Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf Vorruhestand

 

Orientierungssatz

1. Rechtsanspruch eines Arbeitnehmers, "betriebliche Gründe" können auch wirtschaftliche Gründe sein.

2. Auslegung des Tarifvertrages zur Einführung einer Vorruhestandsregelung zwischen dem Verband mittelständischer Privatbrauereien in Bayern eV und der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten, Landesbezirk Bayern vom 23. November 1984.

 

Normenkette

TVG § 1; VRG § 2 Abs. 1 Nr. 4; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

LAG München (Entscheidung vom 18.03.1987; Aktenzeichen 5 (6) Sa 696/86)

ArbG Regensburg (Entscheidung vom 30.07.1986; Aktenzeichen 1 Ca 970/86)

ArbG Regensburg (Entscheidung vom 30.07.1986; Aktenzeichen 1 Ca 971/86)

 

Gründe

A. Die Parteien haben darum gestritten, ob die Kläger vom beklagten Arbeitgeber verlangen konnten, das Arbeitsverhältnis aufzuheben und ihnen Vorruhestandsgeld zu zahlen. Sie haben in der Revisionsinstanz übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt und beantragt, über die Kosten zu entscheiden (§ 91 a Abs. 1 ZPO).

Der am 15. März 1928 geborene Kläger A war bei der Beklagten, einer Brauerei mit 130 Arbeitnehmern (ohne Lehrlinge und Aushilfen), seit dem 20. Juni 1950 als Brauer beschäftigt. Der Kläger K, geboren am 19. März 1926, war für die Beklagte seit dem 6. März 1957 als Arbeiter tätig. Arbeitgeber und Arbeitnehmer waren tarifgebunden. Auf ihr Arbeitsverhältnis war der Tarifvertrag zur Einführung einer Vorruhestands-Regelung, abgeschlossen zwischen dem Verband mittelständischer Privatbrauereien in Bayern e.V. und der Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten, Landesbezirk Bayern vom 23. November 1984 (VR-TV) anzuwenden.

Der Kläger A beantragte am 8. Januar 1986 die Aufhebung seines Arbeitsverhältnisses und die Gewährung von Vorruhestandsgeld ab 10. Mai 1986. Der Kläger K beantragte am 12. Dezember 1985, das Arbeitsverhältnis zum 10. Mai 1986 wegen des Eintritts in den Vorruhestand aufzuheben und Vorruhestandsgeld zu zahlen. Die Beklagte lehnte beide Anträge ab. Im Rechtsstreit hatten die Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihr Angebot,

das Arbeitsverhältnis zum Zweck des Ein-

tritts in den Vorruhestand aufzuheben, an-

zunehmen.

Die Beklagte hatte beantragt, diese Klagen abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Tarifvertrag gewähre den Arbeitnehmern keinen Rechtsanspruch auf Eintritt in den Vorruhestand. Im übrigen sei sie wegen ihrer ungünstigen wirtschaftlichen Lage berechtigt, den Antrag abzulehnen.

Das Arbeitsgericht hat den Klagen stattgegeben. Die Berufungen der Beklagten sind ohne Erfolg geblieben. Mit der am 15. Juni 1987 eingegangenen Revision wollte die Beklagte erreichen, daß die Klagen abgewiesen werden. Nachdem die Kläger aufgrund einer Vereinbarung mit der Beklagten am 1. August 1987 in den Vorruhestand getreten sind, haben sie die Hauptsache für erledigt erklärt. Die Beklagte hat sich dieser Erledigungserklärung angeschlossen. Beide Parteien haben beantragt, dem Gegner die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

B. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits nach § 91 a Abs. 1 Satz 1 ZPO zu tragen. Diese Kostenentscheidung entspricht dem bisherigen Sach- und Streitstand. Der Senat hätte die Revision der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen.

I. Der Senat kann die beantragte Kostenentscheidung ohne mündliche Verhandlung treffen; die Parteien haben dem schriftlichen Verfahren zugestimmt (§ 128 Abs. 2 Satz 1 ZPO).

II. Die Ansprüche der Kläger auf Aufhebung ihres Arbeitsvertrags zum Zweck des Eintritts in den Vorruhestand waren begründet. Die Vorinstanzen haben diesen Klagen zu Recht stattgegeben. Die Revision der Beklagten hätte keinen Erfolg gehabt.

1. Die Kläger erfüllten die persönlichen Voraussetzungen, die der VR-TV für den Eintritt in den Vorruhestand vorsieht. Darüber besteht zwischen den Parteien kein Streit.

