Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Revision. Klageänderung. Revisionsverfahren

 

Orientierungssatz

1. Die Zulässigkeit der Revision hängt davon ab, daß der Revisionskläger zu jedem einzelnen Streitpunkt mit selbständigem Streitstoff eine sorgfältige, nach Umfang und Zweck zweifelsfreie Begründung gibt. Das gilt nicht nur für verfahrens-, sondern auch für sachlich-rechtliche Revisionsangriffe.

2. Eine Revision ist dann zu verwerfen, wenn der Kläger in der Revisionsinstanz seinen bisherigen Feststellungsantrag in einen Leistungsantrag abändert.

 

Normenkette

SGG § 164 Abs 2 S 1, § 168

 

Verfahrensgang

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 20.12.1989; Aktenzeichen S 10 Ka 1118/88)

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist streitig, in welcher Höhe die Untersuchung des Kau-Systems (stomatognathes System) nach dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen (EBM) in der Zeit vom 1. Oktober 1987 bis 31. März 1989 zu vergüten war. Der EBM hat mit Wirkung vom 1. April 1989 unter der Leistungsziffer 63 die "Vollständige Untersuchung mindestens eines Organsystems ... für stomatognathes System" aufgenommen und mit 170 Punkten bewertet. Eine solche Untersuchung war nach Ansicht der Beklagten vom Inkrafttreten des EBM zum 1. Oktober 1987 (bis zur genannten Regelung ab 1. April 1989) nach der mit 120 Punkten bewerteten Leistungsziffer 4 ("Beratung, einschließlich symptombezogener klinischer Untersuchung") abzurechnen. Die stomatognathe Untersuchung war in dieser Zeit nicht im EBM aufgeführt; in der mit 200 Punkten bewerteten Leistungslegende der Ziffer 61 für die "Untersuchung mindestens eines Organsystems, ..." ist (und war) das stomatognathe System nicht unter den sechs angeführten Organsystemen genannt.

Der als Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg tätige Kläger erstrebte die Abrechnung der stomatognathen Untersuchung dergestalt, daß sie entsprechend der Leistungsziffer 61 als "Untersuchung ... eines Organsystems" anzusehen sei. Mit der genannten, während des Klageverfahrens erfolgten Neufassung zum 1. April 1989, welche für die drei in der Ziffer 63 genannten Organsysteme (nur) 170 Punkte (- gegenüber 200 Punkten für die in Ziffer 61 aufgeführten Systeme -) ansetzt, gab sich der Kläger zufrieden. Er stellte den Antrag, festzustellen, daß er berechtigt ist, für die Untersuchung des stomatognathen Systems in der Zeit vom 1. Oktober 1987 bis 31. März 1989 analog der Leistungsziffer 61 je 200 Punkte zu berechnen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Der Kläger hat Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und ihm 29.784,-- DM nebst 4 % Zinsen nachzuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zu verwerfen, hilfsweise, sie als

unbegründet zurückzuweisen.

Dem Kläger wurde Gelegenheit gegeben, zu dem Vorbringen der Beklagten, die Revision sei nicht hinreichend begründet worden und enthalte eine unzulässige Klageänderung, Stellung zu nehmen.

