Entscheidungsstichwort (Thema)

Sonstiges Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Die Aufrechnung durch das Finanzamt ist einer Vollstreckung im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gleichzuachten.

Hat der Steuerpflichtige schon vor der Nichtigerklärung der dem Steuerbescheid zugrunde liegenden Norm, wenn auch mit anderer Begründung, die Aufrechnung fristgerecht angefochten und ist im Zeitpunkt der Nichtigerklärung der Norm durch das BVerfG noch nicht unanfechtbar über den Rechtsbehelf entschieden, so ist die Aufrechnung noch nicht endgültig abgewickelt mit der Folge, daß die Aufrechnung durch die Nichtigerklärung der Norm unzulässig wird.

 

Normenkette

BVerfGG § 79 Abs. 2; BeitrO § 32 Abs. 1; EStG § 27

 

Gründe

Streitig ist noch, ob das Finanzamt (FA) gegen Erstattungsansprüche der Steuerpflichtigen (Stpfl.) aus überzahlungen von Einkommensteuer 1954 bis 1956, 1958 und 1959 in Höhe von 2.993,45 DM und Abgabe "Notopfer Berlin" 1955 und 1956 in Höhe von 179,55 DM, insgesamt 3.173 DM mit Forderungen gegen die Stpfl. an Einkommensteuer 1953 in gleicher Höhe aufrechnen konnte. Aus der Vorentscheidung ergibt sich, daß die Stpfl. zur Einkommensteuer 1953 zusammen mit den Kindern veranlagt worden ist. Nach den Akten liegen der Veranlagung Einkünfte der Stpfl. und der Kinder zugrunde. Der Einkommensteuerbescheid für 1953 ist unanfechtbar.

Nach dem Beschluß des BVerfG vom 30. Juni 1964 - 1 BvL 16 - 25/62 (BVerfGE 18, 97, 105, BStBl I 1964, 488) ist § 27 EStG 1951 und 1953 nichtig. Er bestimmte, daß der Haushaltungsvorstand und seine Kinder, für die ihm Kinderermäßigung nach § 32 Abs. 4 Ziff. 2 a. a. O. zustand, zusammen veranlagt würden, solange er und die Kinder unbeschränkt steuerpflichtig seien. Der gegen die Stpfl. und ihre Kinder ergangene Bescheid über Einkommensteuer 1953 beruht demgemäß auf einer nichtigen Bestimmung. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 a. a. O. für nichtig erklärten Norm beruhen, von den hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen, unberührt. Zu diesen Entscheidungen zählen auch Steuerbescheide (vgl. Beschluß des BVerfG vom 28. Februar 1963 - 2 BvR 51/63, HFR 1963, S. 159). Der Einkommensteuerbescheid 1953 war allerdings, wie schon erwähnt, nicht mehr anfechtbar. Gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist jedoch die Vollstreckung aus solchen nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, unzulässig. War die Entscheidung aber schon vor dem Spruch des BVerfG vollzogen, so hat es dabei sein Bewenden. "Abgewickelte" Rechtsverhältnisse dieser Art sind ein für allemal erledigt (vgl. Geiger, Kommentar zum Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, Anm. 3 zu § 79). Das Gebot der Rechtssicherheit, wozu auch die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen gehört, soll hier den Vorrang vor dem Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall haben (vgl. Beschluß des BVerfG vom 12. Dezember 1967 - 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, BStBl I 1958, 52). Dieser Grundsatz kann aber nur gelten, soweit die Vollstreckung im Zeitpunkt der Nichtigerklärung der Norm unanfechtbar abgeschlossen war. Es würde Sinn und Zweck der Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht gerecht werden, wollte man Vollstreckungshandlungen, die zwar vollzogen, deren Vollziehung aber Gegenstand eines formell zulässigen Rechtsmittelverfahrens war und noch ist, bestehen lassen. Ist der Steuerpflichtige schon vor der Nichtigerklärung der Norm, wenn auch mit anderen Gründen als der Geltendmachung der Nichtigkeit der dem Steuerbescheid zugrunde liegenden Norm, gegen die Vollstreckung mit dem zulässigen Rechtsbehelf fristgerecht angegangen, so wäre es nicht verständlich, ihm den Schutz des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG zu versagen. Insoweit muß das Gebot der Gerechtigkeit überwiegen.

Die Aufrechnung durch das FA (§ 32 Abs. 1 der Beitreibungsordnung) stellt zwar keine Maßnahme der Vollstreckung (Beitreibung im Sinne der Reichsabgabenordnung) dar, sie kommt aber in ihrer Wirkung einer Vollstreckung, nämlich der Befriedigung des Steuergläubigers durch von ihm vorgenommene Maßnahmen gleich. Der Senat trägt keine Bedenken, insoweit die Aufrechnung einer Vollstreckung im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG gleichzuachten. Die Aufrechnung hat zwar das Erlöschen der Steuerschuld zur Folge (§ 398 BGB sinngemäß); die fristgerechte Einlegung des zulässigen Rechtsbehelfs gegen die Aufrechnung bewirkt aber, daß sie noch nicht endgültig erledigt, d. h. im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG noch nicht abgewickelt ist. Daher ist eine Aufrechnung, die im Zeitpunkt der Nichtigerklärung der dem Steuerbescheid zugrunde liegenden Norm fristgerecht angefochten war, nach Sinn und Zweck des § 79 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht mehr zulässig.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412508

BStBl III 1967, 381

BFHE 1967, 311

BFHE 88, 311

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