A. Vorbemerkung

 

Rz. 1

Die Tätigkeit des Anwalts[1] im Bereich des Sozialrechts ist typische Dienstleistung. Beratung und Vertretung des Mandanten heißt häufig auch Mitgestaltung an seiner Zukunft: Welche soziale Absicherung ist zweckmäßig? Empfiehlt es sich, eine Teilzeitarbeit aufzunehmen, in Altersteilzeit überzuwechseln, Teilrente in Anspruch zu nehmen, kommt eine Erwerbstätigkeit neben dem Bezug einer (vorgezogenen) Altersrente in Betracht? Sollen Dispositionsmöglichkeiten genutzt werden, wie etwa die Nachzahlung von Beiträgen an die gesetzliche Rentenversicherung, die Wahrnehmung von Befreiungsrechten, der Wechsel von GKV in die PKV oder umgekehrt?

Der Anwalt muss bereit sein, ärztliche Stellungnahmen kritisch zu überprüfen und sich mit dem medizinischen Schrifttum auseinander zu setzen. Das vom SGB X und dem SGG zur Verfügung gestellte Verfahrensrecht einschließlich des Prinzips der Chancengleichheit hilft dem Bürger nur dann, wenn er sich zur Sache äußert und seine individuelle Betroffenheit genau darstellt, dh Funktionseinschränkungen detailliert beschreibt, soweit es um die Anerkennung eines Pflegegrades nach SGB XI geht oder die Entschädigung eines Arbeitsunfalles oder einer Berufskrankheit nach dem SGB VII (gesetzliche Unfallversicherung) oder um den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach dem SGB VI. Im Streit um eine Sperrzeit oder um eine Rente gilt es, die tatsächliche Arbeitswelt darzustellen. Wer Grundsicherung nach SGB II oder XII beansprucht, muss Details aus seiner Privatsphäre offenbaren. Anwaltliche Dienstleistung geht also über die Interpretation von Gesetzesvorschriften und deren Anwendung auf unstreitige Sachverhalte weit hinaus. Neben der Sachverhaltsaufklärung enthält sie ein "personales Element" im Umgang mit dem Mandanten.

[1] Um den Lesefluss nicht zu sehr zu hemmen, werden männliche und weibliche Personenbezeichnungen zusammengefasst.

B. Schwerbehindertenrecht

I. Typische Sachverhalte

 

Rz. 2

a) Y hat beim Versorgungsamt einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter gestellt. Er leidet an verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die zwar als Behinderungen festgestellt, aber nur mit einem Gesamt-GdB von 30 bewertet wurden. Außerdem begehrt er das Merkzeichen "G" für erhebliche Gehbehinderung, damit er in den Genuss der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Nahverkehr nach § 228 SGB IX[2] kommen kann. Y bittet um Begründung des Widerspruchs.

b) Bei Z war nach einer Brustkrebsoperation ein GdB von 50 anerkannt worden. Nach fünf Jahren hört das Versorgungsamt sie zur Absicht an, den GdB wegen "Heilungsbewährung" nach § 48 SGB X auf 30 herabzusetzen. Sie bittet um Beratung.

[2] Ausführlich zum SGB IX: U. Wendler, Versorgungsmedizinische Grundsätze. Kommentar, 6. Aufl. 2014. Durch das Bundesteilhabegesetz wurde das SGB IX geändert; die Regelungen zum Schwerbehindertenrecht finden sich ab dem 1.1.2018 in §§ 151 ff. SGB IX. Zu den Änderungen durch das BTHG siehe etwa Siefert, jurisPR-SozR 6–8/2017.

II. Rechtliche Grundlagen

 

Rz. 3

Das SGB IX zielt darauf, die selbstbestimmte Teilhabe des behinderten Menschen am gesellschaftlichen Leben zu fördern und Benachteiligungen zu verhindern. Hierzu gehört z.B. das Zustimmungserfordernis des Integrationsamts bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten durch den Arbeitgeber (§§ 85 ff. SGB IX, §§ 168 SGB IX n.F.),[3] Zusatzurlaub (§ 208 SGB IX), vorgezogene Altersrente (§§ 37, 236a SGB VI), Vergünstigungen bei Benutzung des öffentlichen Personenverkehrs (§ 228 SGB IX) oder im Steuerrecht (§§ 33, 33b EStG), Parkerleichterungen bei außergewöhnlicher Gehbehinderung nach der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO, Rundfunkgebührenbefreiung.

Nach § 2 Abs. 2 SGB IX liegt die Schwerbehinderteneigenschaft bei einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 vor. Bei einem GdB von 30 bis weniger als 50 kann nach § 2 Abs. 3 SGB IX die "Gleichstellung" bei der Agentur für Arbeit beantragt werden. Das setzt die konkret nachweisbare Gefährdung des Arbeitsplatzes wegen der Behinderung voraus.[4] Der Begriff GdB bezieht sich auf die infolge einer Behinderung bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen in allen Lebensbereichen, unabhängig vom ausgeübten Beruf. Maßgeblich ist nicht allein eine Diagnose, sondern die hieraus erwachsenden Beeinträchtigungen, z.B. Bewegungseinschränkungen, Atemnot, Sehstörungen, Reduzierung des Kräfte- und Ernährungszustandes, Störungen der Konzentration, der Merkfähigkeit, der sozialen Anpassung. Durch das Bundesteilhabegesetz sind nunmehr auch die Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren zu berücksichtigen. Die Feststellung der Beweglichkeit richtet sich nach der Neutral-0-Methode. Die Behinderung muss auf Dauer, also länger als sechs Monate bestehen und über das altersentsprechende Maß hinausgehen.

 

Rz. 4

Liegen mehrere Behinderungen vor, ist nach § 152 Abs. 3 SGB IX ein Gesamt-GdB festzustellen.[5] Dabei sind die einzelnen GdB-Werte i.d.R. nicht zu addieren, sondern integrierend zu bewerten. Maßgeblich sind die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen in ihrer Gesamtheit. Faustr...

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