Rz. 15
Der Erfolg anwaltlicher Tätigkeit in Kündigungsschutzrechtstreitigkeiten hängt wesentlich davon ab, dass der zugrunde liegende Sachverhalt voll erfasst, bearbeitet und verwertet wird. Kein Kündigungsschutzrechtsfall ist wie der andere, auch wenn sich Stereotypen bilden lassen. Um bei der Mandatsannahme bereits den Sachverhalt voll zu erfassen, bietet es sich an, bei kündigungsschutzrechtlichen Mandaten den zugrunde liegenden Sachverhalt durch standardisierte Fragebögen zu erfassen. Vertritt man Arbeitnehmer, so wird man auf Grundlage dieses Fragebogens den wesentlichen Sach- und Streitstand qualifizieren können. Sinnvoll ist es, einen solchen Fragebogen dem Mandanten bereits vor der Erstbesprechung zu übersenden, um dann im Rahmen der Erstbesprechung gemeinschaftlich nochmals die einzelnen Punkte abzuarbeiten.
Rz. 16
Aus haftungsrechtlichen Gründen ist es zu empfehlen, den somit dokumentierten Sachverhalt dem Mandanten zukommen zu lassen und diesem zu erklären, dass man den Fall auf Grundlage dieser Fakten bearbeiten wird. Im Fragebogen können weiter die notwendigen Hinweise auf die Kostentragungsregelung des § 12a ArbGG, auf die grundsätzliche Möglichkeit, Beratungshilfe und/oder Prozesskostenhilfe zu erhalten, den Hinweis auf die Verpflichtung, sich unverzüglich arbeitssuchend zu melden sowie auf die Tatsache, dass jedweder neue Beendigungstatbestand wiederum innerhalb der Drei-Wochen-Frist angegriffen werden sollte, erfolgen.
Rz. 17
Ein standardisierter Fragebogen für Arbeitnehmermandate im Kündigungsschutzrechtstreit befindet sich am Ende dieses Kapitels (siehe Rdn 99).
Rz. 18
Auch bei Arbeitgebermandaten mag man mit Fragebögen arbeiten, hier fällt es allerdings schwer, Sachverhalte ausschließlich mittels standardisierter Fragen zu erfassen, insbesondere wenn es um die Beratung im Vorfeld von Kündigungen geht. Am Ende dieses Kapitels findet sich das Gerüst eines Fragebogens zur Erfassung der Stammdaten eines Arbeitgebermandates (siehe Rdn 100).
Rz. 19
Bei der Erfassung des Sachverhaltes stellt es einen Kunstfehler dar, lediglich den kündigungsschutzrechtlich relevanten Sachverhalt zu erfassen. So ist es hilfreich, egal ob man nun den Arbeitgeber oder den Arbeitnehmer vertritt, wenn man sämtliche möglichen Nebenkriegsschauplätze von Anfang an kennt und gegebenenfalls nutzen kann. Aus Arbeitnehmersicht geht es im Kündigungsschutzrechtsstreit häufig auch darum, den "Lästigkeitswert" zu erhöhen. Der betriebsratslose Arbeitgeber freut sich immer über den Arbeitnehmer, der während des Laufs der Kündigungsfrist noch die Betriebsratsgründung auf den Weg bringt. Der nicht tarifgebundene Arbeitgeber schätzt den Hinweis auf den allgemein verbindlichen Tarifvertrag, der eigentlich Anwendung finden müsste oder gar den Angriff der branchenzuständigen Gewerkschaft (zur Aufstellung siehe unten Rdn 24). In den letzten Jahren kamen zusätzliche Nebenkriegsschauplätze dazu, wie etwa der Auskunftsanspruch nach Art. 15 DSGVO, die Frage nach Arbeitszeitaufzeichnungen des Arbeitgebers im Lichte der BAG Entscheidung vom 13.9.2022 usw.
Rz. 20
Im Rahmen der Sachverhaltsfeststellung ist bei Arbeitgebermandaten zu prüfen, welche Versetzungsmöglichkeiten, welche Möglichkeiten die Arbeitszeit zum Nachteil des Arbeitnehmers zu verändern, welche Möglichkeiten Abmahnungen auszusprechen, welche Möglichkeiten den Arbeitnehmer freizustellen usw. bestehen.
Rz. 21
Selbstredend sollte bei der Vertretung von Arbeitnehmern der Versuch unternommen werden, weitere Informationsquellen jenseits des Arbeitnehmers zu nutzen. In erster Linie ist hierbei an den Internet- und Social Media-Auftritt des Arbeitgebers zu denken, häufig findet man hier Stellenangebote, obwohl dem eigenen Mandanten gerade betriebsbedingt gekündigt worden ist. Regelmäßig lohnt auch der Kontakt zum Betriebsrat, so ein solcher gebildet worden ist. Dies stellt nicht nur eine erstklassige Informationsquelle dar (Überstunden, Arbeitszeitverstöße, Neueinstellungen etc.), der Kontakt zum Betriebsrat dient auch der Akquisition. Viele Arbeitnehmer fragen den Betriebsrat, wenn sie arbeitsrechtlichen Beistand benötigen und verlassen sich auf dessen Empfehlung. Schließlich gelingt es, von Zeit zu Zeit das ein oder andere kollektivrechtliche Mandat auf diesem Wege zu gewinnen, insbesondere wenn man anhand des erfassten Sachverhalts zu dem Schluss gelangt, dass eine Betriebsänderung i.S.d. § 111 BetrVG vorliegt und der Betriebsrat dies bisher nicht erkannt hat.
Rz. 22
Dem Mandanten sollte aufgegeben werden, den Stellenmarkt im Internet, auf LinkedIn etc. und in der Presse zu verfolgen, auch hier mag sich die eine oder andere Stellenanzeige des Arbeitgebers finden, der betriebsbedingt gekündigt hat.
Rz. 23
Weniger erfahrene Arbeitsrechtsanwälte tun sich häufig schwer herauszufinden, ob ein Tarifvertrag auf ein konkretes Arbeitsverhältnis Anwendung findet. Das jeweils aktuelle Verzeichnis allgemein verbindlicher Tarifverträge lässt sich unter www.bmas.de aufrufen. Zahlreiche Tarifverträge finde...