Verfahrensgang

OLG Hamm (Urteil vom 19.09.1978)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 19. September 1978 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsrechtszuges.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Am 25. September 1974 befuhr Heinz Jürgen L. mit seinem Motorrad in Münster die Straßenbrücke des Albersloher Weges über den Dortmund-Ems-Kanal. Dabei rutschte er auf den aus der Fahrbahn herausragenden Schienen einer stillgelegten Straßenbahnstrecke aus, kam zu Fall und mußte wegen erheblicher Verletzungen im Krankenhaus stationär behandelt werden.

Die Klägerin hat als gesetzlicher Unfallversicherer des L. Regreßansprüche in Höhe der Hälfte ihrer Aufwendungen, nämlich 4.956,99 DM nebst Zinsen, aus übergegangenem Recht (§ 1542 RVO) gegen die beklagte Stadt geltend gemacht.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, ein Schadensersatzanspruch des Laubrock gegen die Beklagte, der nach § 1542 RVO auf die Klägerin hätte übergehen können, habe nicht bestanden. Eine Schadensersatzpflicht der Beklagten nach den Vorschriften über die Amtshaftung (§ 9 a LStrG NW, § 839 BGB, Art. 34 GG) sei ausgeschlossen, weil ihre Bediensteten die Straßenverkehrssicherungspflicht nur fahrlässig verletzt hätten und der verunglückte L. mit den Ansprüchen gegen die Klägerin als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung eine andere Ersatzmöglichkeit erlangt habe.

Dagegen hat die Klägerin Berufung eingelegt. Vor dem Berufungsgericht haben die Parteien übereinstimmend erklärt, „der Schadensabrechnung solle für den Fall, daß das Gericht die Leistungen der Klägerin nicht als anderweitigen Ersatz im Sinne des § 839 BGB ansehe, eine Haftungsquote von 2/5 zu 3/5 zu Lasten der Klägerin zugrunde gelegt werden”.

Das Berufungsgericht hat auf der Grundlage einer Haftung zu 2/5 dem Klagebegehren in Höhe von 3.965,59 DM nebst Zinsen stattgegeben und im übrigen die Klage abgewiesen.

Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

I.

Das Berufungsgericht ist der Ansicht, die Beklagte sei wegen Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht dem verletzten Laubrock nach den Vorschriften über die Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB, Art. 34 GG) ersatzpflichtig gewesen. Dieser Ersatzanspruch sei – entgegen der Ansicht des Landgerichts – nicht durch die Verweisungsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB ausgeschlossen worden, denn mit den Ansprüchen gegen die Klägerin als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung habe L. nicht eine andere Ersatzmöglichkeit erlangt. Der Bundesgerichtshof habe in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung in dem Urteil vom 10. November 1977 (III ZR 79/75 = BGHZ 70, 7) erkannt, daß die Leistungen des Trägers der französischen gesetzlichen Unfallversicherung kein anderer Ersatz im Sinne von § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB seien. Gleiches müsse für die Leistungen der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung gelten. Die Klägerin könne daher aus übergegangenem Recht (§ 1542 RVO) von der Beklagten Ersatz ihrer Aufwendung in der vereinbarten Höhe verlangen.

Die Revision wendet sich nur gegen die Nichtanwendung der Verweisungsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB. Diese Rüge muß im Ergebnis erfolglos bleiben.

1. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, daß sich die Haftung der Beklagten für eine Verletzung der Straßenverkehrssicherungspflicht durch ihre Bediensteten nach den Vorschriften über die Amtshaftung (§ 839 BGB, Art. 34 GG) beurteilt. Denn nach § 9 a des Landesstraßengesetzes Nordrhein-Westfalen (LStrNW) obliegen die mit dem Bau und der Unterhaltung der öffentlichen Straßen einschließlich der Bundesfernstraßen sowie die mit der Erhaltung der Verkehrssicherheit zusammenhängenden Aufgaben den Bediensteten der damit befaßten Körperschaften als Amtspflichten in Ausübung hoheitlicher Tätigkeit. Diese landesgesetzliche öffentlich-rechtliche Ausgestaltung der Pflichten der Amtsträger zur Sorge für die Verkehrssicherheit auf öffentlichen Straßen ist nach der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern zulässig und begegnet auch sonst keinen aus dem Grundgesetz abzuleitenden verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. Senatsurteil vom 21. Juni 1979 – III ZR 58/78 = VersR 1979, 1055 m.w.Nachw.).