Die Revision ist unzulässig, weil sie (innerhalb der Revisionsbegründungsfrist) nicht hinreichend begründet wurde. Die Revision ist zu begründen (§ 164 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Die Zulässigkeit der Revision hängt davon ab, daß der Revisionskläger zu jedem einzelnen Streitpunkt mit selbständigem Streitstoff eine sorgfältige, nach Umfang und Zweck zweifelsfreie Begründung gibt. Das gilt nicht nur für verfahrens-, sondern auch für sachlichrechtliche Revisionsangriffe (BSG SozR 1500 § 164 Nrn 5, 12, 20 jeweils mwN; BGH LM Nr 22 zu § 554 ZPO; BGH MDR 1974, 1015; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Komm ZPO, 48. Aufl 1990, Anm 4 C zu § 554). Der gesetzgeberische Zweck eines solchen Begründungszwanges liegt darin, aussichtslose Revisionen nach Möglichkeit von vornherein zu verhindern (BSG aaO, Nr 5; vgl RGZ 123, 38). Der Prozeßbevollmächtigte des Revisionsklägers hat daher dem Revisionsgericht die Gründe darzulegen, die aufgrund der von ihm vorgenommenen Überprüfung das Urteil als unrichtig erscheinen lassen (BSG, BGH, jeweils aaO). Die Revisionsbegründung muß somit bei materiell-rechtlichen Rügen darlegen, daß und warum eine revisible Rechtsvorschrift auf den vom Tatsachengericht festgestellten Sachverhalt nicht oder nicht richtig angewandt worden sei (BSG SozR 1500 § 164 Nrn 12, 20). Obwohl es zwar bei einer Prüfung der Zulässigkeit der Revision nicht darauf ankommt, ob die Revisionsbegründung den Revisionsangriff auch trägt (BGH NJW 1981, 1453), so muß diese Begründung aber doch rechtliche Erwägungen anstellen, die das Urteil als unrichtig, die Rechtsnorm als "verletzt" (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) erscheinen lassen (BSG aaO). Die Revision muß - mit anderen Worten - erkennen lassen, daß der Prozeßbevollmächtigte des Revisionsklägers eine Prüfung und rechtliche Durchdringung des im Urteil abgehandelten Rechtsstoffes vorgenommen hat (Meyer-Ladewig, Komm SGG, 3. Aufl 1987, RdNr 9 zu § 164 SGG mwH). Diese Anforderungen sind hier nicht erfüllt. Der Kläger geht mit keinem Wort auf die tragenden Gründe des angefochtenen Urteils ein. Das SG hat den Anspruch des Klägers zutreffend unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der analogen Erweiterung der Leistungsziffer 61 auf Fälle der Untersuchung des stomatognathen Systems betrachtet; es hat die Voraussetzungen der rechtlichen Analogie verneint und die Bewertung des Normgebers als gerichtlich nicht korrigierbar angesehen. Diese Gründe einschließlich der zitierten Rechtsprechung werden in keiner Weise aufgegriffen, eine Prüfung des Rechtsstoffs wird nicht vorgenommen. Die Ausführungen über "die einzigartige Benachteiligung seiner Fachgruppe", worin ein "eklatanter Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz" zu sehen sei, können diese Prüfung jedenfalls nicht ersetzen, ganz abgesehen davon, daß auch nicht der Versuch gemacht wird, sie schlüssig den Urteilsgründen zuzuordnen. Eine Heilung dieses Begründungsmangels wäre nur innerhalb der - am 1. Mai 1990 abgelaufenen - Revisionsbegründungsfrist möglich gewesen. Auf das Vorbringen in dem nachgereichten Schriftsatz vom 20. September 1990 kommt es daher nicht an, ganz abgesehen davon, daß die zu fordernde Auseinandersetzung mit den Urteilsgründen auch hier nicht erfolgte.

Aber auch insoweit, als der Kläger in der Revisionsinstanz seinen bisherigen Feststellungsantrag in einen Leistungsantrag abänderte, war die Revision zu verwerfen. Nach § 168 SGG sind Klageänderungen im Revisionsverfahren unzulässig. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob jeder Übergang von einer Feststellungsklage in eine Leistungsklage als revisionsrechtlich unzulässige Klageänderung anzusehen ist (so BAG 4, 149). Davon ist jedenfalls dann auszugehen, wenn, wie hier, die der Leistungsklage zugrundeliegenden Tatsachen von den Tatsacheninstanzen offensichtlich nicht festgestellt wurden, so daß das Revisionsgericht dem Antrag nicht ohne neue Ermittlungen entsprechen könnte (vgl hierzu Meyer- Ladewig, aaO, RdNr 2 zu § 168 mwH).

Die Verwerfung konnte ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter erfolgen (§ 169 Satz 3 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665475

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