Rz. 77

BGH, Urt. v. 10.10.2006 – VI ZR 44/05, VersR 2006, 1679

Zitat

VVG §§ 155, 156 Abs. 3

Eine Versicherungssumme ist regelmäßig dann nicht ausreichend, um alle Direktansprüche zu befriedigen, wenn nach Abzug der Kapitalzahlungen auf Ansprüche, die keine Rentenansprüche sind, die verbleibende Versicherungssumme geringer ist als die Summe der Kapitalisierungswerte aller Rentenleistungen (Fortführung des Urteils des erkennenden Senats BGHZ 84, 151 ff.).

I. Der Fall

 

Rz. 78

Die Beklagte zu 2 war Kfz-Haftpflichtversicherer des Beklagten zu 1. Dieser war an einem Verkehrsunfall vom 8.10.1995 beteiligt, bei dem der Kläger verletzt worden ist. Mit rechtskräftigem Urteil des Berufungsgerichts vom 10.2.1999 ist die Beklagte zu 2 zum Ersatz von ¾ des materiellen Schadens des Klägers und unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von ¼ zum Ersatz des immateriellen Schadens des Klägers verpflichtet worden. Die Haftung der Beklagten zu 2 war auf die Mindestversicherungssumme von damals 1,5 Millionen DM beschränkt.

 

Rz. 79

Der Kläger machte nun vermehrte Bedürfnisse/Pflegekosten, Fahrtkosten und Verdienstausfall für die Zeit vom 1.3.1997 bis 28.2.2002 geltend. Das LG hat der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zu 2 zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat des BGH zugelassenen Revision begehrte die Beklagte zu 2 weiterhin die Klageabweisung.

II. Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 80

Das Berufungsgericht hatte den geltend gemachten Anspruch des Klägers aus §§ 7, 18 StVG, § 823 Abs. 1 BGB, § 3 PflVG in voller Höhe bejaht. Der Einwand der Beklagten zu 2, es habe ein Verteilungsverfahren gemäß § 156 Abs. 3 VVG stattfinden müssen und stattgefunden, weil dem Kläger kein Befriedigungsvorrecht gemäß § 116 Abs. 4 SGB X zustehe, sei unberechtigt. Selbst unter Zugrundelegung der Berechnung der Beklagten zu 2 stehe dem Kläger noch mehr als die im vorliegenden Verfahren geltend gemachte Summe zu. Für das Verlangen der Beklagten zu 2, den Kläger auf eine monatliche geringe Rentenzahlung statt einer Kapitalzahlung zu verweisen, gebe es keine Rechtsgrundlage.

 

Rz. 81

Das angefochtene Urteil hielt einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Rechtsfehlerhaft hatte das Berufungsgericht vor der Entscheidung über die Höhe der Ansprüche des Klägers für die Zeit vom 1.3.1997 bis zum 28.2.2002 nicht geklärt, sondern offen gelassen, ob ein den Voraussetzungen von § 156 Abs. 3 VVG genügendes Verteilungsverfahren durchgeführt worden ist.

 

Rz. 82

Der geltend gemachte Direktanspruch des Klägers aus § 3 Nr. 1 PflVG gegen die Beklagte zu 2 als Kfz-Haftpflichtversicherer setzt eine Leistungspflicht des Versicherers aus dem Versicherungsverhältnis voraus. Der Umfang des Versicherungsschutzes ergibt sich aus den zwischen den Parteien des Versicherungsvertrags getroffenen Vereinbarungen (vgl. BGH, Urt. v. 28.6.2006 – IV ZR 316/04). Danach ist der Direktanspruch des Geschädigten hinsichtlich seiner Geltendmachung insbesondere durch das versicherte Risiko und die vereinbarte Versicherungssumme nach näherer Maßgabe des jeweiligen Versicherungsvertrages begrenzt. Der Versicherer soll durch die unmittelbare Inanspruchnahme aus dem Direktanspruch des außerhalb des Versicherungsvertrags stehenden Dritten nicht über das hinaus belastet werden, was er aus dem Versicherungsvertrag zu regulieren verpflichtet ist.

 

Rz. 83

Soweit es um die Erschöpfung der Versicherungssumme geht, ist deshalb in Teilen auch der Direktanspruch – unbeschadet einer Eigenständigkeit als gesetzlicher Haftpflichtanspruch gegenüber den vertraglichen Ansprüchen aus dem Versicherungsverhältnis – durch die Regeln festgelegt, die für die Begrenzung des Deckungsanspruchs aus dem Versicherungsverhältnis gelten. Obwohl das Pflichtversicherungsgesetz sie nicht ausdrücklich in Bezug genommen hat, sind daher nach der in Rechtsprechung und Schrifttum ganz überwiegenden Meinung unter anderen die Bestimmungen der §§ 155, 156 VVG auch für den Direktanspruch maßgebend. Ein Haftpflichtversicherer, der aus demselben Schadensereignis mehreren "Dritten" verantwortlich ist, darf deshalb nicht den Gläubiger, der als erster seinen Anspruch geltend macht, zu Lasten der später kommenden "Dritten" voll befriedigen, wenn die Versicherungssumme nicht zur Befriedigung aller Direktansprüche ausreicht (kein Prioritätsprinzip; § 156 Abs. 1 VVG). Vielmehr ist die Versicherungssumme auf die Forderungen aller beteiligten "Dritten" verhältnismäßig zu verteilen (§ 156 Abs. 3 S. 1 VVG). "Dritte" im Sinne dieser Vorschrift sind nicht nur der Geschädigte selbst, sondern auch die Sozialversicherungsträger, auf die Ansprüche des Geschädigten ganz oder teilweise übergegangen sind (vgl. Prölss/Martin/Voit/Knappmann, VVG, 27. Aufl., § 156 Rn 17). Ob die Forderungen dieser "Dritten" bereits tituliert sind, ist unerheblich; auch erst in Zukunft fällig werdende Ansprüche sind von Anfang an in die Verteilung einzubeziehen (vgl. Prölss/Martin/Voit/Knappmann, a.a.O. Rn 24). Jedoch können solche Gläubiger keine anteilige Befriedigung beanspruchen, m...

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