Rn 12

Abweichend von Abs. 1 wird für bestimmte Masseverbindlichkeiten, deren Rechtsgrund im weiteren Sinne aus der Zeit vor Verfahrenseröffnung resultiert, das Vollstreckungsverbot durch Abs. 2 wiederum gelockert. Wegen der für diese Ausnahmefälle gleichen Interessenlage bei Anzeige der Masseunzulänglichkeit findet sich eine mit Abs. 2 nahezu identische Regelung auch in § 209 Abs. 2.

Zunächst wird in Abs. 2 Nr. 1 eine Selbstverständlichkeit geregelt. Danach unterliegen Masseverbindlichkeiten nicht dem befristeten Vollstreckungsverbot nach Abs. 1, die aus einem gegenseitigen Vertrag resultieren, dessen Erfüllung der Verwalter nach § 103 Abs. 1 gewählt hat. Zwar stammt ein solches Schuldverhältnis ebenfalls aus der Zeit vor Verfahrenseröffnung. Aber seine Erfüllung als Masseverbindlichkeit wird dem Verwalter nicht oktroyiert, sondern ist die Folge seiner Erfüllungswahl nach § 103 Abs. 1. Da also eine Rechtshandlung des Verwalters vorliegt, sind die Voraussetzungen des § 90 Abs. 1 ohnehin nicht gegeben; das Vollstreckungsverbot ist also nicht einschlägig.[14] Unerheblich für dieses Ergebnis ist es, wie man die Folgen der Erfüllungswahl dogmatisch konstruiert: ob als Neubegründung der mit Verfahrenseröffnung zunächst erloschenen Erfüllungsansprüche[15] oder als Wiedererlangung der mit Verfahrenseröffnung zunächst verlorenen Durchsetzbarkeit unter "Aufwertung" der Verbindlichkeit des Insolvenzschuldners zur Masseverbindlichkeit.[16]

 

Rn 13

Dagegen besteht ein vor Verfahrenseröffnung vom Schuldner begründetes Dauerschuldverhältnis ohne Rechtshandlungen des Verwalters auch nach Verfahrenseröffnung, wie schon nach § 17 KO, uneingeschränkt fort (vgl. § 108 Abs. 1). Die daraus resultierenden Ansprüche des Gläubigers (z.B. Mietzins oder Arbeitslohn) sind als Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 vorab aus der Insolvenzmasse zu berichtigen. Sie unterfallen daher grundsätzlich dem Vollstreckungsverbot nach § 90 Abs. 1. Unterlässt aber der Verwalter bei solchen Dauerschuldverhältnissen die Kündigung zum frühest möglichen Termin, wird dies nach Abs. 2 Nr. 2 einer Erfüllungswahl gleichgestellt mit der Folge, dass titulierte Ansprüche aus dem Dauerschuldverhältnis, die nach dem hypothetischen frühesten Beendigungszeitpunkt entstehen, uneingeschränkt in die Insolvenzmasse vollstreckt werden können. Hat also der Verwalter ein bei Verfahrenseröffnung bestehendes Arbeitsverhältnis nicht unverzüglich nach § 113 Abs. 1 gekündigt, so kann der Arbeitnehmer nach dem ersten Kündigungstermin entstehende und fällige Ansprüche kurzfristig titulieren lassen und aus dem Titel in die Insolvenzmasse vollstrecken. Titulierte Ansprüche aus der Zeit von der Verfahrenseröffnung bis zum ersten Kündigungstermin unterliegen dagegen weiter dem sechsmonatigen Vollstreckungsverbot nach Abs. 1.

 

Rn 14

Auch diese Beschränkung entfällt jedoch, wenn nach Abs. 2 Nr. 3 der Verwalter aus dem betreffenden Dauerschuldverhältnis in der Sperrzeit die jeweils geschuldete Gegenleistung in Anspruch nimmt. Kündigt also der Insolvenzverwalter dem betreffenden Arbeitnehmer unverzüglich nach Verfahrenseröffnung gemäß § 113 Abs. 1 zum frühest möglichen Termin, setzt er ihn aber bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Rahmen einer Betriebsfortführung ein und nimmt die Arbeitsleistung in Anspruch, so muss der jeweils fällige Lohn gezahlt werden. Zahlt der Verwalter nicht und erwirkt der Arbeitnehmer wegen seiner seit Verfahrenseröffnung rückständigen Lohnansprüche einen Titel vor dem Arbeitsgericht, kann er daraus unbeschränkt in die Insolvenzmasse vollstrecken. Wird der Arbeitnehmer dagegen freigestellt, die Mietsache zurückgegeben oder das Mietgrundstück geräumt, bleibt nur der Vollstreckungsschutz nach § 90 Abs. 1 gegen titulierte Masseansprüche, die bis zum ersten möglichen Kündigungstermin aus dem Dauerschuldverhältnis entstanden sind. Hat der Verwalter zu diesem Termin die Kündigung auch ausgesprochen, kann erst nach Ablauf der Sechsmonatsfrist aus Abs. 1 vollstreckt werden, soweit dann nicht die Vollstreckungsbeschränkungen gelten, die nach Anzeige einer Masseunzulänglichkeit nach den §§ 208 ff., 210 eintreten.

[14] Anders bei Masseunzulänglichkeit, soweit es sich um die Verbindlichkeit aus einem gegenseitigen Vertrag handelt, dessen Erfüllung der Verwalter vor Anzeige der Masseunzulänglichkeit gewählt hat (§ 210 i.V.m. § 209 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1).
[15] So früher der BGH, vgl. BGHZ 103, 250 (252); 106, 236 (241 ff.); 116, 156 (158); 129, 336 (338 f.); 135, 25 (26).
[16] So neuerdings der BGH, NJW 2002, 2783 (2785) = ZIP 2002, 1093 [BGH 25.04.2002 - IX ZR 313/99] (1094 f.), im Kielwasser einer Kommentierung des Vorsitzenden des für das Insolvenzrecht zuständigen BGH-Senats (Münch-Komm-Kreft, § 103 Rn. 13, 18, 25, 39 ff.: "Qualitätssprung").

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