2. Ob den Erwägungen zuzustimmen ist, mit denen das Berufungsgericht die Nichtanwendung der Verweisungsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB begründet hat, bedarf keiner Entscheidung. Das Ergebnis des Berufungsgerichts erweist sich bereits aus anderen Gründen als richtig.

a) Wie der Senat in dem zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung bestimmten, nach Verkündung des Berufungsurteils ergangenen Urteil vom 12. Juli 1979 (III ZR 102/78 = NJW 1979, 2043) entschieden hat, ist die Vorschrift des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht anwendbar, wenn ein Amtsträger durch eine Verletzung der ihm als hoheitliche Aufgabe obliegenden Straßenverkehrssicherungspflicht einen Verkehrsunfall schuldhaft verursacht. Der Senat hat sich dabei von folgenden Erwägungen leiten lassen:

Nach der Entwicklung des Straßenverkehrsrechts zu einem Ordnungsbereich mit eigenständigem Haftungssystem und eigenen haftungsrechtlichen Grundsätzen ist – wie der Senat schon in seinem Urteil vom 27. Januar 1977 (BGHZ 68, 217) im einzelnen ausgeführt hat – § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht mehr anwendbar, wenn ein Amtsträger bei der dienstlichen Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr – jedenfalls soweit er Sonderrechte nach § 35 StVO nicht in Anspruch nimmt – schuldhaft einen Verkehrsunfall verursacht. Der Grundsatz der weitestmöglichen haftungsrechtlichen Gleichbehandlung im Straßenverkehrsrecht verhindert, daß der Verletzte einen Zweitschädiger anstelle der nach Art. 34 GG verantwortlichen Körperschaft in Anspruch nehmen muß. Auch kann eine nach den Amtshaftungsregeln haftende Körperschaft den Verletzten und den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, der Aufwendungen für den Verletzten erbringt und auf den dessen Schadensersatzansprüche aus dem Unfall übergehen (§ 1542 RVO), bei einer dienstlichen Teilnahme des Amtsträgers am allgemeinen Straßenverkehr nicht darauf verweisen, die Leistungen des Unfallversicherers bildeten eine andere Ersatzmöglichkeit für den Verletzten. Die Gleichheit der Rechte und Pflichten im Straßenverkehr und das Zurücktreten des ursprünglichen gesetzgeberischen Zwecks der Vorschrift des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB (Stärkung der Entschlußkraft des Beamten; Begrenzung des persönlichen Haftungsrisikos des Beamten in seiner besonderen amtlichen Beziehung zum Bürger) erfordern aufgrund der Entwicklung eines eigenständigen Haftungssystems des Straßenverkehrsrechts, daß sich die haftende Körperschaft auch in anderen Fällen nicht (nicht mehr) auf die dem Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung widersprechende Vorschrift des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB berufen darf, wenn sie durch ihren Amtsträger am allgemeinen Straßenverkehr (ohne die Inanspruchnahme von Sonderrechten) teilnimmt.

Diese Grundsätze führen hier nicht ohne weiteres zu einer Einschränkung des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB. Denn die zuständigen Amtsträger der Beklagten nehmen mit der Überwachung der Verkehrssicherheit eines öffentlichen Verkehrsweges nicht am allgemeinen Straßenverkehr teil, für den der Grundsatz einer weitestmöglichen haftungsrechtlichen Gleichbehandlung der Straßenverkehrsteilnehmer gilt. Gleichwohl ist es gerechtfertigt, die aufgezeigten Grundsätze auch hier anzuwenden. Die öffentlich-rechtlich gestaltete Amtspflicht zur Sorge für die Sicherheit im Straßenverkehr entspricht inhaltlich der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht. Zudem steht die Pflicht zur Sorge für die Sicherheit einer öffentlichen Straße in einem engen Zusammenhang mit den Pflichten, die einem Amtsträger als Teilnehmer am allgemeinen Straßenverkehr obliegen. Diese Umstände hält der Senat für so gewichtig, daß es geboten ist, auch dann dem Grundsatz der haftungsrechtlichen Gleichbehandlung den Vorrang vor der Verweisungsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB einzuräumen, wenn – wie hier – ein Amtsträger durch eine Verletzung der ihm als hoheitliche Aufgabe obliegenden Straßenverkehrssicherungspflicht einen Verkehrsunfall schuldhaft verursacht.

3. Mit Recht hat daher das Berufungsgericht angenommen, daß der aus Amtshaftung begründete Schadensersatzanspruch des verletzten L. gegen die Beklagte gemäß § 1542 RVO auf die Klägerin übergegangen ist und diese – entsprechend der Vereinbarung der Parteien – 2/5 ihrer Aufwendungen ersetzt verlangen kann.

Die Revision der Beklagten muß demnach als unbegründet zurückgewiesen werden.

 

Unterschriften

Nüßgens, Krohn, Tidow, Lohmann, Kröner

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1742375

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge