1. Typischer Sachverhalt

 

Rz. 7

A, 58 Jahre alt, Radio- und Fernsehtechniker-Meister, hat seinen Betrieb aus gesundheitlichen Gründen im November 2019 aufgegeben und am 3.4.2020 Rente wegen Erwerbsminderung[9] beantragt. Die Deutsche Rentenversicherung hat Befundberichte der behandelnden Ärzte und ein orthopädisches Gutachten eingeholt. Eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit durch ein Wirbelsäulenleiden wurde danach zwar bejaht; A könne trotzdem noch mittelschwere Arbeiten, wenn auch mit Einschränkungen, mindestens sechs Stunden täglich verrichten und damit seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit ausüben, jedenfalls sei er auch mit den Behinderungen auf die Tätigkeit als "Fachberater im Elektrohandel" zu verweisen. Im Übrigen seien die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 SGB VI nicht erfüllt, da er in den letzten fünf Jahren vor dem Rentenantrag nicht mindestens 36 Monate mit Pflichtbeiträgen nachweisen könne.

Den Widerspruch wies die Deutsche Rentenversicherung zurück. Sie blieb bei ihrer Einschätzung des Leistungsvermögens, benannte aber vorsorglich zwei andere Tätigkeiten, die dem Kläger zumutbar seien.

[9] Überblick bei von der Decken/Hecht, Die Erwerbsminderungsrente, Ein Leitfaden, 2019.

2. Rechtliche Grundlagen

 

Rz. 8

Um die Klagefrist von einem Monat (§ 87 SGG) zu wahren, genügt ein Schreiben an das Sozialgericht (ggf. auch an den Sozialleistungsträger, § 91 SGG), mit dem Hinweis auf den Bescheid bzw. Widerspruchsbescheid, der angefochten wird. Nach Akteneinsicht und Rücksprache mit dem Mandanten ist die Klage zu begründen und der Klageantrag zu formulieren.[10] Dazu kann das Gericht gem. § 92 SGG eine Ausschlussfrist setzen. Bei Versäumnis der Klagefrist ist Wiedereinsetzung gem. § 67 SGG möglich;[11] ggf. sollte Neufeststellung gem. § 44 SGB X beantragt werden. Örtlich zuständig ist das Sozialgericht am Wohnort des Klägers, § 57 SGG.

Für einen Rentenanspruch wegen Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 und 2 SGB VI) müssen neben der Wartezeit (§§ 50 Abs. 1, 53 SGB VI) zunächst die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Abs. 1 SGB VI (36 Pflichtbeiträge in den letzten fünf Jahren) oder nach der Übergangsvorschrift des § 241 SGB VI erfüllt sein.[12] Zeiten des Krankengeldbezuges sind nur dann Pflichtbeitragszeiten i.S.d. § 43 SGB VI, wenn der Betroffene zuvor rentenversicherungspflichtig tätig war (§ 3 Nr. 3 SGB VI). Die Zahlung freiwilliger Beiträge reicht nach § 241 SGB VI nur dann aus, wenn sie bis zum Versicherungsfall (dh Eintritt von Erwerbsminderung) erfolgte und am 1.1.1984 die Wartezeit von 60 Monaten erfüllt war.[13] Ein Aufschub kommt allenfalls gem. §§ 197, 198 SGB VI in Betracht.

 

Rz. 9

§ 43 SGB VI unterscheidet zwischen "voller Erwerbsminderung", bei der das Leistungsvermögen auf weniger als drei Stunden herabgesunken ist, und der "teilweisen" Erwerbsminderung. Letztere betrifft Versicherte, die wegen Krankheit und Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, aber mehr als drei Stunden täglich leistungsfähig sind.

Der ärztliche Gutachter prüft anhand der medizinischen Befunde und seiner Untersuchung, ob der Rentenantragsteller noch mindestens drei bzw. weniger als sechs Stunden regelmäßig arbeiten kann. Auf die sechsstündige Tätigkeit ist auch dann abzustellen, wenn in der Branche, in der der Versicherte zuvor tätig war, tarifvertraglich eine 35-Stunden-Woche gilt. Das sechsstündige Pensum stellt an den Versicherten deutlich höhere Anforderungen als eine "halbschichtige" Tätigkeit. Auch regelmäßig anfallende Therapien (z.B. Bewegungstraining, Ruhezeiten, Zwischenmahlzeiten evtl. nach Magenoperation) oder ein besonderer Pflegebedarf sowie häufig auftretende Kurzerkrankungen (bis hin zu einem Anfallsleiden) können zur Folge haben, dass der Versicherte eben nicht mehr "mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig" sein kann. Das Gesetz differenziert nicht danach, welche Berufsausbildung vorliegt und welchen Beruf der Versicherte bisher ausgeübt hat. Wer aber z.B. langjährig als Bauarbeiter tätig war, verfügt oftmals in vorgerücktem Alter nicht mehr über die erforderliche "Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit" für eine völlig neue berufliche Aufgabe.[14]

 

Rz. 10

Kann der Versicherte unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes weniger als sechs Stunden, mindestens aber drei Stunden täglich erwerbstätig sein, hat er Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Der Rentenantragsteller kann sein verbliebenes Restleistungsvermögen in eine Erwerbstätigkeit umsetzen. Das daraus erzielte Einkommen wird nach § 96a SGB VI angerechnet. Die Teilzeitarbeit verdrängt also den Anspruch auf Teil-Rente nicht. Anhaltspunkte für eine Teil-Rente können sich aus den Feststellungen der Agentur für Arbeit über Leistungseinschränkungen ergeben (etwa gem. § 145 SGB III betreffend die Nahtlosigkeit). An die Beurteilung der Agentur für Arbeit ist die Rentenversicherung nicht...

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