Leitsatz (amtlich)

Hat das LSG in dem angefochtenen Urteil den Inhalt eines Schriftsatzes nicht berücksichtigt, so kann diese Unterlassung nur dann als wesentlicher Verfahrensmangel gerügt werden, wenn dadurch die Feststellungen des angefochtenen Urteils so widerspruchsvoll oder unvollständig sind, daß sie keine sichere Grundlage für die Nachprüfung des Urteils bilden.

Die Rüge, das rechtliche Gehör sei versagt worden, kann nicht allein auf die Behauptung gestützt werden, dem Berufungsgericht hätten schon vor der letzten mündlichen Verhandlung ein von ihm verfaßter Urteilsentwurf und eine zur Verlautbarung vorgesehene Pressenotiz vorgelegen; eine andere Beurteilung kommt nur in Betracht, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigen, das Gericht habe bei seiner Entscheidung die mündliche Verhandlung unbeachtet gelassen.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03, § 124 Fassung: 1953-09-03, § 139 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Januar 1957 wird als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

In dem angefochtenen Urteil ist die Revision nicht zugelassen. Die Revision wäre deshalb nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wäre (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

In dieser Hinsicht hat die Revision geltend gemacht, das Landessozialgericht (LSG.) habe im Tatbestand des angefochtenen Urteils weder den rechtserheblichen Inhalt ihres Schriftsatzes vom 12. Januar 1957 wiedergegeben noch diesen Schriftsatz in der Zusammenfassung der Schriftsätze am Ende des Tatbestands auch nur erwähnt. Der Auffassung der Beklagten, daß hierdurch § 128 oder § 136 SGG verletzt seien, kann jedoch nicht gefolgt werden. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß es einen von Amts wegen zu berücksichtigenden Mangel des Berufungsurteils darstellt, wenn dessen Tatbestand so widerspruchsvoll oder unklar oder unvollständig ist, daß er keine sichere Grundlage für die Nachprüfung des Urteils bildet (RGZ. Bd. 71 S. 131; vgl. auch Stein-Jonas-Schönke-Pohle, ZPO 18. Aufl. Anm. IV 6 zu § 313). Das gilt aber nur, wenn der Tatbestand - einschließlich tatsächlicher Angaben in den Entscheidungsgründen - entweder in sich selbst widerspruchsvoll oder unklar ist oder wenn er - als tatsächliche Grundlage der in den Entscheidungsgründen angestellten Erwägungen - Lücken erkennen läßt (OGH. Brit. Zone f. Zivils. Bd. 4 S. 22 [23]). Davon kann aber im vorliegenden Streitfall keine Rede sein. Keiner der angeführten Mängel, die zur Aufhebung des Urteils nötigen würden, liegt hier vor; die Darstellung des Tatbestands im angefochtenen Urteil ist in sich widerspruchsfrei und klar. Sie ist allenfalls unvollständig insofern, als sie nicht den Inhalt des Schriftsatzes vom 12. Januar 1957 wiedergibt oder in Bezug nimmt. Eine Lückenhaftigkeit des Urteilstatbestands dieser Art kann nur auf dem Wege der Tatbestandsberichtigung (§ 139 Abs. 1 SGG) - die von der Beklagten auch beantragt, vom LSG. aber abgelehnt worden ist - geltend gemacht werden. Sie kann jedoch nicht im Revisionsverfahren gerügt werden; denn anderenfalls wurde das Institut der Tatbestandsberichtigung seiner Bedeutung entkleidet und das Revisionsgericht mit ihm nicht zukommenden Aufgaben befaßt werden (OGH. Brit. Zone f. Zivils. Bd. 4 S. 22 [24]).

Auch die Rüge der Beklagten, das LSG. habe den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 62 SGG) verletzt sowie gegen § 124 SGG - Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung - verstoßen, weil sein Urteil schon vor der mündlichen Verhandlung festgestanden habe, greift nicht durch. Die Beklagte hat ihre Rüge damit begründet, daß das LSG. bereits wenige Stunden nach Verkündung des Urteils am 18. Januar 1957 einer Presseagentur eine Pressenotiz mit dem Datum "18.12.1956" übergeben und schon am 21. Januar 1957 das vollständige Urteil Vorgelegen habe. Auch wenn man die Richtigkeit dieser Behauptung unterstellt und im Sinne der Revision hieraus schließt, daß im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. bereits ein Urteilsentwurf und eine entsprechende Pressenotiz vorgelegen haben, so wird dadurch nicht die - das richterliche Verantwortungsbewußtsein der beteiligten Berufsrichter auf stärkste berührende - Annahme der Revision gerechtfertigt, das LSG. habe die mündliche Verhandlung "nur zu einer Formalität herabgewürdigt." Die angeführten Umstände würden nur dafür sprechen, daß sich die beteiligten Berufsrichter bereits vor der mündlichen Verhandlung eingehend mit dem Prozeßstoff auseinandergesetzt und sich eine Meinung über den voraussichtlichen Ausgang des Berufungsverfahrens gebildet hatten. Dieser Meinungsbildung - möglicherweise sogar in Gestalt eines Urteilsentwurfs - liegt jedoch der Vorbehalt der Vorläufigkeit zugrunde. So wenig die Tatsache, daß ein Richter zu einer für die Entscheidung des Rechtsstreits bedeutsamen Rechtsfrage in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung eine bestimmte Auffassung geäußert hat, im allgemeinen die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt und einen Ablehnungsgrund darstellt, so wenig ist regelmäßig die Befürchtung gerechtfertigt, daß das Gericht sich auf Grund seiner vorläufigen Meinungsbildung, selbst wenn sie in einem Urteilsentwurf ihren internen Ausdruck gefunden hat, neuen Einsichten verschließen werde, die sich insbesondere aus der mündlichen Verhandlung und der Mitwirkung der ehrenamtlichen Beisitzer ergeben können. Wenn nicht besondere Umstände anderer Art vorliegen, aus denen auf eine Einstellung des Gerichts, das Ergebnis der mündlichen Verhandlung unbeachtet zu lassen, geschlossen werden müßte, so kann jedenfalls mit den von der Revision vorgebrachten Behauptungen nicht die Annahme begründet werden, das Gericht sei zur Anhörung und Prüfung neuen Vorbringens seitens der Beteiligten nicht bereit und versage ihnen dadurch das rechtliche Gehör. Umstände, die für diese Annahme sprechen würden sind aber von der Revision nicht vorgetragen worden.

Da die Revision somit nicht statthaft ist, ist sie nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

MDR 1959, 793

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