Rz. 6
Der Beschwerdeführer muss den nationalen Bestimmungen und Verfahrensvorschriften entsprechend alle maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft haben (Art. 35 Abs. 1, Abs. 4 EMRK; sog. vertikale Rechtswegerschöpfung).[62] Dies entspricht dem völkerrechtlichen Prinzip der Subsidiarität:[63] Einerseits soll der betroffene Staat eine Verletzung der EMRK selbst beheben können,[64] andererseits der EGMR entlastet werden.[65]
Ob diese Voraussetzung eingehalten wurde, prüft das Gericht konkret auf den Beschwerdeführer bezogen.
1. Effektive Ausschöpfung
Rz. 7
Der Beschwerdeführer ist nicht gehalten, völlig aussichtslose Rechtsbehelfe einzulegen.[66] Vielmehr müssen nur effektive Rechtsmittel- und behelfe eingelegt werden, also solche, die grundsätzlich oder im konkreten Einzelfall geeignet sind, einen Hoheitsakt aufzuheben oder dessen Rechtswidrigkeit festzustellen.[67] Das heißt wiederum, dass nationale Gerichte oder Behörden in der Lage sein müssen, Endentscheidungen oder -verfügungen zu erlassen, um so einem Konventionsverstoß Abhilfe schaffen zu können. Dabei legt der EGMR ein weites Verständnis von Rechtsbehelfen zugrunde.[68]
Bloße Zweifel an den Erfolgsaussichten eines innerstaatlichen Rechtsbehelfs entbinden aber nicht von der Einlegungspflicht.[69] Auch persönliche Gründe, wie z.B. Rechtsirrtum oder Falschberatung,[70] lassen das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung nicht entfallen.[71] Finanzielle Hindernisse, die den Beschwerdeführer davon abgehalten haben, den nationalen Rechtsweg auszuschöpfen, sind ggf. anhand der durch Art. 6 EMRK garantierten freien Zugänglichkeit zur Justiz zu überprüfen.
2. In Deutschland: Verfassungsbeschwerde
Rz. 8
Auf Deutschland bezogen bedeutet Rechtswegerschöpfung, dass der Beschwerdeführer regelmäßig Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG erhoben haben muss, sofern er durch diese die Verletzung von mit den Konventionsrechten gleichwertigen Verfassungsrechten geltend machen kann.[72] Die Anrufung eines Landesverfassungsgerichts genügt dabei nicht. Konventionsorgane haben Beschwerden als unzulässig abgewiesen, in denen das BVerfG Verfassungsbeschwerden mit Verweis auf seine ständige Rechtsprechung zurückgewiesen hatte, da der nationale Rechtsbehelf dann ex ante erkennbar ineffektiv gewesen sei.[73] Gelangt ein Rechtsanwalt zu dem Ergebnis, dass eine Verfassungsbeschwerde nach der Praxis des BVerfG wohl völlig aussichtslos wäre, wird dem Mandanten zu raten sein, parallel Individualbeschwerde vor dem EGMR einzulegen.[74] Die ehemalige Menschenrechtskommission hatte im Falle einer eindeutig zulasten des Beschwerdeführers etablierten Spruchpraxis des BVerfG auch schon vor der abschließenden Entscheidung des BVerfG Anträge für zulässig befunden.[75] Es ist davon auszugehen, dass der EGMR dementsprechend verfährt. Zeigt das BVerfG dem EGMR allerdings an, dass es dessen Entscheidung in einer Rechtssache, die einen gleichgelagerten Fall wie den, der vor dem BVerfG anhängig ist, betrifft, abwarten möchte, ist der Beschwerdeführer verpflichtet, seinerseits den Ausgang des beim BVerfG anhängigen Verfahrens abzuwarten. Andernfalls ist der innerstaatliche Rechtsweg nicht erschöpft.[76]
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