinik E nicht durch schädigende Einwirkungen verursacht. Insoweit sei der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Urologen Dr. O zu folgen. Außerdem bestünden nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Internisten Dr. K keine Spätschäden an den inneren Organen, so auch keine Herz- und Kreislaufschäden.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht die Klägerin eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) geltend, auf der das angefochtene Berufungsurteil beruhen soll. Das Berufungsgericht habe sich - so führt die Klägerin aus - mit den schriftsätzlichen Beweisanträgen nicht befaßt und weder zur Frage der schädigungsbedingten Verursachung der Herz-Kreislaufschädigung noch der Harnröhrenstriktur Gutachten eingeholt. Hierzu hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen. Die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. K enthalte nur einen Satz: "Für Spätschäden an den inneren Organen als Folge der anerkannten Schädigungsfolgen besteht nach Aktenlage kein Anhaltspunkt". Diese Äußerung sei als Gutachten unverwertbar, weil sie nicht auf die Einzelfallgestaltung abhebe. Zudem habe das LSG bei der Beurteilung des schädigungsbedingten Ursachenzusammenhangs in bezug auf die Harnröhrenstriktur die Grenzen seiner freien Überzeugungsbildung überschritten und damit gegen § 128 SGG verstoßen. Das Gericht hätte sich nicht ohne weiteres auf die versorgungsärztliche Stellungnahme des Urologen Dr. O stützen dürfen. Der streitige Ursachenzusammenhang sei noch aufklärungsbedürftig gewesen.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist. Das Berufungsurteil beruht auf den von der Klägerin gerügten Verfahrensmängeln.

Die Klägerin ist befugt, nach dem Tode ihres Ehemannes - des ursprünglichen Klägers - das nicht unterbrochene Revisionsverfahren (§ 202 SGG iVm § 246 Abs 1 Zivilprozeßordnung) als Sonderrechtsnachfolgerin fortzusetzen (§ 56 Abs 1 Ziff 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB I).

Die Klägerin hat formgerecht (§ 164 Abs 2 SGG) gerügt, das Berufungsgericht sei seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG) nicht nachgekommen und habe außerdem die Grenzen seiner Überzeugungsbildung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten; es habe die beantragte Beweiserhebung ohne hinreichende Begründung unterlassen.

Für die Entscheidung des Berufungsgerichts kam es wesentlich auf die schädigungsbedingte Verursachung der streitigen Gesundheitsstörungen an. Das LSG durfte die darauf bezogenen Beweisanträge nicht übergehen; es hätte sich bei dem gegebenen Sachstand veranlaßt sehen müssen, antragsgemäß Sachverständige zu hören.

Dies gilt zunächst für die geltend gemachten Herz-Kreislaufschäden. Der Hausarzt des Beschädigten Dr. S hatte in einer zum Berufungsverfahren eingereichten Bescheinigung vom 5. Oktober 1981 erhebliche Veränderungen im Bereich des Herz- Kreislaufsystems (latente Herzinsuffizienz und Coronarinsuffizienz bei labilem Hochdruck) bescheinigt. Insoweit macht die Klägerin die beim Beschädigten als Schädigungsfolge anerkannte Nierenschädigung verantwortlich, die bekanntlich Herz- und Kreislaufstörungen bewirken kann. Die Abklärung dieses behaupteten Ursachenzusammenhangs ist unumgänglich. Das LSG durfte sich nicht mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Internisten Dr. K begnügen. Darin werden nur allgemein auf schädigende Einwirkungen beruhende Spätschäden verneint; eine gutachtliche Äußerung zu den streitigen Gesundheitsstörungen fehlt. Ein solches im Verwaltungsverfahren erstelltes Gutachten ist selbst als Urkundenbeweis (BSG SozR Nr 66 zu § 128 SGG) nicht verwertbar. Denn es entspricht nicht den Mindestanforderungen, um als Entscheidungsgrundlage zu dienen. Weder sind Art und Ausmaß der hier in Streit befindlichen gesundheitlichen Verhältnisse festgestellt, noch ist konkret und eingehend der Ursachenzusammenhang erörtert. Infolgedessen hat das Berufungsgericht ohne hinreichende Begründung dem Beweisantrag nicht entsprochen. Eine Abklärung ist auch nach dem Tode des Beschädigten anhand des Sektionsbefundes nicht ausgeschlossen.

Außerdem hat das LSG, soweit die Harnröhrenstriktur streitig ist, die der Überzeugungsbildung gesetzten Grenzen überschritten. Es hat seiner Entscheidung die versorgungsärztliche Stellungnahme des Urologen Dr. O zugrunde gelegt, ohne selbst den Sachverhalt weiter aufzuklären. Hierzu hätte Anlaß bestanden, da die anamnestischen Angaben des Beschädigten den Sachverständigen Prof. Dr. S offenbar bewogen hatten, einen wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhang auch hinsichtlich der Harnröhrenstriktur zu bejahen. Diese Angaben, nämlich die Katheterisierung unmittelbar nach der erlittenen Nierenschädigung im Jahre 1945 wie auch in den folgenden Nachkriegsjahren, scheinen mit dem Akteninhalt nicht übereinzustimmen. Indes hätte das Berufungsgericht sich nicht mit dieser Feststellung begnügen dürfen. Es war ihm ohne nochmalige Anhörung des Beschädigten nicht erlaubt, vom Gegenteil auszugehen und insoweit Dr. O zu folgen. Vielmehr war es geboten, den Beschädigten zu der hier für bedeutsam gehaltenen Frage der Katheterbehandlung selbst zu hören, um ihm damit auch Gelegenheit zu geben, seine Angaben zu belegen. Dieser Pflicht zur weiteren Erforschung des Sachverhalts ist das LSG nicht deswegen enthoben, weil der Beschädigte zwischenzeitlich verstorben ist. Die dadurch eingetretenen Erschwernisse sind möglicherweise überwindbar. Denn es ist nicht auszuschließen, daß auch die Klägerin Ärzte benennen kann, die beim Beschädigten eine Katheterbehandlung veranlaßt oder selbst durchgeführt hatten. Außerdem ist es für die Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Beschädigten wichtig, ob bei der Art der Schädigung der Niere und deren Folgeerscheinungen - behauptete Blutbeimengung im Urin - die Katheterbehandlung allgemein durchgeführt wird.

Das Berufungsurteil beruht auf den dargelegten Verfahrensmängeln. Die noch durchzuführende Beweisaufnahme könnte weitere Schädigungsfolgen und eine höhere MdE ergeben.

Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666597

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