Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Unfallversicherungsschutz gem § 2 Abs 2 S 1 iVm Abs 1 Nr 1 SGB 7. Wie-Beschäftigung. arbeitnehmerähnliche Tätigkeit mit fremdwirtschaftlichem Wert. eintägiges unentgeltliches "Kennenlern-Praktikum". Unfallversicherungsschutz gem § 3 Abs 1 Nr 2 SGB 7. Satzung. Teilnehmer einer Betriebsbesichtigung und Aufenthalt von Praktikanten. Handlungstendenz. eigenwirtschaftliches Interesse. Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses. Betriebsbesichtigung als Hauptzweck. arbeitsrechtliche Definition eines Praktikanten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei der Prüfung, ob eine die Tätigkeit des Bewerbers während eines eintägigen "Kennenlern-Praktikums" die Merkmale einer Wie-Beschäftigung iSv § 2 Abs 2 S 1 iVm Abs 1 SGB VII erfüllt, insbesondere eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert vorliegt, ist der ganze Kennenlern-Tag im Rahmen einer Gesamtschau zu Grunde zu legen.

2. Eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert iSv § 2 Abs 2 S 1 iVm Abs 1 Nr 1 SGB VII liegt nicht bereits in der Teilnahme an einem Kennenlern-Tag, auch wenn dieser Tag für das Unternehmen im Hinblick auf die verbesserte Personalauswahl einen gewissen wirtschaftlichen Nutzen hat.

3. Auch ein fachlicher Austausch zwischen dem Bewerber und einem Mitarbeiter des Arbeitgebers oder ein konkreter hilfreicher Rat des Bewerbers stellt keine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert dar, wenn der Bewerber im Übrigen keine eigene Tätigkeit im Sinne einer Probearbeit übernommen hat und im Rahmen der Gesamtschau die Bewerbungssituation überwiegt.

4. Zur Frage, wann eine Führung im Rahmen eines Kennenlern-Tags als Besichtigung eines Unternehmens nach § 3 Abs 1 Nr 2 SGB VII kraft Satzung versichert ist.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 31.03.2022; Aktenzeichen B 2 U 13/20 R)

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 15. Februar 2018 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung eines Unfallereignisses vom 18.04.2017 als Arbeitsunfall.

Die 1962 geborene Klägerin erlitt am 18.04.2017 bei einem Sturz in der Firma H. GmbH eine offene condyläre Humerustrümmerfraktur rechts. Zu dem Sturz kam es während der Unternehmensbesichtigung im Rahmen eines unentgeltlichen eintägigen "Kennenlern-Praktikums", das die Klägerin im Hinblick auf eine Bewerbung bei der Firma H. GmbH dort absolviert hatte. Zum Hintergrund ist auszuführen, dass die Klägerin sich am 16.11.2016 bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) arbeitslos gemeldet hatte, da sie zum 28.02.2017 einen Aufhebungsvertrag geschlossen hatte; ab 01.03.2017 bezog sie Arbeitslosengeld nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (SGB III). Für den Zeitraum vom 01.02. bis 01.03.2017 war sie gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III einer Maßnahme zugewiesen. Die BA übersandte der Klägerin Terminvorschläge für den 01.02.2017 und 11.04.2017 sowie einen Vermittlungsvorschlag vom 28.02.2017 für eine andere Stelle. Zudem legte die Klägerin Nachweise über ihre Vermittlungsbemühungen für Februar, März und April 2017 vor (diese Übersicht endet laut der beigezogenen Akte der BA am 07.04.2017).

Nach Eingang des Durchgangsarztberichts teilte die Klägerin der Beklagten auf Nachfrage telefonisch am 26.04.2017 mit, sie habe sich auf eine Stelle bei der Firma H. GmbH selbst beworben. Sie bekomme zwar auch Informationen und Stellenangebote von der Agentur für Arbeit (AA), diese Stelle habe sie sich aber selbst herausgesucht und die AA über die Bewerbung informiert.

Mit dem streitigen Bescheid vom 27.04.2017 lehnte die Beklagte einen Arbeitsunfall vom 18.04.2017 ab; ein Anspruch auf Leistungen bestehe nicht. Ein Beschäftigungsverhältnis mit dem Mitgliedsbetrieb, Firma H. GmbH, habe zum Unfallzeitpunkt nicht bestanden. Bei der bloßen Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses stehe das Eigeninteresse des Stellenbewerbers im Vordergrund und es fehle die Eingliederung in das Unternehmen. Private Bemühungen zur Anbahnung eines Arbeitsverhältnisses ohne die explizite Veranlassung der BA lägen im eigenwirtschaftlichen Bereich und seien nicht über § 2 Abs. 1 Nr. 14 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) versichert, da keine ausdrückliche Aufforderung der Agentur für Arbeit vorgelegen habe.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 24.05.2017 Widerspruch ein. Der Unfall habe sich nicht während eines Vorstellungsgesprächs, sondern während eines Praktikums bei der Firma H. ereignet. Dazu legte sie eine "Kennenlern-" / Praktikums-Vereinbarung vom 18.04.2017 vor. Dort ist vereinbart, dass die Klägerin am 18.04.2017 die Möglichkeit erhält, den zu besetzenden Arbeitsplatz als IT-Administrator/Operator bei H. kennen zu lernen, wobei sie unter Anleitung des Zeugen Herrn E. und von Kollegen einzelne Verrichtungen übernehmen werde. Die Vertragsparteien seien sich darüber im Klaren, dass eine Arbeitspflicht nicht bestehe und dass beide Seiten das unentgeltliche Praktikum zu ...

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