2. Auf den Eintritt in den Vorruhestand hatten die Kläger einen Rechtsanspruch. Liegen die Voraussetzungen für den Eintritt in den Vorruhestand vor, ist der Arbeitgeber verpflichtet, einen Aufhebungsvertrag zum Zweck des Eintritts in den Vorruhestand abzuschließen und das tariflich vorgesehene Vorruhestandsgeld zu zahlen. Der Abschluß eines Aufhebungsvertrags zum Zweck des Eintritts in den Vorruhestand hängt, sofern die persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind, nicht vom Belieben des Arbeitgebers ab. Das hat das Berufungsgericht zutreffend dargelegt. Allein der Umstand, daß das Arbeitsverhältnis durch eine Vereinbarung aufgehoben werden soll, berechtigt nicht zu der Annahme, der Arbeitgeber sei zum Abschluß einer solchen Vereinbarung nicht verpflichtet. Bestünde kein Rechtsanspruch, wären die Bestimmungen des VR-TV, die den Arbeitgeber berechtigen, den Abschluß eines Aufhebungsvertrags unter besonderen Umständen zu verweigern, sinnlos. Das gilt für § 2 Abs. 2 (Überforderungsschutz) ebenso wie für § 2 Abs. 5 VR-TV.

3. Die Ansprüche der Kläger scheiterten nicht an § 2 Abs. 5 VR-TV. Diese Bestimmung lautet:

"Die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses kann

zeitlich ausgesetzt oder aus betrieblichen

Gründen abgelehnt werden."

a) Zwar gehören wirtschaftliche Gründe, auf die sich die Beklagte berufen hat, zu den "betrieblichen Gründen" im Sinne von § 2 Abs. 5 VR-TV. Der Arbeitgeber kann den Abschluß eines Vorruhestandsvertrags nicht nur dann ablehnen, wenn der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG entgegenstehen, wenn also die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers aus technischen oder organisatorischen Gründen dringend erforderlich wäre. "Betriebliche Gründe" sind ein weiter und unbestimmter Rechtsbegriff. Für eine Einschränkung auf betriebstechnische oder organisatorische Gründe gibt es keinen Anhalt. Da der Arbeitgeber sich an den Aufwendungen für den Vorruhestand des Arbeitnehmers finanziell beteiligen muß, liegt es nahe, ihm die Berufung auf wirtschaftliche Schwierigkeiten zu gestatten.

Dem steht nicht entgegen, daß der Arbeitgeber bereits nach § 2 Abs. 2 des VR-TV wirtschaftliche Gründe in Form eines "Überforderungsschutzes" geltend machen kann, wenn mehr als 5 % der Arbeitnehmer den Vorruhestand in Anspruch nehmen wollen. Der VR-TV verweist auf § 2 Abs. 1 Nr. 4 (im VR-TV fälschlich "Abs." 4) des Gesetzes zur Förderung von Vorruhestandsleistungen (Vorruhestandsgesetz-VRG) vom 13. April 1984 (BGBl. I, 601). Der Tarifvertrag mutet den Arbeitgebern der Brauwirtschaft keine höhere Quote zu. Er ist bezogen auf die Branche und auf einen leistungsfähigen Betrieb. Das schließt nicht aus, daß sich ein Arbeitgeber im Einzelfall auf "betriebliche Gründe" im Sinne wirtschaftlicher Gründe berufen kann. Beide Bestimmungen des Tarifvertrags gelten nebeneinander.

Andererseits müssen die wirtschaftlichen Gründe von einigem Gewicht sein. Im Regelfall ist dem Arbeitgeber eine finanzielle Belastung unterhalb der 5%-Quote zuzumuten. Im Ausnahmefall darf er sich jedoch auf eine wirtschaftlich unzumutbare Belastung berufen (BAG Beschluß des Senats vom 8. März 1988 - 3 AZR 302/87 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen). Die mit dem Eintritt in den Vorruhestand verbundene wirtschaftliche Belastung ist jedenfalls dann unzumutbar, wenn das Unternehmen bei betriebswirtschaftlicher Betrachtung angesichts seiner gegenwärtigen und voraussehbaren künftigen wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage ist, das Vorruhestandsgeld zu zahlen, ohne seine Existenz zu gefährden (BAG, aaO).

b) Im vorliegenden Fall ist das Berufungsgericht von einer wesentlich niedrigeren "Opfergrenze" (eine Formulierung des Berufungsgerichts) ausgegangen. Es hält Einwendungen des Arbeitgebers nach § 2 Abs. 5 VR-TV schon dann für begründet, wenn durch diese Maßnahme Arbeitsplätze im Betrieb gefährdet werden. Sodann prüft das Berufungsgericht, ob die von der Beklagten vorgetragenen Tatsachen diese Voraussetzung erfüllen. Diese Prüfung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Den Aufwendungen für das Vorruhestandsgeld der beiden Arbeitnehmer stehen beträchtliche Umsatzerlöse, erhebliche Investitionen und jedenfalls ab 1985 ein Gewinn gegenüber. Das Berufungsgericht hat aus den von der Beklagten selbst vorgetragenen Daten deshalb mit Recht den Schluß gezogen, es sei bei Zahlung des Vorruhestands weder der Betrieb in seiner Existenz gefährdet, noch sei es notwendig, Personal zu entlassen. Diese Erwägungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte zudem mit ihrer Revision nicht mehr angegriffen.

Danach hätte die Revision der Beklagten keinen Erfolg gehabt.

Dr. Heither Schaub Griebeling

Dr. Schwarze Grimm

 

Fundstellen

Dokument-Index HI438589

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