Leitsatz

Ein Rechtsanwalt handelt schuldhaft, wenn sich eine Zuständigkeitskonzentration ohne Weiteres durch eine Internetrecherche ermitteln lässt. Die Pflicht, vorab auf die eigene Unzuständigkeit hinzuweisen, trifft ein Gericht nur dann, wenn die Unzuständigkeit "ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen ist. Solange die Akte im ordnungsgemäßen Geschäftsgang dem Richter nicht vorgelegen hat, kommt es für die "leichte Erkennbarkeit" auf das Wissen des zuständigen Geschäftsstellenbeamten an. Allein die Bezeichnung einer Partei als Wohnungseigentümergemeinschaft im Berufungsschriftsatz genügt für die Erkennbarkeit nicht. Die Geschäftsstelle ist allein gehalten, die Akte im ordnungsgemäßen Geschäftsgang dem Richter vorzulegen. Geht der Berufungsschriftsatz erst an einem Freitag nach allgemeinem Dienstschluss bei Gericht ein, stellt eine Vorlage in der folgenden Woche im normalen Geschäftsgang keinen Verstoß gegen die Fürsorgepflicht dar.

 

Normenkette

§§ 85, 233 ZPO; § 72 GVG; § 43 WEG

 

Das Problem

Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer W wendet sich im Wege der Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichts Magdeburg, mit welchem ihre (vornehmlich auf Zahlung ausstehenden Hausgelds) gerichtete Klage weitgehend abgewiesen worden ist. Das Urteil ist dem Anwalt A der Gemeinschaft am 4.12.2013 zugestellt worden. Die Berufung geht beim Landgericht Magdeburg per Fax am 3.1.2014 ein. Das Original der Berufungsschrift geht am 7.1.2014, dem letzten Tag der Berufungsfrist, zusammen mit der Ausfertigung des Urteils ein. Aus einem Vermerk der zuständigen Geschäftsstellenbeamtin ergibt sich, dass die Berufung am 8.1.2014 auf die Geschäftsstelle gelangt ist. Sie habe übersehen, dass es sich um eine Wohnungseigentumssache gehandelt habe. Deshalb habe sie die Akten auch nicht sofort der Vorsitzenden übergeben. Die Vorsitzende teilt A unter dem 20.1.2014 mit, das Landgericht Magdeburg sei unzuständig. Als gemeinsames Berufungs- und Beschwerdegericht für WEG-Sachen zuständig sei gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG das Landgericht Dessau-Roßlau. Auf diesen Hinweis, der A am 30.1.2014 zugeht, legt A mit einem am 4.2.2014 eingegangenen Schriftsatz Berufung beim Landgericht Dessau-Roßlau ein und beantragt zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist.

 

Entscheidung

  1. Die Berufung sei als unzulässig zu verwerfen. Sie sei nicht rechtzeitig innerhalb von einem Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils beim Landgericht Dessau-Roßlau als zuständigem Berufungsgericht eingegangen.
  2. Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand habe nicht entsprochen werden können. Die Gemeinschaft sei nicht ohne eigenes Verschulden gehindert gewesen, die Berufungsfrist einzuhalten; A's Verschulden stehe nach § 85 Abs. 2 ZPO ihrem eigenen Verschulden gleich. Durch eine einfache Internetrecherche mithilfe einer gängigen Suchmaschine wie "google"oder "yahoo" hätte A (z.B. durch Eingabe von "Gemeinsames Berufungs- und Beschwerdegericht, WEG, Sachsen-Anhalt") problemlos herausfinden können, welche Zuständigkeitskonzentration für WEG-Verfahren in Sachsen-Anhalt besteht.
  3. Es habe auch keine Verpflichtung des Landgerichts Magdeburg vorgelegen, auf seine (ausnahmsweise) fehlende Zuständigkeit für Berufungsverfahren in Wohnungseigentumssachen besonders hinzuweisen. Denn für derartige Verfahren wäre das Landgericht Magdeburg gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG auch bei fehlender anderweitiger Zuständigkeitskonzentration nicht zuständig.
  4. Wiedereinsetzung könne auch nicht deshalb gewährt werden, weil die Fristversäumung in maßgeblicher Weise (auch) auf einen Verstoß des Landgerichts Magdeburg gegen seine prozessuale Fürsorgepflicht zurückzuführen sei. Denn die Pflicht, vorab auf die eigene Unzuständigkeit hinzuweisen, treffe ein Gericht nur dann, wenn die Unzuständigkeit "ohne Weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen sei. Solange die Akte im ordnungsgemäßen Geschäftsgang dem Richter nicht vorgelegen habe, komme es nach BGH v. 12.10.2011, IV ZB 17/10, für die "leichte Erkennbarkeit" auf das Wissen des zuständigen Geschäftsstellenbeamten an. Aus der Berufungsschrift sei aber nicht ohne Weiteres zu entnehmen gewesen, dass es sich um eine Berufung in einer Wohnungseigentumssache handelte; insbesondere war der Rechtsstreit nicht als Wohnungseigentumssache bezeichnet. Zwar sei im Rubrum die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer, vertreten durch den Verwalter, als Klägerin und Berufungsklägerin aufgeführt; hieraus habe sich aber noch nicht erschlossen, dass es sich bei dem Rechtsstreit um eine Wohnungseigentumssache handelte.
 

Kommentar

Anmerkung:

  1. Die Entscheidung entspricht im Ausgangspunkt exakt der Leitlinie des Bundesgerichtshofs. Auch dieser ist der Ansicht, dass ein Anwalt wissen muss, bei welchem Landgericht eine WEG-Berufung zu führen ist.
  2. Besonders interessant – und lesenswert – sind daher vor allem die Gedanken des Gerichts zur Frage, was die Geschäftsstelle eines Landgerichts leisten muss. Hier überzeugt, dass der ...

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